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2 Kindheit, Jugendjahre, Adoleszenz

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Ich bin als jüngstes von drei Geschwistern in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein in der fortgesetzten Wirtschaftswunderzeit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre aufgewachsen. Mein Vater war Architekt und arbeitete als Beamter in der Bauverwaltung des Landes. Meine Mutter war Hausfrau, hatte eine Ausbildung als Schuhfachverkäuferin und half zeitweise in einem Schuhgeschäft aus. Später hat sie Geld dazu verdient als Dozentin für Handarbeiten in der Erwachsenenbildung. Ich wurde in den siebziger Jahren noch traditionell erzogen, das heißt, wenn ich mal ungezogen oder übermütig war, bekam ich eins auf die Finger oder den Hintern.

Ich war aber eher ein schüchternes, zurückhaltendes Kind, das gerne für sich und in seiner Fantasiewelt spielte und nur richtig aus sich rauskam, wenn es entsprechend animiert wurde. Kinderturnen war so eine Aktivität, bei der ich richtig wild war, so dass die Leiterin Mühe hatte, mich einzufangen. Meine eindeutige Bezugsperson war meine Mutter – ich war ein richtiges „Mama-Kind“, während ich meinen Vater in meiner Kindheit und Jugend kaum wahrnahm. Entweder war er zur Arbeit oder er hat in seiner Freizeit professionell Ahnenforschung betrieben, besuchte Archive und saß Stunde um Stunde auch zu Hause für mich unsichtbar am Schreibtisch. Was „Familie und Kinder“ anbelangte, war mein Vater, so die häufige Kritik meiner Mutter, recht unsensibel. Das habe ich als Vier- oder Fünfjähriger auch mal zu spüren bekommen: Mein Vater ist mit mir in unserem hellblauen VW-Käfer in die Stadt gefahren, hat geparkt und mich im Auto auf der Rückbank zurückgelassen. Er ist, ohne etwas zu sagen, abgezogen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich hatte Angst, dass er nicht wiederkommt. Ich habe wie am Spieß geschrien, so dass sich schon Passanten zu mir umgeschaut haben. Das ist ein frühes traumatisches Erlebnis, das mich geprägt hat: Angst, verlassen zu werden. Mein Vater hat im Krieg beide Eltern verloren, unter polnischer Besatzung wurde er angehalten, Zwangsarbeit zu verrichten und stand auch kurz einmal davor erschossen zu werden. Allein hat er sich auf die Flucht nach Westen begeben. Vielleicht erklären diese Erlebnisse, warum das Verhältnis zu mir emotional distanziert blieb. In meinem späteren Leben hat er mir immer gezeigt, dass er stolz auf das ist, was ich erreicht habe.

Etwas später ereignete es sich, dass meine Mutter Stress mit meinem Vater hatte und quasi schon auf gepackten Koffern saß. Als meine Mutter ging, bin ich ihr gefolgt und wollte, dass sie zurückkommt, was sie schließlich auch tat. Ich hatte erneut große Angst, dass ich allein zurückgelassen werde.

Statische Strukturen habe ich gehasst: ich wollte auch nicht in den Kindergarten, weil die Frauen in den weißen Kitteln nur aufgepasst und sich nicht mit den Kindern beschäftigt haben. So war das noch in den siebziger Jahren. Weil ich gerne Sesamstraße schaute, hat mein Vater dem Kindergarten sogar einen Fernseher zur Verfügung gestellt. Das hat mich aber genauso wenig wie die süßen Belohnungen meiner Mutter, wenn sie mich abholte, überzeugt. Nach vierzehn Tagen war das Kapitel Kindergarten für mich erledigt.

Meine acht Jahre ältere Schwester hat sich viel mit mir beschäftigt. Ihr bin ich dankbar, dass sie es war, die neben der Schule in den Kinderjahren meine Kreativität entwickelt hat. Sie hat mit mir gemalt, gebastelt, war in der Bücherei, hat Ausflüge mit mir unternommen. Sie hat zunächst Bankkaufrau gelernt und nach einigen Jahren in dem Beruf eine Ausbildung zur examinierten Krankenschwester gemacht. Mir waren immer schon Beziehungen zu Menschen, auch älteren und Erwachsenen wichtig.

Mein Bruder war fünf Jahre älter als ich. Das ist in Kinder- und Jugendjahren ein großer Unterschied. So war das Verhältnis nicht immer herzlich. Wir haben viel gerauft und unsere Kräfte gemessen. Ich muss für meinen Bruder nicht selten nervig gewesen sein. Gemeinsamkeiten hatten wir mit dem Fußballspielen. In den siebziger Jahren schaffte sich mein Bruder Platten von den angesagten Rockgruppen wie Fleedwood Mac, Alan Parsons, Manfred Man´s Earth Band, Meat Loaf, Nazareth und Rainbow u. v. a. an. Heimlich und unerlaubt hörte ich seine Platten und bildete so meinen Musikgeschmack, bevor ich in den achtziger Jahren selbst Platten kaufte, jetzt aber vorwiegend Punk und Independant. Mein Bruder hat eine Ausbildung zum Elektroinstallateur absolviert und arbeitet seit vielen Jahren für AIRBUS in Hamburg-Finkenwerder.

Als ich sechs Jahre alt war, hat meine Mutter mit mir einmal eine Bahnfahrt in die Lüneburger Heide zu Verwandten gemacht. Ich sollte erleben, wie es ist, mit dem Zug unterwegs zu sein. Die Ferien waren ein Erlebnis. Mit einem zwölfjährigen Mädchen tauschte ich erste Küsse aus. In der Grundschule hatte ich auch eine kleine Freundin, mit der ich die freien Nachmittage verbrachte. Ich schrieb ihr Liebesbriefe, wir lagen manchmal im Bett und küssten uns auf die Wange.

Überhaupt muss ich sagen, dass ich dem anderen Geschlecht schon früh sehr zugetan war. Das hat sich in meinem weiteren Leben auch nicht geändert. Zu meinem Freundes- und Bekanntenkreis gehörten immer weitaus mehr Frauen als Männer. Frauen, finde ich, sind nicht nur körperlich, sondern auch intellektuell interessanter.

In der Schule war ich Angeboten gegenüber aufgeschlossen und habe gerne gelernt. Schon in der Grundschule habe ich meine Aufgaben wichtig genommen. Erst Mittagsschlaf, dann Hausaufgaben und dann spielen. Wir hatten einen schon älteren Klassenlehrer, der auch Musikunterricht gab. Einmal hat er den Gesang der Klasse mit seiner Orgel begleitet. Und ich habe auf meinem Pult mit den Händen mitgespielt. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich hatte einfach Spaß. Aber dieser Lehrer glaubte, dass ich ihn nachäffe, er unterbrach sein Spiel, kam durch den Raum geschossen – ich hatte immer noch keine Ahnung, dass er mich meint – und baute sich vor mir mit hochrotem Kopf auf. Ein Schwall von zornigen Ergüssen prasselte auf mich nieder: „Unverfrorenheit“, „Unverschämtheit“, „Nachspiel“ hatte ich verstanden. Es hatte lange gedauert, bis ich dieses Erlebnis verdaut hatte. Bald darauf starb dieser Lehrer überraschend, und der Direktor übernahm bis zum Ende des vierten Schuljahres die Klasse.

Wegen einer Hepatitis C, die ich mir durch eine infizierte Spritze bei einer Impf-Aktion in der Schule zugezogen hatte, musste ich die vierte Klasse wiederholen. 56 Krankheitstage konnte ich nicht aufholen. Der mit der Genesung verbundene sechswöchige Kuraufenthalt in St. Peter-Ording an der Nordsee trennte mich erneut von meinen Eltern. Hier erlebte ich das Sanatorium erstmals als Heim-Institution wie später bei vielen Krankenhausaufenthalten in der Psychiatrie, die das eigene Heim aber nie ersetzen konnten.

Die Psychoanalyse sieht Depression als Folge von Fehlentwicklungen der frühen Kindheit an. Meine erste Depression in der Adoleszenz wurde daher auch als narzisstische Krise tituliert: Das Kleinkind ist in seiner Entwicklung darauf angewiesen von den primären Bezugspersonen bezüglich seiner Äußerungen und Bedürfnisse verstanden und wahrgenommen zu werden. Es will um seiner selbst willen geliebt werden. Erfährt das Kind nur wenig Resonanz und Verständnis, versucht es mit der Zeit herauszufinden, was es tun muss, um positive Reaktionen zu erhalten. Es passt sich den Bedürfnissen der Bezugspersonen an, büßt dadurch jedoch die Fähigkeit zu Selbstwahrnehmung und Selbstverwirklichung ein. Dadurch entwickelt sich ein „falsches Selbst“, welches sich vor allem an äußeren Anforderungen und dem Streben nach Bedeutsamkeit orientiert. Klassischerweise entwickelt sich auf der Grundlage dieser Dynamik eine Betonung der äußeren Leistung. Prestige, materieller Erfolg und gesellschaftliches Ansehen werden entscheidend für das Selbstwertgefühl.

Ich kam dann auf das Gymnasium, was meinem Lerneifer entsprach. Ich war ehrgeizig und hatte teilweise ziemliche Prüfungsangst. Besonders vor Lateinklausuren habe ich mich nicht selten übergeben. Die ersten heißen Küsse gab es mit Eva im Landschulheim. Danach wollte sie nichts mehr von mir wissen. Mit Fünfzehn habe ich angefangen zu rauchen und zu trinken und mit ein paar coolen Typen auf Partys abzuhängen. Meine erste Vinyl-Scheibe, die ich von meinem Taschengeld kaufte, war von den Sex Pistols. Zuzuordnen waren wir der linksalternativen Punkszene mit einer Verachtung auf alles, was etabliert-spießig und bürgerlich war. Ich war wie mein Freund Patrick aber eher auch ein Sympathisant, der selbst zu artig und bürgerlich war. Im zarten Alter von Sechzehn hatte ich meine erste Beziehung, die allerdings nicht lange hielt. Mit Carola gings weniger um große Gefühle als um das Sammeln von Erfahrungen.

Besonders viel, auch für das anschließende Studium, habe ich von meinem Lehrer im Leistungskurs Geschichte gelernt. Er hat uns unter anderem die Analyse von Quellen und Statistiken nähergebracht. Außerdem war er sehr unterhaltsam und hat den Stoff mit schauspielerischen Einlagen aufgelockert.

Die Abiturprüfungen waren der Vorbote einer richtigen Krise, weil ich unter dem selbst auferlegten Leistungsdruck die Segel streichen musste. Monatelang hatte ich mich akribisch vorbereitet, viel zu viel gelernt und dann versagten Körper und Seele. Mir war übel, ich zitterte, ich war nicht prüfungsfähig. Zwei Wochen später habe ich dann die Leistungskursprüfungen allein nachgeschrieben. Insgesamt bin ich unter meinen Möglichkeiten geblieben, ich war aber doch froh, mein Abitur mit 2,0 bestanden zu haben und dass ich mit den anderen zusammen feiern konnte. Man muss hier der psychoanalytischen Deutung nicht folgen. Es gibt viele Schüler, die leistungsorientiert sind, um ein gutes Abitur, das ersehnte Studium oder einen guten Job zu bekommen und die nicht an einer Depression erkranken. Die Geschehnisse hätten aber ein Warnzeichen sein müssen, das psychotherapeutische Aufmerksamkeit verdient hätte. Meine Eltern haben bezüglich meiner schulischen Aktivitäten und Leistungen nie Vorgaben gemacht, die ich etwa hätte erfüllen wollen. Ich war ein sehr selbständiger Schüler. Später im Studium oder im Job wollte ich auch gut sein, um mich selbst zu verwirklichen und mir schließlich Wohlstand zu erarbeiten. Das lief allerdings häufig nicht ohne Anspannung ab, bis ich mir in vielen Bereichen Routine erarbeitete.

Mit ein paar gutachterlichen Tricks bin ich um den von mir gefürchteten Wehrdienst herumgekommen und habe in Kiel angefangen, Politikwissenschaft und Geschichte zu studieren. Zunächst wohnte ich in einer kleinen möblierten Wohnung unter dem Dach, die so ungastlich war, dass ich mehr Zeit bei meinen Eltern zuhause verbrachte. Ich tat mich schwer, mich von zu Hause abzunabeln. Erst als sich die Wohnsituation verbesserte und ich mit zwei Freunden in eine geräumige Dreizimmer-Wohnung in der Gutenbergstraße zog, konnte das Studentenleben so richtig beginnen. Ich hatte ein paar nette platonische Freundinnen, mit denen ich meine Freizeit auf Partys und beim Sport verbrachte und die wichtigen Dinge der Welt diskutierte. Mit anderen ergab sich ab und zu ein One-Night-Stand, die Sehnsucht nach einer funktionierenden festen Beziehung wurde aber nicht gestillt.

Zwischenzeitlich hatte ich es mit einer neuen Studienkombination versucht: Politik, Soziologie und Volkswirtschaftslehre. Ich scheiterte aber an den Mathematik-Propädeutika für VWL. Ich beschloss, dass sich die Welt auch ohne Lineare Algebra und Analysis für mich weiterdrehen konnte und sattelte nochmal auf die Studienkombination Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Pädagogik um. Dabei blieb es dann auch bis zum Schluss. In vielen Dingen bin ich ein Spätzünder. Manches brauchte einen zweiten Anlauf oder dritten Versuch, aber wenn ich mich mal für etwas entschieden habe, dann ziehe ich es auch bis zum Ende durch.

Im Frühjahr 1990 lernte ich Anja aus Berlin kennen, die in Kiel Ernährungswissenschaften studierte. Wir haben versucht, eine Beziehung zu führen, aber irgendwie war sie ihrem Exfreund und ihrem Familienleben in Berlin noch so verbunden, dass das, was wir hatten, nach und nach wieder auseinanderging.

1990/1991 entstand für mich ein neues Handicap: Aus dem Nichts bekam ich fürchterliche Rückenschmerzen. Über Monate war der Ischiasnerv gereizt, und ich konnte kaum laufen. Die Untersuchungen im Computertomographen ergaben, dass eine Bandscheibenprotosion vorliegt, die Vorstufe zu einem Bandscheibenvorfall. Die Ärzte konnten sich aber nicht erklären, warum dieser Befund solche Schmerzen hervorruft und die medikamentöse Therapie kaum griff. Ich hatte schon das unbestimmte Gefühl, dass das schmerzhafte Leiden psychosomatisch sei. Bei Freunden stellte ich nicht selten die Frage, „ob alles mit uns in Ordnung ist und was unsere Freundschaft ausmacht“. Ich überdachte also meine Beziehungen, ich kam aber nicht zu einer wirklichen Interpretation meiner Beschwerden.



















Wenn die Seele brennt

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