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MUTTER MATERIE

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Es wird konkret. Was passiert mit dem Potential? Von selber nichts – aber das Vieh tendiert ja zur Bewegung. Wir treiben es wohin – oder es treibt, sich selbst überlassen, auseinander (nicht völlig – aber zumindest wird es ohne unser Zutun kaum eine Richtung einschlagen, die uns dient und entspricht). Wenn Fehu das darstellt, was wir vermögen, die Summe unserer Möglichkeiten, so manifestiert sich das, was wir damit anstellen, als ihre Verwirklichung. Das Wahrmachen bringt es in die Welt, sinnlich gesehen auf die Erde. Es materialisiert sich. Die Rune solch irdischer Manifestation ist Uruz.

Die Urbedeutung ist „Auerochs“. Eine andere „Nieselregen“. Wie passt das zusammen? Unter Umständen gar nicht. Die Deutung als „Nieselregen“ stammt von Seefahrern, die andere aus bäuerlichen Kulturen. Auf See gab es anscheinend wenig Auerochsen. Ich bringe es fertig, sowohl in der einen als auch der anderen Deutung eine Erscheinungsform von „Erdkraft“ zu sehen. (Wer schon einmal in einem Ruderboot von Regen überrascht wurde, weiß, was ich meine. Dabei war ich sicher nicht so lange oder auch nur halb so gefährdet unterwegs wie irgendwelche altgermanischen Seefahrer, sondern nur zum Freizeitspaß. Dies hat allerdings ausgereicht, das nasse Geniesel in der Luft als ziemlich irdische, mir haushoch überlegene Macht zu erfahren.) Was nicht zu heißen braucht, dass an der Assoziation Uruz = Erdkraft historisch irgendwas dran sein muss.

Beim Aufbau meines Deutungssystems fürs Ältere Futhark ging ich von „Auerochs“ aus für Uruz – von der Variante „Nieselregen“ hörte ich erst später, sie steht dazu jedoch nicht im Widerspruch. Aus dem Bild oder Symbol des Auerochsen kann ich allerdings mehr ziehen, was das Verständnis des Zusammenhangs fördert.

Zunächst fühlte ich leichte Irritation: schon wieder eine Art Rindvieh?" Als Stadtkind fiel mir der Unterschied zwischen einer Muhkuh und einer anderen Sorte Rind, die ich zudem nirgends in der Natur betrachten konnte, nicht gleich auf. Auerochsen sind seit dem 17. Jh. ausgestorben, im europäischen Raum wichen sie zunehmender Besiedelung durch unsereins. Es waren Wildtiere – nur auf freier Flur zu Hause und im ganzen eurasischen Raum die größten Landbewohner. Nicht nur im Vergleich zu den damals kleinwüchsigen Hausrindern waren sie riesig. Einem hochgewachsenen Mann hätte mancher Urbulle bequem in die Augen sehen können: bei seinen 1,80 Metern Risthöhe. Zudem hatte so ein Bulle ja noch jede Menge Rindskörper hinten dran! Alles an ihnen war lang: Leiber, Beine, Schädel, Hörner – bei aller Kraft und Wucht müssen sie eine unglaubliche Eleganz ausgestrahlt haben. Und dann noch schwarz wie die Nacht, das All, der Abgrund und die Gothics!

Das pure Leben: in physischer Präsenz. Selbst das nackte Knochengerüst eines Auerochsen im Museum machte mich sprachlos: Wie zum Sprung war das Skelett montiert, Ausdruck unbändiger Wildheit noch lang nach dem Tod dieses einen Exemplars und seiner ganzen Gattung… Fast meinte ich, das Schnauben hören zu können, den Schlamm unter unruhigen Hufen spritzen zu sehen, jeder einzelne ein Manifest von Kraft weit über Pferdestärken hinaus. Hinten ein schlanker, nervös peitschender Kuhschwanz am Arsch einer Riesenmasse Tier – selbst dem phantasielosesten Zeitgenossen hätten spätestens die Hörner Ehrfurcht eingejagt, die sich nicht einmal bewegten in ihrer bleich gewundenen Riesenpracht, da von alledem ja nur ein Knochengerüst übrig geblieben ist. Das eines Auerochsbullen oder einer Kuh! Der Unterschied muss marginal gewesen sein, kaum sichtbar zumindest: Die Euterchen waren wahrscheinlich das Einzige, was an diesen imposanten Tieren „klein“ zu nennen gewesen wäre.

Solche Bilder sehe ich vor mir, wenn ich an Uruz denke. Schon die Form der Rune hat etwas Kraftvolles, aufrecht Gebuckeltes, Wuchtiges – auch wenn sie nichts Gegenständliches zeigt (keine Rune tut das). Der Gedankengang, um noch einmal auf die „Nieselregen“-Deutung zurückzukommen, die Verlaufsform der Rune bilde das Aufsteigen ozeanischer Wasser (verdunstend) zu den Wolken und ihr anschließendes Niederregnen ab, erscheint mir jedoch zu weit hergeholt. Was aber Geschmackssache ist.

Wichtiger ist, dass sich die Energie, die sich in Fehu versammelt, in – oder gewissermaßen zu – Uruz verdichtet. Aus dem Vermögen des Möglichen wird handfeste Materie, mindestens aber geballte Kraft: Erdenergie, weil sich diese beiden Begriffe – Materie und Kraft – in diesem Zusammenhang kaum trennen lassen. Uruz verkörpert ihre Verbindung, ihr Miteinander. Ein besseres Symbol als das beschriebene schwarze Urtier kann ich mir kaum vorstellen. Was lässt sich nun für hier und heute, für unser tägliches Leben, daraus ableiten? Ganz konkret: gefühlte Körperlichkeit! Ab da hängt es nämlich nicht mehr davon ab, wie genau unsere Leiber beschaffen sind und dass sie mit archaischen Urtieren kaum Ähnlichkeit haben dürften. So sehr ich aber oben das urtümliche Aussehen mittlerweile längst ausgestorbener Wildtiere beschwor, so konsequent möchte ich – andersherum, sozusagen – das schöne Bild von Freiheit, Kraft und Wildheit auf unser Inneres übertragen. Denn dafür ist es meines Erachtens da. Nicht die äußere Form ist hier das Ziel, sondern nur das Mittel. Ganz egal, wie er aussieht, was er erträgt, stemmen kann oder nicht: Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du dich ihm lustvoll ergibst? Ich rede hier nicht von Sexualität oder dergleichen, das ist mitnichten der Punkt (im Moment) – es geht allein um das physische Spüren. Solang du nicht in einer Situation bist, in der dir dein Körper überhaupt vornehmlich Schmerzen bereitet (was es ja leider auch gibt), muss es doch irgendeinen Zustand geben, in dem du dich physisch wohl fühlst – und zwar ohne großen Aufwand. Das mag individuell sehr verschieden ausfallen, deshalb möchte ich hier nichts pauschalieren. Der eine schätzt vielleicht ein Schlammbad, in dem er sich suhlt wie Sau, der nächsten reicht die Sommersonne auf der Haut oder auch nur dem Hut, die dritte tobt gern vorbei an Busch und Zaun, joggt durch die Gegend, dass die Pumpe pocht und der Schweiß glänzt auf den Muskeln, während der vierte sich faul langlegt und als letzter Diener der Muße die Schwerkraft eine gute Göttin sein lässt und sich in Träume hineinmeditiert, die nicht einmal der US-amerikanische Geheimdienst kennt. Es sind der Möglichkeiten mehr als Mücken am Sommerabend. Ich will hier nur darauf hinaus, die eigene Körperlichkeit zu erfahren und zu spüren, und das in möglichst angenehmer, schwelgerischer, gefühlt kraftvoller Form. Vielleicht tut‘s ja sogar das Blubbern der Gedärme und ein auerochsreifer Furz – mag der Herr von Laptopia auch das Nerdnäschen rümpfen, wenn die lebenslustige Dame neben ihm einen fahren lässt… Dies ist Eibensangs erdiges Runenbuch, kein Benimmkatalog.

Uruz hat mit Urkraft zu tun, verkörpert solche – und gemeint ist durchaus die deines Körpers. Es geht, wie gesagt, nicht um Äußerlichkeiten, auch nicht um Messwerte. Also nicht um Vergleiche. Eher darum, dass sich dein Ich, deine Seele, deine Person in dem Körper manifestiert hat, den du hast. Wie bei mir wird es dein einziger sein – und wie immer wir damit klarkommen, es ist genau der Teil von uns, der uns von Gespenstern unterscheidet. Der eigene Leib ist unsere jeweilige physische Manifestation in der Welt. Wir sind nur eine Zeit lang so: solange unser Leben währt. Die ganze restliche Zeit über sind wir tot. Oder zumindest nicht hier: in der Welt, die wir kennen. Einander erkennen können! Ist das nicht ein Wunder? Ausreichend, meine ich, diesem Ausnahmezustand, der sich physische Präsenz, körperliches Dasein nennen lässt, eine von 24 Runen zu widmen (oder, anders ausgedrückt, eine der 24 heute diesem Wunder zuzuordnen)?! Es gibt noch eine andere Rune, die sich dann aber mehr damit befasst, was mit diesem Körper, dem dir ureigenen, anzustellen ist. Sie kommt erst später und dann, das verspreche ich, einigermaßen unerwartet. Für diesen Moment – diese Station im Futhark, wir sind erst bei Nummer zwei – reicht uns das Dasein als solches: das leibliche. Das hat, ungeachtet dessen, wie jemand auch schwächeln oder kränkeln mag, mit Kraft zu tun: jene, die uns lebendig macht und am Leben erhält. Ich nenne sie Erdkraft, denn erdverbunden sind wir in jeder Hinsicht. Wir alle leben von 15 Zentimetern Humusschicht; natürlich bestehen wir auch aus jeder Menge Wasser (für das es ebenfalls eine Rune gibt – in gewisser Weise auch für besagte Humusschicht, aber davon später) und kämen ohne Wasser von außen nicht weit – mehr als der halbe Planet besteht, zumindest außenherum, aus Wasser, aber genau das ist der Punkt. Alles Wasser, das wir kennen und das uns nützt, ist irdisch: mit Erde verbunden, aus der Erde kommend, von ihr getragen und sie bedeckend oder beregnend. Davon nicht betroffene Gebiete nennen wir Wüste. Worauf ich hinauswill: Wasser ist kein Widerspruch zu Erde, sondern ein Teil derselben. Uruz ist Erdkraft und hier darf das Wasser sich mitgemeint fühlen (zumal es ja später noch eine Extrarune kriegt: Wichtig genug ist es). Notfalls haben wir ja noch die Nieselregen-Deutung.

Worauf ich außerdem hinauswill: auf dich und die Erde, die Planetin und dich – auf dich dort. Hier auf dem Boden der Tatsachen und der physikalischen Verhältnisse. Die spielerische Übung, das Bild der wildschönen schwarzen Auerochs-Urtiere auf die eigene innere Vitalität zu übertragen, hat ja schon ganz gut geklappt, oder? Jetzt empfehle ich eine weitere Übertragung oder auch Verbindung: die zwischen dir und Mama Globus. Was unterscheidet uns von Mutter Materie? Sie ist eindeutig größer. Als du oder ich, und zwar sehr (obwohl oder weil wir ja auch Teile von ihr sind). Das ist gut so. Ich laufe lieber auf dem schönsten Planeten herum, den ich kenne, als dass ich selber einer wäre für irgendwelche Geschöpfe, die auf mir herumliefen, -kröchen, -sprängen, wuselten und rollten und für die ich Mutter spielen müsste, Trägerin, Lebensspenderin und -nehmerin, Ernährerin, Richtungsweiserin durch meine allgegenwärtige Schwerkraft und ihre verbindlichen Regeln. (Andererseits: Für meine Bakterien und Mikroben – oder was da auch an, auf und in mir herumkreuchen mag an Kleinstlebewesen – bin ich ja vielleicht genau das…)

Auch was uns hier verbindet – oder: was uns hier auch verbindet – ist Körperlichkeit. Dein Körper auf dem der Erde… Was glaubst du denn, wo deine Kraft herkommt? Geh mal runter von der Leitung, dann merkst du vielleicht, dass du direkt auf dem Akku stehst. Es ist der deine, das heißt: Er hat Energie für uns alle, also auch für dich. Gerade, wer sich geistig beschäftigt – und zumindest, wer mein Runenbuch liest, kann die nämliche Anforderung nicht ganz von sich weisen –, braucht so genannte Erdung. Was ist das? Die Erinnerung daran, wo unten ist, und das ist genau dort, wo die Kraft herkommt: die der physischen Präsenz. Ich weiß das am besten, weil ich das erst lernen musste. Ich bin nämlich ein ganz hibbeliger Typ und, hätte ich mir nicht götterseidank so eine erdige, diesseitsbezogene Religion eingefangen und aufgebaut, wäre ich schon längst davongeflogen wie ein Luftballon – hoppla, ja, zugegeben, mein Körper hätte mich daran gehindert. Aber ist es nicht um so angebrachter, ihm deswegen etwas Respekt und Dankbarkeit zu zollen, anstatt ihn zu schmähen, zu negieren oder gar überwinden zu wollen, wie es so manche leibfeindliche, nur das Höchstgeistige erstrebende Lehre predigt – als wären Sitz, Wohnstatt und voraussetzende Umgebung all solcher Geistigkeit nur zusammengepappter Dreck? Derart schmalgleisigen Verherrlichungen folge, wer‘s mag und braucht (aber lasst mich in Ruhe damit – ich bin bekennendes Mösenkind, von einer blutenden Mutter geboren und auf der größten von allen, der Allunseren, wandle ich mit Freuden und in jubelnder Andacht) – ich brauche eher Erdung und die immer wieder. Gerade weil mein Geist so gern fliegt – und mein Herz sich allzu leicht hinterherwirft und sei es wegen eines Lächelns, das vielleicht gar nicht mir galt (oder nur dem Bild, das jemand in mir sehen wollte). Da reicht mir mein Körper nicht als Trägheitsgarant, da will der Geist dran erinnert werden, dass er durch Materie in Materie lebt und das Herz – nun, meins genas schon an der Erde, der nackten Krume, dem grünen Gras, benetzt vom Tau eigener Tränen, wenn‘s sein sollte und durfte – und ja, es darf immer. Womit wir schon wieder bei der Nässe wären. Aller Anfang ist feucht, die meisten Wege auch und das Ende vermutlich nicht minder. Sie scheint halt nie weit weg zu sein vom Irdischen. Lass es nieseln. Am Ende kannten sie den Regen ja auch samt Pfützen, Sumpf und Tau – all die schwarzen Auerochsen, wenn sie in Herden über die ureuropäische Savanne steppten, dass es bebte und donnerte noch im nahen Wald. Lass deine innere Aueröchsin beben! Oder wenigstens dein ureigenes Auerkalb! Es möchte wachsen. Führ es aus, lass es raus. Lass es grasen – und tanke Kraft. Ihr bewohnt denselben Akku.

„Ich will den Fuchs und den Luchs und das Wisent zurück. Ja, ich will die europäischen Büffel zurück.

(…)

Tot liegt die Maus vorm Monitor – in allen Windows soll es zieh‘n!

Und die Gene der Gen-Bastler können zum Nidhöggr gehn…

Durch unsere grau gewordenen Zellen lasst ein rotes Mammut zieh‘n.“

(„Thors Wiederkehr“, 1992)


Bildstein, Öland, Schweden

Das Lied der Eibe

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