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3 Die erste Krise

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Dann lernte ich an der Uni Silke kennen, die unter dem Strich meine Welt völlig ins Wanken bringen sollte. Sie hatte langes, kastanienfarbenes Haar, dunkle Augen und eine Weiblichkeit, der ich praktisch verfallen bin. Sie spielte die Verruchte, war frankophil, Anhängerin eines „Savoir Vivre“ und auch sonst Gelüsten nicht abgeneigt. Wir hatten eine leidenschaftliche Affäre miteinander, trafen uns, gingen miteinander ins Bett. Mir ging es körperlich schnell besser. Aber seelisch war das Ganze wie ein Hase-und-Igel-Spiel. Während die Frau mit Format die Liaison genoss nach dem Motto „Kleiner lass´ mich mal sehen…“, war ich von den Interaktionen so fasziniert, um nicht zu sagen hörig, so dass ich über meine Gefühle überhaupt nicht im Klaren war. Es war ein Rausch, der mit einem Urlaub in einem Ferienhaus auf der dänischen Insel Bornholm sein vorläufiges Ende nahm. In diesem Haus hatten wir ausschweifenden Sex an allen möglichen Orten. Aber – das ist wichtig für die spätere Bewältigung meiner Krise – es gab auch eine Situation, in der Silke nicht sprach und erst nach einfühlsamen Nachfragen zugab, dass sie manchmal in dunkle Löcher fiel und nichts dagegen machen könne. Ich sagte ihr, ich akzeptiere sie mit allem und fühlte eine besondere Nähe. Irgendwie hatte ich auch immer noch das Ziel einer festen Beziehung, wozu sie aber nicht in der Lage war. Als nach dem Urlaub die Treffen aufhörten (Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan…der Mohr kann gehen), da begann bei mir die Eifersucht und Wut. Ohne mit Silke direkt zu reden, ließ ich bei Freunden kein gutes Haar an ihr. Ich hatte den Verdacht, dass ich nicht der einzige Mann war. „Nymphomanin“ geisterte in meinem Hirn herum. Sie hatte mich so verletzt, dass ich die Aspekte, wie alles zusammenhing, in ellenlangen Monologen aufschrieb, irgendwie um das Ganze zu verarbeiten. Das Gegenteil war aber der Fall. Ich habe die Geschehnisse konserviert und solange auch in meinem Kopf bewegt, bis ich nicht mehr abschalten konnte. Ich habe völlig die Kontrolle verloren. In Panik bin ich eines frühen Morgens im Sommer in mein Auto gestiegen und von Kiel zu meinen Eltern gefahren. Unterwegs auf der Landstraße beobachtete ich, wie eine junge Frau mit dunklen Haaren hinter einem Bushäuschen hervorkam und ihr Kleid zurechtschob. Ich hätte schwören können, dass diese Frau Silke war. Wahnvorstellungen nahmen Besitz von mir. Ich war völlig durch bei Rot.

In der Logik einer narzisstischen Krise waren äußere Bestätigungsfaktoren weggebrochen, und ich entwickelte eine existenzielle Selbstwertkrise mit Depression und Suizidalität. Man kann die Geschichte aber auch lediglich als kritisches Lebensereignis („Life Event“) interpretieren. Die Trennung als Verlust einer wichtigen Bezugsperson bzw. die sexuelle Begegnung und ihr Wegfall als belastende Lebenssituation waren der Auslöser für die Depression und Psychose.

Meine Eltern wollten zunächst aus einem gewissen Reintegrationsgedanken heraus, dass ich in eine Klinik in Kiel an meinem Studien- und Wohnort komme. Mein Vater brachte mich in die Psychiatrische Universitätsklinik in Kiel, aber die Aufnahmestation war so schrecklich – da waren keine Pfleger, sondern eher Aufseher oder Wärter, die ihren Dienst versahen. Ich flehte meinen Vater an, dass er mich wieder mitnehmen solle, was er nach einigem hin und her auch machte. Zurück in Schleswig wies mich eine niedergelassene Psychiaterin in die dortige Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie und Rehabilitation ein, wo ich von dem Ärztlichen Direktor behandelt wurde. Weil es damals keine explizit psychiatrischen Behandlungsangebote für junge Erwachsene gab, wurde ich auf einer offenen geriatrischen Frauenstation untergebracht, die auf Depression spezialisiert war. Seit diesem ersten Klinikaufenthalt wurde ich in der zehn Jahre andauernden Krankheits-Odyssee stationär und ambulant ganz überwiegend nach dem psychotherapeutischen Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie behandelt. Grundannahmen der sogenannten behavioristischen Therapie sind, dass psychische Störungen auf abnormes, gelerntes Verhalten zurückzuführen sind. Neue Lernprozesse können ungünstiges Verhalten verändern. Motive, Gefühle und innere Konflikte spielen bei der Behandlung von psychischen Störungen keine große Rolle. Ungünstige Gedankenmuster können Verhaltensstörungen verursachen und verstärken. Für jede psychische Störung wird ein spezifisches therapeutisches Vorgehen entwickelt. Ziele der Verhaltenstherapie sind Hilfe zur Selbsthilfe, Reduzierung der Symptomatik, Selbstregulation des Patienten, Psychoedukation.

Mein depressives Empfinden bestand körperlich darin, dass ich ein Spannungsgefühl rund um den Kopf hatte („belegte Stirn“) und allgemein die Motorik gestört war. Von der Kognition her war ich eingeschränkt. Ich konnte mich nur schwer konzentrieren. Seelisch betrachtet hatte ich große Angstzustände. Was mein soziales Verhalten anbelangte, zog ich mich, auch aufgrund der Beeinträchtigungen, immer mehr zurück. Ich lag in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Vom Personal musste ich motiviert werden, an einem Gesellschaftsspiel teilzunehmen. Die Fachleute sprachen von einem neurotischen Depersonalisationssyndrom. Ich war meilenweit von dem Zustand des Studenten entfernt, so wie ich mich vorher kannte.

Fatal bei dieser Erkrankung ist, dass der Wunsch sich umzubringen, für den Kranken zu einer realen Option wird. Dabei verstellt die Krankheit tatsächlich einen realistischen Blick auf die eigenen vorhandenen Perspektiven. Ärzte und Therapeuten sollten diese Gefahr offen ansprechen, was eine enorme und wichtige Erleichterung für die Betroffenen darstellt, denn es ist in der Regel nicht der freie Wille des Betroffenen, aus dem Leben zu scheiden, sondern die Krankheit, das ablaufende Programm, das diese vermeintliche Möglichkeit eröffnet. Das können Gefühle sein, die zu Lebensmüdigkeit führen oder bei schizoaffektiven Formen auch Stimmen im Kopf, die imperativ dazu animieren: „Bring dich um!“ Das präsuizidale Syndrom des Psychiaters Erwin Ringel beschreibt drei Phasen: Die Betroffenen erleben ihre Situation zunächst als ausweglos und die seelischen Kräfte lassen nach. In der darauffolgenden Phase kommt es dazu, dass Aggressionen nicht ausgedrückt werden können und sich zunehmend gegen die eigene Person richten. In der dritten Phase denken Betroffene aktiv über einen Suizid nach oder Suizidgedanken drängen sich auf. Eine Restambivalenz kann bis zum unmittelbaren Vollzug bestehen bleiben. In der Entschlussphase kommt es nur noch auf indirekte Art zu Suizidankündigungen. Die fantasierte Erleichterung durch den Tod führt zu einer „Ruhe vor dem Sturm“. Angehörige und Pflegepersonal denken unter Umständen, dem Patienten würde es wieder besser gehen.

Man kann davon ausgehen, dass 2 % der Durchschnittsbevölkerung einen Suizidversuch unternimmt und fast jeder Mensch erlebt einmal im Leben Suizidgedanken. Zirka 10.000 Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben, wobei rund Dreiviertel Männer und ein Viertel Frauen sind. Männer wählen häufig harte Suizidmethoden, während Frauen weiche Suizidmethoden bevorzugen, so dass die Zahl der nicht tödlich endenden Suizidversuche bei ihnen um das 2- bis 3-Fache überwiegt. In 40-60 % der Fälle von vollzogenem Suizid liegt eine Depression vor. In 10 % der Fälle liegt eine Schizophrenie vor.

Ich kann nur allen Erkrankten, die Suizidgedanken haben, zurufen bevor es zu Handlungen kommt: „Kehrt um, holt Euch Hilfe. Wenn es sein muss, auch hinter der geschlossenen Tür einer psychiatrischen Klinik. Man ist kein schlechterer Mensch, nur weil man krank ist und an Selbstmord denkt. Ihr seid die wahren Helden und werdet belohnt fürs Durchhalten.“ Die Möglichkeit eines Suizids sollte in der psychotherapeutischen Arbeit nicht verurteilt werden. Die Annahme der suizidalen Tendenz durch den Therapeuten führt zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls und reduziert Schuldgefühle. Die Therapiestrategie sollte darauf ausgerichtet sein, mit dem Patienten herauszuarbeiten, welche bewussten und unbewussten Ziele er mit dem Suizid erreichen will. Es ist nach Möglichkeiten zu forschen, diese Ziele auch auf anderem Weg zu erreichen.

Ganz in der Nähe der Klinik und meines Elternhauses befindet sich ein Hochhaus, auf dem ich schon im 8. Stock stand und ein Bein über der Brüstung hatte, als eine Frau aus ihrer Wohnung kam und mich anherrschte: „Was machen Sie da?“ Ich bin geflüchtet. Diese Frau hat mir das Leben gerettet.

Heute sage ich auch, dass ich schon mehrere Leben gelebt habe, bei so unwahrscheinlich viel Glück, wie ich hatte.

Die Behandlung in der Fachklinik umfasste als Pharmakotherapie den Einsatz des Antidepressivums Saroten und des mittelpotenten Neuroleptikums Taxilan sowie Ergotherapie, was meiner künstlerisch-kreativen Ader sehr entgegenkam. In den Räumen der Beschäftigungstherapie fand ich auch wegen des unaufgeregten und gelassenen Leiters, der ruhigen Musik und der sanften Aktivität Entspannung. Ich habe vorwiegend getöpfert - aber nicht irgendwelche Aschenbecher, sondern kunstvolle Gefäße, die ich später an meine Freundinnen in Kiel verschenkte. Die Sporttherapie nahm mir die innere Unruhe. Die Physiotherapie unterstützte ebenfalls den Körper. Die Musiktherapie sorgte dafür, dass wieder etwas in mir schwingen konnte. Der Ärztliche Direktor hatte für mich als angehenden Akademiker eine besondere Therapie vorgesehen. Ich sollte in der Ärztlichen Bibliothek auf dem Klinikareal neue Bücher aufnehmen. Dazu hatte ich eine mechanische Schreibmaschine und Karteikarten zur Verfügung. Obwohl ich aufgrund meiner kognitiven und motorischen Einschränkungen immer wieder Fehler machte und von vorne anfangen konnte, versicherte man mir, wie wichtig meine Arbeit sei. Das fand ich aufmunternd und die Therapie half mit, den Tag zu strukturieren. Am wichtigsten waren aber die Gespräche mit dem Pflegepersonal. Es gab eine Schwester Roswitha, die mir aufgrund ihrer Expertise Hoffnung machte und sagte, dass es nicht mehr lange dauere, bis ich wieder mit meiner bekannten Persönlichkeit auftauche. Was Silke betraf, wich die unaussprechliche Wut einer nüchterneren und plausiblen Erklärung: irgendwie war sie auch krank. Sie litt unter ihrem Lebenswandel, wie sie mir angedeutet hatte. Mit dieser Erkenntnis hat sich bei mir ganz viel gelöst und ich konnte vergeben.

In der Klinik hatte ich Anja, eine junge Frau aus relativ prekären Verhältnissen kennengelernt. Sie hatte von früheren Missbrauchsfällen überall Narben am Körper, aber ein hübsches Gesicht. Ich freundete mich mit ihr an. Mit ihr lernte ich verwöhntes Bürschchen aus gutem Elternhaus auch den rauen Kern der Psychiatrie kennen, eine Welt, die mir bisher fremd war. Es gibt Menschen, die hatten in ihrer Kindheit und Jugend nicht so viel Glück wie ich. Außerdem hatte ich engeren Kontakt zu Gaby, einer Frau, die ihren Mann mit einer ihrer Freundinnen in flagranti im Bett erwischte und ihre Wut darüber nicht auf ihn projizierte, sondern sich selbst die Pulsadern aufschnitt. Nach der Behandlung in der Klinik besuchten wir uns auch gegenseitig in Flensburg und Kiel.

Während ich in der Fachklinik stationär aufgenommen war, hatte ich einige Wochen die Möglichkeit, ein- bis zweimal die Woche nachmittags für zwei bis drei Stunden in einem Dritte-Welt-Laden der evangelischen Kirche als Verkäufer auszuhelfen. Zwischen den Regalen mit den Produkten fühlte ich mich einerseits in meinem Zustand unsicher und schutzlos; wenn ich aber ein Präsent verkauft hatte und das Geld von den Kunden entgegennahm, hatte ich doch für einen kurzen Moment ein gutes Gefühl.

Diese erste Krise dauerte insgesamt neun Monate. Ich wurde insgesamt dreimal stationär in der Fachklinik aufgenommen, nachdem Aufenthalte zu Hause oder der Übergang in eine Kieler Tagesklinik scheiterten. Ich war vorwiegend depressiv, hatte aber, als ich einmal mit Anja einen Spaziergang in der sonnendurchfluteten Winterlandschaft machte, eine psychotische Erscheinung. Mir war, als wenn alles und jedes in einem glitzernden Sternenbanner mich umschwebte. Irgendwie hatte ich eine Idee, wie alles zusammenhing. Es war das Band der Schöpfung, das mich für Sekunden umgab, bevor ich wieder in meinen depressiven Zustand abglitt.

Insgesamt bekam ich durch den Ärztlichen Leiter viel Freiraum. Er ließ mich mit dem Auto nach Kiel fahren, damit ich in meiner Wohnung übernachten oder Freunde treffen kann. Allerdings kam es in meiner Wohnung zu einem Suizidversuch. Ich hatte unwahrscheinliches Glück, dass die Sicherung raussprang, als ich den Fön in der Wanne fallen ließ. Der teuflische Mechanismus der Krankheit lässt einen nicht an die Eltern, die Freunde, die Therapeuten, die einen begleiten, denken, man will nur, dass das Leid endlich aufhört. Der erlebte Moment zwischen Leben und Tod, als der Strom mich durchfloss, hat mir jedenfalls vermittelt, dass es richtig ist, am Leben festzuhalten. Ich sprang aus der Wanne und stammelte: „Ich will leben, ich will leben.“ Ich erzählte meinem Arzt davon; er war ziemlich geschockt, aber zum Ende hin ließ er mich auch mit meiner Schwester und meinem Schwager nach Bornholm fahren, wo oben genanntes Ferienhaus stand, in dem ich mit Silke wohnte. Das war nicht ohne Risiko, weil ich auch noch mit dem Gedanken spielte, mich von einer ca. dreißig Meter hohen Felsformation zu stürzen. Aber als ich vor den Felsen stand, kam ich zu dem Schluss, dass ich auch wenn mein Zustand weiter so bleiben sollte, ich trotzdem mein Leben weiterführen wollte. Diese Annahme der Situation war ein erster wichtiger Schritt im Genesungsverlauf. Zurück zum Festland nahm ich das Flugzeug. Ich habe diesen Flug als etwas ganz Besonderes genossen. Es ging bergauf!

Weihnachten 1991 war ich ein paar Tage auf Urlaub zuhause bei meinen Eltern. Mein Bruder schenkte mir ein CD-Deck für meine Musikanlage. Ich wurde regelrecht ergriffen von diesem tollen Geschenk und freute mich hochgradig. Das Ereignis durchbrach meine depressive Stimmung und ließ mich in die Zukunft blicken. Dass jemand mir so was Tolles schenkt, da muss es ja weitergehen.

Wieder zurück in der Klinik ging ich regelmäßig in ein externes Fitness-Studio. Hinter dem Tresen arbeitete eine Frau, die ich schließlich ansprach und die mich zu sich einlud. Von der Klinik aus gings zum Date. Und als wir uns umarmten, konnte ich nur stammeln: „Es ist alles wieder da!“. Die Depression war gegangen. Mit Imke führte ich dann auch eine richtige Beziehung.

Nichtsdestotrotz sollte ich aus Sicht der Ärzte meinen Zustand weiter stabilisieren und im Anschluss an die stationäre Akutbehandlung eine psychosomatische Behandlung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Kiel erhalten. Zu Beginn lud der Ärztliche Leiter der Psychosomatischen Klinik jeden neuen Patienten zur Audienz, um zu vermitteln, wie wichtig das dort Gelernte für das weitere Leben ist. Das wollte ich gerne glauben, aber ich hatte keinerlei Leidensdruck mehr und zu Hause wartete meine Freundin. Nach drei entspannten Wochen mit zahlreichen Gesprächstherapien und sommerlichen Aktivitäten in einem netten Patientenkreis verließ ich auf eigenen Wunsch das Setting. Ich wollte nicht noch weitere Monate in der Klinik bleiben, sondern mein Wohlbefinden draußen genießen.

Meines Erachtens ist es im Falle einer Depression bedeutsam, die eigenen krankmachenden Lebensumstände zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern, damit eine Heilung eintreten kann. Genauso wichtig ist es, dass entgegen einer drohenden Hospitalisierung genügend Freiraum von ärztlicher Seite gegeben wird, um „außerhalb der Mauern“ neue Erfahrungen sammeln zu können. Die Verbitterung über Silke und das demütigende Dasein als Kranker wich endgültig mit der neuen Beziehung. Die neue Partnerin wirkte Wunder. Mein Status und Selbstverständnis änderte sich: ich wurde wieder zufrieden, nur um eine besondere Lebenserfahrung reicher.





















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