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GÖTTLICHES GEFÜGE

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Das großräumige Chaos, das die durch Thurisaz ausgedrückten Entladungskräfte hinterließen, kann nun in eine sinnvolle Struktur gebracht, gewissermaßen „aufgeräumt“ werden. Sowohl diesen Vorgang als auch sein Ergebnis repräsentiert die Rune Ansuz. Sie steht für die „kosmische Ordnung“… Ließe sich so sagen – wenn dieser Begriff nicht fest in die Wertekategorien einander widersprechender Weltsichten eingebunden wäre, die jeweils ausschließliche Deutungshoheit beanspruchen. Nun will und kann ich niemanden, der oder die nicht daran glaubt, von der Existenz irgendwelcher Gottheiten überzeugen – es ist nur so, dass die Rune Ansuz das altgermanische Wort „As“/„Asa“ im Wortstamm trägt, mithin „Gottheit“ bedeutet. Einigen wir uns darauf, dass die Vorgänge im für uns wahrnehmbaren Universum gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, auch wenn wir uns nicht alle vollständig erklären können? Nichterklärbarkeit ist allerdings ein für Menschen schwer aushaltbarer Zustand. Unsere Wahrnehmung – als alles, was wir haben – ist von Natur aus auf überlebensdienliche Orientierung angelegt. Diese zu gewährleisten, ist dem menschlichen Großhirn jedes noch so verrückte Mittel recht. Darin liegt der Grund, dass wir nichts Sinnloses ertragen: dass wir in tanzende Schatten an der Wand lebende Figuren hineindeuten oder in mehr oder minder unerklärlichen Erscheinungen Götter oder Schicksalsgefüge am Wirken wähnen – oder Zeichen im Flug der Vögel lesen – oder auch nur einfach verstümmelte Wörter reflexhaft vervollständigen im Geist, ob die Ergebnisse stimmen oder nicht. Wir machen sie schon stimmig! In alles einen Sinn hineinzudeuten, ist keine menschliche Marotte, sondern tief im Überlebenstrieb verankerter Impuls. Wir alle stammen von denjenigen Urmenschen ab, die den Busch zehnmal für einen Bären hielten und sich neunmal dabei täuschten.

Können wir heute über die Ordnung der Welt sprechen, ohne eine bestimmte Weltordnung daraus abzuleiten?

Traditionell ist beides verknüpft. Praktischerweise eignet sich Ansuz auch zum Lösen von Fesseln. Dem gilt meine Rede hier. Die Rune repräsentiert das Bewusstsein, das Geistige – was dessen Entstehung aus dem Unbewussten, nämlich aus der der Bewusstheit vorgeordneten Weltdeutungsstruktur, impliziert. Genau diesen Vorgang beschreiben die nordischen Mythen mit Göttern und Riesen. Geisteshöhe ist es auch, was uns Menschen als Art auszeichnet: Sie ist unser spezieller Zahn, unsere besondere Klaue, unsere Eigenart. Uns reicht nie das Wissen, wie etwas funktioniert, wir fragen immerzu nach dem Warum. Jede Religion hat ihre eigene Antwort darauf und legt sich entsprechend fest – was genau genommen der menschlichen Neugier ein Stück weit widerspricht und ihre Rastlosigkeit provoziert. Vielleicht sind daher viele Mythen so blumig und versponnen: Wahrscheinlich waren sie am Anfang ganz einfach, dann wurden ihren Erzählerinnen Löcher in die Bäuche gefragt, bis sie es mehr und mehr ausschmückten… Aber irgendwann war der Mythos zur Religion verhärtet und ließ keine Fragen mehr zu, außer die wenigen, deren Antworten schon feststanden. Im Christentum hat das über eineinhalb Jahrtausende hindurch funktioniert. Aber nichts ist für immer. Keine Antwort als endgültig zu akzeptieren, sondern ewig weiterzufragen, wagt nur die Wissenschaft. Damit ist sie weit gekommen. Sie macht uns ziemlich mächtig – hinterlässt uns allerdings eher trostlos. Bei aller noch so findigen Erklärung der verborgensten Geheimnisse von Mikro- wie Makrokosmos bleibt sie letzte Antworten schuldig. Jedes Warum, Wie und Woher lässt sich herausfinden – nur nicht der Sinn dahinter. Was es soll! Aber welches Fernrohr, welches Mikroskop – ja, welcher Maßstab überhaupt – sollte das erfassen können? Allein aus der Tragik der Geschichte rührt das unsinnige Verlangen, die Wissenschaft möge uns mit ihren ganzen ebenso minutiösen wie genialischen Berechnungen auch gleich den Sinn fürs Ganze mitstiften. Ob sie will oder nicht – dieses letzte Refugium muss sie der Spiritualität überlassen.

Naturwissenschaften und Religion gelten seit jeher als unvereinbare Gegensätze, die einander unversöhnlich gegenüberstehen: hat sich die Kirche doch mit aller Gewalt dagegen gewehrt, ihr viele Jahrhunderte altes Welterklärungsmonopol zu verlieren. Und dass sie es nur verlieren oder behalten könne, weil es ja nur eine Wahrheit geben darf, die alle anderen ausschließt – diese dogmatische Denkart wurde nie angezweifelt, sondern von der Wissenschaft übernommen. Davon hat sie sich, aller Rebellion gegen den Klerus und ihres aufklärerischen Sieges zum Trotz, nie ausreichend befreit. Wie Kleriker können auch viele Wissenschaftler keine andere Wahrheit neben ihrer Weltsicht dulden. Die kennt nur die Kategorie „Entweder – oder“. Und woran wir auch glauben oder wovon wir überzeugt sein mögen: Die Dominanz dieser nur schwer hinterfragbaren, weil vollständig verinnerlichten Denkweise hält unser aller Vorstellungsvermögen in Beugehaft.

Auf die Lebensgewohnheiten einer, sagen wir, Familie übertragen, entspräche solches Ausschließlichkeitsgerangel der Idee, in jedem Zimmer immer nur ein einziges Möbelstück (oder sogar nur eins im ganzen Haus!) akzeptieren zu können, das Aufstellen eines Fernsehers also mit dem Hinauswurf des Sofas zu beantworten oder sich bereits zwischen Tisch und Stuhl entscheiden zu müssen, da diese Dinge ja unterschiedliche Eigenschaften aufwiesen, die sich nicht vertrügen. Entweder – oder! Auf den arglosen Ausruf: „Hey, hübscher Pullover! Steht dir gut!“ – das stumme Erschrecken des/der Angesprochenen: „Auweh – was hat dieser Mensch nur gegen meine Hose?“ Entweder – oder! Reich oder glücklich? Schwarz oder Weiß? Tod oder Leben? Freund oder Feind? Sieg oder Niederlage? Mann oder Frau? Im Grunde lügen die Fragezeichen: Rufzeichen sind es alle! Befehle! Erfolg in der Liebe – oder im Beruf? Als ginge nicht beides – und als gäbe es nicht zwischen all diesen extremen Eindeutigkeiten das breite Band des Lebens… mit all seinen Vielschichtigkeiten, Mischungen, munteren Widersprüchen und dynamisch-explosiven Labilitäten. Nix gibt's, befiehlt die Denkdoktrin: entweder – oder! Die Inhalte sind natürlich beliebig und lassen sich jederzeit manipulativ aufladen: gnadenlose Märkte oder Staatswillkür? Heilige oder Hure? In Freiheit vereinsamen oder in Geborgenheit ersticken? Wir oder die, sie oder ich, ich oder du? Meine beschissenen Bedingungen annehmen oder rostige Gabel in den Bauch? Na, geht doch! Das Muster dualistischen Entscheidungszwangs ist tiefer in unsere Gemüter gefurcht als der Marianengraben in den pazifischen Ozeanboden – fast unmöglich, sich irgendein annehmliches Szenario vorzustellen, ohne dass sogleich ein Relativierungsgespenst mit hochgeschossen kommt, das auffällig nach Bestrafung riecht – wahrscheinlich das christliche Pendant für kosmischen Ausgleich… Und da es sich nicht beschränkt auf AnhängerInnen des one & only (sic!) Erlösergottes, sondern ebenso in den Köpfen von AtheistInnen und VerfechterInnen beliebiger Welterklärungsmodelle herumspukt, solange diese nur von selbigem Kulturkreis geprägt sind, nenne ich das kategorische Phänomen sittenchristlich: ein Denk-, Fühl- oder Reaktionsmuster, das christlicher Konditionierung vorangegangener Generationen entstammt und heute immer noch so stark (womöglich ungebrochen) fortwirkt, dass es individuell keines christlichen Bekenntnisses oder Bewusstseins bedarf, ihm ausgeliefert zu sein und zu bleiben. (Typischerweise wird es gerade von religiös oder spirituell eher Desinteressierten besonders leicht übersehen: die ihre Denkweisen und Gefühlsreaktionen oft schlicht für „normal“ halten und keine Ahnung von deren tief religiösen Herkünften haben.)

In der Hinsicht benimmt sich – bei aller sonstigen Unvergleichbarkeit der Ansprüche und Methoden – Wissenschaft nicht anders als beliebige offenbarungsreligiöse Glaubensmodelle. Wie jene beanspruchen diese Ausschließlichkeit, ertragen keinerlei „andere Götter“ neben sich. Von den Religionen sind wir schon Schlimmstes gewohnt: Krieg zwischen den Welterklärungsmodellen – mit allen Mitteln, was gewaltarme mit einschließt, ohne sich auf solche zu beschränken. Gelegentliche Vereinbarungen über zeit- oder teilweisen „Waffenstillstand“ ändern nichts an der gegenseitigen Feindseligkeit. Diese ist Bestandteil des Denkmodells: Wer nur eine Wahrheit als „einzige“ anzuerkennen vermag, sieht sich zwangsläufig umringt von Lügenbolden, Ungläubigen und falsch Informierten. Spätestens, wenn jene auf ihren Ansichten beharren, werden sie für Inhaber des einzig wahren Wasauchimmers zur Bedrohung. Ihre schiere Existenz fordert ihre Vernichtung heraus. Die wird – im Extremfall fanatischer Zuspitzung, immer aber unabhängig von Glaubensinhalten (die problemlos in völligem Widerspruch dazu stehen können) – zur Handlungsmaxime der Gläubigen. Die Gnadenlosigkeit fanatischer Offenbarungsreligiöser findet im Säkularen ihre Fortsetzung mit der (gern zusätzlich beschworenen) Unaufhaltsamkeit des technisch Machbaren. Hier sind weniger Andersdenkende der Feind, sondern vielmehr alles, was noch Zeichen von Restwildnis trägt. Also sprach die Fabrik: Es soll keinen Regenwald geben neben mir.

Dabei müssten spirituelle und wissenschaftliche Sichtweise so wenig miteinander konkurrieren wie ein Fahrrad mit einem Containerschiff. Beide dienen der Fortbewegung, werden aber in höchst unterschiedlichen Umgebungen eingesetzt und transportieren dort jeweils andere Sachen. In mehr als einer Hinsicht verfolgen sie unterschiedliche Ziele, auf die sie jeweils spezialisiert sind. Das Fahrrad kommt beim Bewegen von Frachten rasch an seine Grenzen, mit einem Containerschiff lässt sich weder ins Grüne rausfahren noch zum Supermarkt um die Ecke. So lässt sich Wissenschaft zwar auch spirituell betrachten wie Spiritualität wissenschaftlich untersuchen – die Ergebnisse der einen Disziplin lassen die Fachleute der anderen aber gewöhnlich unbefriedigt: weil das eine eben keine Erklärung für das jeweils andere ist. Sie sind nicht geeignet, einander zu ersetzen. Sie könnten sich ergänzen. Dazu müssen sie lernen, sich gegenseitig leben zu lassen. Das geht ganz leicht. Mit dem Erkennen ihrer jeweiligen eigenen Grenzen wird klar, dass sie sich erst gar nicht groß ins Gehege zu kommen brauchen. Wie wäre es damit: Wissenschaft untersucht das messbare Wie und Warum, Spiritualität erfühlt das nicht mehr rational erklärbare Wofür. Doch während die Gesetze der Physik für die ganze kohlenstoffliche Welt gelten, kann Spiritualität nur persönlich erfahrbar sein – was naturgemäß mehr Formen, Farben und Varianten hervorbringt als beispielsweise der Auftrag: Zeichne ein Tier! (Der Vielfalt etwas näher käme die Aufforderung: Zeige irgendetwas mit künstlerischen Mitteln…!) Das setzt natürlich das Akzeptieren jeglicher Wahrheiten voraus, die alle gleichzeitig gelten dürfen, obwohl sie sich nominell widersprechen. Aber es ginge, es geht ja nicht um Rationales! Nicht im Spirituellen. Das dient ja gerade der Auflösung dieser Grenzen. Der Befreiung von ihnen! (Genauer: der Befreiung des Geistes aus seiner Enge – denn die Grenzen des Kausaldenkens sind ja nicht schädlich – außer, der Geist bleibt an ihnen kleben… In die Transzendenz muss er schon hinaus!) Nur Missionierung sperrt, als Feindin jeder Freiheit (und damit der Menschlichkeit an sich), die Vorstellungskraft wieder ein – und macht alles schlimmer als zuvor. Bleiben wir im Bild von soeben: Zeichne ein Tier!

Missionierung sorgt dafür, dass alle möglichst die gleiche Kuh zeichnen, und zwar in einer bestimmten Haltung und Farbgebung und natürlich auch mit einer bestimmten Art von Stift. Die Kuh darf nicht andersherum stehen und auf keinen Fall darf ein Pferd daraus werden oder gar ein Rhinozeros oder anderes Einhorn. Gelobt wird nicht ein neuer Einfall, der ist verboten, und auch nicht die schönste Umsetzung des Verlangten (denn die sprengte ja schon wieder das Maß), sondern das gehorsame Bemühen, der Vorgabe zu folgen. Missionierung bedeutet, jedes Herz in eine Uniform zu zwingen, die ihm obendrein zu klein ist. Die daraus resultierende seelische Verkrüppelung nötigt die Betroffenen, sich in alle möglichen Abhängigkeiten zu begeben, solange sie diese nur irgendwie als eine Prothese für etwas erfahren, wovon sie gar nicht merken, dass es ihnen fehlt, weil sie es nie spüren, geschweige denn wachsen lassen durften: ihr inneres heiles Selbst.

Zur Anerkennung mehrerer (bis hin zu theoretisch unendlich vielen) Wahrheiten ist nicht so sehr jene angestrengte Toleranz nötig, deren zweifelhafte Haltbarkeit sich bereits übers Zähneknirschen verrät, als vielmehr die Einsicht, dass unterschiedliche Sichtweisen nichts anderes als spezialisierte Werkzeuge zur Wahrnehmung möglicher Wirklichkeit/en sind – oder sich zumindest so einsetzen lassen: vielleicht nicht alle, aber viele. Es geht ums Prinzip. So wie Menschenaugen ein anderes Bild der Umgebung vermitteln als Infrarotfilter, Nachtsichtgeräte oder eine Hundenase (um beliebige Beispiele zu nennen), lässt sich doch ein- und dieselbe Natur sowohl unter wissenschaftlichen als auch spirituellen Aspekten betrachten… Die Methoden müssen nicht konkurrieren, sondern dürfen sich ergänzen – und dass sie untereinander inkompatibel sind, erleichtert stringentes Arbeiten. Das Ergebnis erst braucht Vermischungen zuzulassen, die dann zum persönlichen „Gesamteindruck“ führen.

Religiosität und Spiritualität lassen sich als Begriffe zwar sinnvoll auseinanderdividieren, zum Beispiel dahingehend, dass das Religiöse den ausgeformten, tradierten Kult bezeichne, während Spiritualität den individuellen Bezug meine – beide jedoch dienen (hier ganz wertfrei gesehen) dem Erklären der Welt: jener Teile, deren der Verstand, wenn er sich auch noch so bemüht, nicht Herr wird. Selbst eher Kind der Aufklärung als religiöser Glaubenssätze, habe ich mich, ohne diese Wurzeln geringschätzen oder gar kappen zu müssen, vom rationalistischen Dogma der Herrschaft des Verstandes längst verabschiedet. Das bedeutet nicht, ihn mit dem Opfermet ausschütten zu müssen. Meinem Verstand (den ich gern benutze – ich lasse ihn sogar trainieren und verschiedentlichen Sport treiben: in Debatten, beim Philosophieren oder beim kritischen Aufdröseln von Nachrichten einschließlich der Frage, warum ich diese Nachrichten bekomme und nicht andere) habe ich lediglich einen Platz zugewiesen, wo er mir dienen kann, anstatt mich zu tyrannisieren. Achtung, nur bedingt zur Nachahmung empfohlen: Es kann sein, dass sich dieserart keine Karriere machen lässt (da ich nie wirklich eine anstrebte, weiß ich nicht, was unabdingbar dafür wäre)! Es macht wesentlich glücklicher, im Zweifelsfall dem Ruf des Herzens zu folgen. Was nicht heißt, dass das besonders leicht ginge oder verlustfrei. Möglicherweise ist es hier und da sogar schmerzhafter. Dafür tragen die möglichen Höhenflüge tatsächlich bis in Bereiche, wo sich deine Persönlichkeit anfängt zu verändern. Kein Muss: Es kommt nur darauf an, was du anstrebst und zulässt. Dort aber geht es bis zur Bewusstseinserweiterung. Darunter verstehe ich, mir des eigenen Bewusstseins so intensiv bewusst zu werden, dass ich den Atem der Großen spüre: weil ich der Auffassung bin, dass das Bewusstsein von ihnen kommt. In gewisser Weise sind sie es selbst, verstehst du?

Was die schöne Ansuz so ganz nebenbei – für mich – zur idealen Schutzrune macht: Wer oder was könnte mich besser schützen als das Vertrauen in diejenigen Großen, mit denen ich im Bunde bin? Woran auch immer du glaubst, Mensch: Du brauchst das Vertrauen, dass sich dein Vorhaben irgendwie ausgeht, dass es gutgehen wird. Wo das fehlt, hast du Angst. Was ist Angst? Gefühlte Götterferne! Du meinst dann, alles aus eigener Kraft bewältigen zu müssen, und was ist aber, wenn… dies und das schiefgeht? Es geht keineswegs nur ängstlichen Menschen so, dass auf einen kleinen Zweifel hin plötzlich eine Angst sich auf die nächste türmt – und das eigentlich unproblematische Vorhaben zunehmend zur Unmöglichkeit gerät. Gib dich den Ängsten hin, dann wird mit der Zeit aus der gefühlten Götterferne tatsächlich Pech: die Abwesenheit von Segen. Wenn ein Missgeschick zum nächsten führt bis zur womöglichen FeNäKe (Fettnäpfchen-Kettenreaktion): peinlich für alle Betroffenen (außer für zu viele amtierende BerufspolitikerInnen, aber bleiben wir bei halbwegs appetitlichen Themen)… Ein pragmatisch gutes Mittel gegen Ängste ist, sie in kleinere zu zerschneiden: Die meisten sind ohnehin nur Aufbauschungen, die aus lauter Bewältigbarkeiten bestehen – wenn sie erst wieder auseinandergedröselt sind. Hier kann ein kritisch-beherzter Verstand gute Dienste leisten! Der nächste Schritt wäre dann, das Vertrauen zurückzugewinnen ins eigene Geschick. Das geht wiederum spirituell am besten. Mach dir klar, dass dein Geist nicht alleine ist – sondern Teil von etwas viel Größerem. Dein Geist ist mit dem deiner Großen verbunden – wer immer sie sind für dich. Was denkst du, woher du ihn hast? Was meint dein Wasserglas, woher es so halbvoll, halbleer oder wenigstens nass sei? Erzähl ihm mal die Geschichte vom Ozean oder wenigstens die vom Wasserhahn… Was immer du je verspürtest an Göttlichkeit – es ist da. So, wie die Sonne auch dann vorhanden ist, wenn Wolken sie verbergen – oder wüstes Wetter den Eindruck erweckt, es hätte nie einen Sonnentag gegeben. In Wirklichkeit gäbe es das Wetter gar nicht ohne den Glutball, den wir umkreisen, den Stern unseres Planetensystems: unsere liebe Sonne. Sie ist nur gerade nicht zu sehen. Das, was von ihr zu sehen ist, wenn sie sich zeigt, ist nur ihr geringster Teil. Aber wissen wir nicht mehr über sie, fühlen wir nicht mehr von ihr? Für die übrigen Göttinnen und Götter und großen Wesenheiten gilt dasselbe.

Womit wir wieder bei der Rune wären: derjenigen, die überhaupt Bewusstsein bedeutet. Niemand weiß, woher es kommt. Es war nicht immer da und wird daher vermutlich nicht ewig währen – aber es kämpft um sein Überleben: immer. In jeglicher Hinsicht und auf allen Ebenen. Es ist das göttliche Prinzip. Menschen haben zwei baugleiche Hirnhälften. In der „dominanten“ Hälfte (bei Rechtshändigen links, bei Linkshändigen rechts oder links) befindet sich das so genannte Wernicke-Zentrum. Das ist der Teil, der uns zum Verstehen und Verarbeiten von Sprache befähigt. Im entsprechenden Teil der gegenüberliegenden Hirnhälfte wird, ich sage es mal verkürzt, das Irrationale verarbeitet. Zum Beispiel die Musik. Zum Beispiel der rettende Einfall. Zum Beispiel die Stimmen der Götter. Jetzt stell dir vor: Die beiden Hälften sind verbunden und es herrscht reger Austausch zwischen ihnen. Es geht ganz einfach. Zeichne oder ritze einen senkrechten Strich, an sein oberes Ende setze einen kurzen Schrägstrich nach unten an, gib dem eine Parallele in der oberen Hälfte des Hauptstriches: Dies ist die Rune Ansuz. Imaginiere dieses Zeichen für Frieden zwischen deinen Hirnhälften. Solch ein Frieden begünstigt das Denken wie das inspirierte Fühlen gleichermaßen. Er befördert die Kommunikation – das richtige Wort zur rechten Zeit, die zündende Rede, die treffende Aussprache – bis in ihre höchsten Formen: Dichtung und Gesang. Selbstverständlich ist „das Göttliche“ auch Quell aller Inspiration, jeglicher Idee, jeden Einfalls. Der uralte, ewig von Sterblichkeit bedrohte Triumph des Geistes über das Unbewusste steckt darin – und schwingt noch wortwörtlich in den Begriff der „Begeisterung“ hinein, der jene freudige Beseeltheit ausdrückt, die nicht nur das Gemüt erhellt, sondern meist zusätzliche Gedanken sprühen lässt: Eine Idee kommt niemals allein, sie sucht stets Gesellschaft.

Mich begeisterte diese: Spiritualität als persönlicher Entwicklungsauftrag. Keinerlei weisungsbefugtes Bodenpersonal. Wo geht‘s lang? Immer der Eingebung nach! Und wenn keine da ist? Dann trommle ich mir eine oder tanze – wenn dir das nicht liegt, such dir deine eigenen Methoden. Nachmachen ist Zwischenschritt, Eigenbau besser. Keine Gottheiten, an die ich „glauben“ müsste – dafür welche, denen ich begegnen kann. Die einen sind in physischen Entsprechungen präsent – Erde, Sonne, Mond… – andere verkörpern sich in Zuständen – Sinnlichkeit, Fülle, Liebe, Erlaubnis – alle leben sie in Gefühlen. Meinen. Ja, die meisten ihrer Namen habe ich aus der Edda, wo ich auch die ersten Beschreibungen las, was diese Großen anstellen oder was mit ihnen anzustellen sei. Aber dort konnte ich sie unmöglich lassen. Ihr Ruf zog mich in ihre Welt – so zog ich ihre Beschreibungen in meine. Zudem zeigten sich die Großen mir nicht nur in diesem oder jenem Buch. Rückblickend verwundere ich mich fast, dass ich sie zwischen jenen engen Zeilen überhaupt entdecken konnte. Aber ich hatte wohl einfach die Nasenspitze nah genug dran gehabt. An der ergriffen sie mich und zogen mich mit Schwung nach draußen: dorthin, wo Regen stürmt und der Boden matscht. Wo die Sonne gleißt und Wolken sich türmen. Wo Dornen kratzen, Insekten nerven und der Kompass streikt – und mir auf einmal der Kiefer runterhängt auf der Lichtung. Wo ich alles vergesse, was ich gelernt habe. Um etwas ganz anderes zu erfahren.

„Es war kalt. Ich ging in die Hocke, griff der Kruste ins harsche Weiß. Der Schnee schockte mir die Hand nass. Ich tat mir die Kristalle auf die Wangen, flüssige Kälte lief mir den Hals hinab wie ein Gebirgsbach. Als ich aufschaute, stand ein Mädchen auf der Lichtung. Ihr vielleicht zwölfjähriges Lächeln war todernst, doch aus ihren Augen sangen vergessene Zeitalter. Ich erinnere mich nicht, was sie anhatte, denn mein Blick fiel immer wieder links und rechts auf ihre schmalen Hände. Die kraulten ruhig und zärtlich die Nacken von zwei silbergrauen Wölfen. ‚Du weinst ja‘, sagte sie. ‚Nein‘, sagte ich. ‚Es ist nur das Eis, das schmilzt.‘“

(„Das Lächeln des Eises“, 1994)

Das Lied der Eibe

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