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KAPITEL V

Überblick über Freyrs Ætt: die acht Stationen des Entstehens, Werdens und Vollendens

DIE ERSTE ACHT: FREYRS SCHÖPFUNG


Am Anfang steht die Möglichkeit. Was vermagst du, über was verfügst du – frei und uneingeschränkt? Von nichts kommt nichts. Aber Kleinvieh macht auch Mist. Was ist dein Potential? Was setzt du davon ein und wofür? Was und wie viel brauchst du und auf welche Weise gehst du vor?


Hier, mit der Rune Fehu, beginnt dein Universum der Schöpfung. Sie entsteht aus dem, was du hineingibst in den Prozess. So war das mit dem Anfang des Weltalls, so ist das mit jedem weiteren Projekt, ob Großbauanlage, Gedankengebäude oder Bastelarbeit. Acht Stationen geben die Runen vor, hier ist die erste.

Die Urbedeutung von Fehu ist Vieh. Hausrinder waren gemeint: Tiere, die sich treiben lassen, die deinen (oder unseren) Wohlstand darstellen. Fehu kann alles bedeuten, was mit deinem Potential zu tun hat und seinen Möglichkeiten. Freyr ist einer der Großen, der die Schöpfung hütet. Er ist vermählt mit Gjerda, jener Riesin, die wir Menschen als Vegetation erkennen: Jeden Frühling legt sie sich erneut auf die Erde mit ihrem Leib, der blüht, glänzt und schillert in den erstaunlichsten Farben. Ihr Göttergatte Freyr steuert und bewacht auch die Wunder der Fortpflanzung (doch dafür gibt es eine Extrarune, die erst später dran ist). Freyr kann Dinge fast aus dem Nichts entstehen lassen – so scheint es zumindest. Er hat ein kleines Ding in seiner Tasche. Faltet er es auf, wird ein Boot daraus – und dieses Faltboot enthält die ganze Götterwelt. Er war, das vermute ich zumindest, am Urknall beteiligt: damit etwas daraus werden konnte. Sonst hätte es nur geknallt – und das wäre es dann gewesen. Wie ein Silvesterböller – schön und ah, aber sogleich vorbei. Dank Freyrs Kunst ist aber das Universum daraus entstanden, wie wir es kennen – und die Wissenschaft hat errechnet, dass der ganze Akt nur den Bruchteil einer Nanosekunde gedauert haben soll… (Jede Kultur braucht – und ersinnt – ihre Mythen). Aber Kunststück – die Zeit war ja noch jung. Vor dem Urknall hat es gar keine gegeben.


Und in dem Moment, da die Schöpfung enstand, wurde die Möglichkeit zur Materie: hat sich manifestiert. Die Rune, die das verbildlicht, ist Uruz. Ihre Urbedeutung ist Auerochs. Das war mal das größte Landtier Eurasiens: schwarz, schön, schlank und wild, riesig und kraftvoll. Uruz symbolisiert geballte (Lebens-)Kraft: die jeglicher Materie – vom nanowinzigen Nukleus, der im Schöpfungsakt (oder Urknall – auf den kommen wir gleich noch einmal zurück) zur ganzen Welt wurde (über die vorstellbare hinaus; auch wenn das allein schon die individuelle Vorstellungskraft sprengt) über jedes einzelne Ding oder Lebewesen bis hin zu dir: deinem Leib, deinem Körper, dem einzigen Zuhause deiner Seele (zumindest in diesem Leben). Und auch jeder andere Körper jedes anderen Lebewesens, ob klein oder groß, ob dick oder dünn, mit oder ohne was dran, drin, drauf – enthält diese Kraft, besteht in gewisser Weise aus ihr.


Wissenschaftlich betrachtet, mag es vielleicht die Kraft der Atome sein. Der Ur-Nukleus war wahrscheinlich kein Atom in heutigem Sinne, aber er flog auseinander, schlagartig. Konnte seine Kraft nicht mehr halten und musste sich entladen, zu ungeheurer Größe aufblähen und ausbreiten. Das ist, wofür die Rune Thurisaz steht. Ihre Urbedeutung ist Riese: im Sinne riesenhafter Naturgewalt. Sich entladendes Chaos. Dessen Resultat: die Ausbreitung von Materie. Das Chaos ist ein wichtiges Moment im Schöpfungsprozess. Denn erst die wilde Ausbreitung schafft die Voraussetzung dafür, das Verstreute und Umhergeworfene sortieren zu können, zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen.


Das Zeichen, unter dem dies erfolgt, ist Ansuz: die Rune der göttlichen Ordnung und der Kommunikation, ja, des Geistes überhaupt. Aus unserem eigenen Leben wissen wir: Spätestens dort, wo es etwas zu sortieren gilt, müssen wir uns einigen, was wohin soll und warum. Wir müssen uns verständigen; ein Mittel, dies sogar generationenübergreifend zu tun, ist die Sprache. Sie ermöglicht uns, auch auf die Erfahrungen von Leuten zurückgreifen zu können, die nicht mehr leben. Denn Menschen erzählen weiter, was sie erfahren, was sie wissen – oder zu wissen meinen. So blieben wichtige Entdeckungen erhalten und ließen sich weiterentwickeln, verbessern und verfeinern und in einst ungeahnten Varianten einsetzen – wie zum Beispiel das Rad. Die Rune Ansuz steht für das Wunder des Bewusstseins und all seine Höhenflüge: vom richtigen Wort zur richtigen Zeit über alle Formen der Sprache, der bewussten Verständigung miteinander, bis zum Begeistern der Gemüter mit Gesang. Die Urbedeutung von Ansuz ist „Gottheit“. Vom Wortstamm geht es zurück auf „asa“, Pfahl oder Balken – auch dies passt zur Erschaffung von Struktur. Für mich ist Bewusstsein das Phänomen, das uns mit den Göttern verbindet: Von ihnen haben wir es, sie spiegeln sich in unserem – wir sind ihr Werk ebenso wie sie das unsere. (Das ist nicht die Logik des Verstandes – nur die des Herzens.)


Das Universum ist kein starres Gebilde, sondern in steter Bewegung. Mit der Schöpfung entstand ein weiteres Phänomen: die Zeit. Sie wird durch die Rune Raidho ausgedrückt. Deren Urbedeutung ist „Reiten“: Dabei sind alle rhythmischen Vorgänge gemeint, jedes Auf und Ab, Hin und Her, Hoch und Nieder… immer wieder, in ständiger Wiederholung. Die ganze natürliche Welt besteht aus Zyklen – großen und kleinen, gewaltigen und langsamen wie mikroskopischen und urschnellen samt aller Tempi und Dimensionen dazwischen. Nichts von uns Geschaffenes und Konstruiertes ist frei oder unabhängig davon – zumal unsere Konstruktionen eigene zyklische Verläufe bilden, schon von sich aus (ob wir das beabsichtigen, erkennen oder auch nicht): Ein Haus soll vielleicht für die Ewigkeit dastehen, wird aber früher oder später zur Ruine und deren Reste gehen irgendwann wieder in der Umgebung auf, aus der sie entstanden. Wir selber würden gerne ewig leben, altern aber alle und sterben: gehen genauso wieder auf – und entstehen aufs Neue so wie das Haus. Es ist niemals dasselbe Haus, nie wieder dasselbe Individuum. Auch für dieses Phänomen gibt es eine Rune – zu der kommen wir gleich. Vorher soll noch eine andere wichtige thematisiert werden!


Kenaz – die Fackel. Mit ihr gestalten wir die Welt, verändern unsere Umgebung. Dazu braucht es Kompetenzen. Die Rune repräsentiert das Können – vom spielerischen Basteln und Ausprobieren über alle Arten handwerklicher Fertigkeiten und deren Spezialisierung bis hin zum Erschaffen jener Werke, deren Ziel und Wirkung vollständig losgelöst ist von jedem augenscheinlichen praktischen Nutzen: Kunst. Jeder echte Schaffensdrang ist mit Leidenschaft verbunden und so lässt sich die erotische (gleich welcher Neigung und Ausrichtung) getrost mit dazuzählen. Gestalterische Obsessionen und sexuelle Sehnsüchte nähren sich aus ein- und demselben Feuer (eine Erkenntnis, für die es der Rune nicht bedürfte – aber sie bestätigt sie… und lässt erahnen, dass manche heutigen Weisheiten schon früher einmal bekannt und in der Welt gewesen sein müssen…). Die Kräfte hinter dieser Rune sind, wie ich es erlebe, Freyja und die Zwerge: die Große für die größte Macht der Welt, die Kleinen für die größten Geschicklichkeiten. Kunst schafft – so oder so – immer eine Abbildung ihrer Umgebung und so lässt sich auch die nächste Rune in gewisser Weise als das Ergebnis einer Kenaz-Rune sehen, die sich selbst gespiegelt hat.


Gebo repräsentiert die vollendete Harmonie – astrophysikalisch gesehen den Energieerhaltungssatz (die Energiesumme im Universum bleibt immer gleich) – und aus magischer Sicht dein persönliches Talent, deine Gaben (es können mehr als eine sein). Mindestens eine hat jedes Geschöpf von Geburt an, es ist das persönliche Göttergeschenk: der Schatz, den wir im Laufe unseres Lebens bergen sollten. Natürlich besser früher als später – aber besser spät als nie. Die persönliche Gabe ist das, was uns einzigartig macht als Individuen: viel mehr und bedeutsamer als die Form der Nase oder andere Äußerlichkeiten. Die Gabe ist das, wofür wir jeweils geboren wurden und unterscheidet sich meistens beträchtlich von allem, was wir uns beibringen ließen, wofür wir angeblich geboren seien. Das erschwert die Lage, aber ändert nichts am Umstand: Es gilt, die eigene Gabe zu finden, anzuerkennen – und einzuüben. Talent allein ist nämlich keine Fähigkeit oder gar Leistung, sowenig ein Blatt Papier und ein Bleistift ein Gedicht sind, eine Ackerfurche eine Mahlzeit wäre oder eine anmutig geratene Menschengestalt bereits allein wegen ihrer Ansehnlichkeit ein Auto reparieren, eine Theaterrolle verkörpern oder in Rekordzeit eine Strecke im Wasser zurücklegen könnte. Das alles muss gegebenenfalls gelernt werden – und hat mit den Äußerlichkeiten der Person nicht nennenswert zu tun. Die Rune Gebo markiert auch die Vollendung des Schöpfungsaktes – die Übergabe des Werkstücks, ließe sich sagen: den Moment, in dem es so weit fertiggestellt ist, dass es, so wie es geriet und entstand, nicht mehr verbessert werden kann.


Doch es bedarf noch einer weiteren Kraft, den Akt wirklich abzuschließen, seine Vollendung gewissermaßen zu krönen. Dies geschieht durch die Freude, ausgedrückt durch die Rune Wunjo. Sie repräsentiert die Verbundenheit: sowohl mit dem Geschaffenen als auch der daran Beteiligten untereinander. Freude, Wonne, Glück, Verbundenheit: Das ist das Ziel des ganzen – ja: jeden – Schöpfungsprozesses!

Das Lied der Eibe

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