Читать книгу Meines Vaters Straßenbahn - Eberhard Panitz - Страница 8

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Wir hatten längst das Frankfurter Tor hinter uns gelassen, die Hochhäuser mit den runden Türmen, die abends angestrahlt wurden, Berlins Pracht aus den fünfziger Jahren. Auch mein Vater schien dafür blind zu sein und rief nicht einmal die Haltestellen aus, was er in Dresden niemals versäumt hatte. Bei guter Laune wies er Fremde auf Sehenswürdigkeiten hin: »Die Katholische Hofkirche, das Schloß mit dem Fürstenzug, einhundertundzwei Meter lang, auf Kacheln original Meißner Porzellan.« Er erzählte mir die komischsten Geschichten von der alten Stadt, an die er offenbar selber glaubte: »Die Kuppel der Frauenkirche ist aus Quark gemauert, weil es früher noch keinen Mörtel gab. Und August der Starke fuhr im Sommer mit dem Schlitten vom Schloß nach Moritzburg, sechzehn Kilometer, überall war Salz gestreut.« Er zeigte mir die Stelle im Geländer der Brühlschen Terrasse, die einem Daumenabdruck ähnlich war. »Da hat der König kurz draufgedrückt, als er einmal hier stand.« August habe dreihundertsechzig Kinder und so ungeheuer viel Kraft gehabt, daß er mit der linken Hand einen Trompetenbläser, mit der rechten einen Trommler zum Fenster hinausstrecken konnte. »Die mußten trompeten und trommeln, und er freute sich, wenn die Leute vorm Schloß zusammenliefen und ›Hoch lebe der König‹ riefen.« Den letzten König hatte Vater noch selbst gesehen, in einem einfachen Anzug und offenen Auto, das hatte man nach dem ersten Weltkrieg erst beschlagnahmt, dann aber freigegeben, damit der Monarch schnell und ohne Aufsehen verschwinden konnte. Vater wies auf die zerschossenen Sandsteinmauern des Dresdner Blockhauses am Neustädter Markt, wo sich in den Revolutionsjahren heftige Kämpfe abgespielt hatten. »Zeiten waren das«, sagte er, »es ging alles drunter und drüber, nur die Straßenbahn und ich blieben immer im selben Gleis.«

Nun setzte er sich zu mir, ohne vorerst weiter darauf zu dringen, daß ich das Fahrgeld bezahlte. Er holte sich aus der Uniformjacke einen Apfel, den er mit dem Messer schälte, zerschnitt und gerecht mit mir teilte. Auch das hätte er früher nie unterwegs auf einer Fahrt riskiert, nicht einmal in einer leeren Bahn. Nur an der Endhaltestelle ließ er es sich schmecken, am liebsten auf der Bank unter der Eiche am Wilden Mann, wo ich manchmal auf ihn wartete, wenn die Schule zeitig zu Ende war. Er fragte mich nie nach Schulaufgaben oder was ich gelernt hatte. Niemals brauchte ich ihm Hefte vorzulegen oder etwas auswendig Gelerntes aufzusagen. »Weißt du, diese Lehrer wissen gar nicht, was Arbeit heißt, und haben trotzdem die längsten Ferien«, sagte er, »diese Sesselfurzer!« Jeden, der in seinem Beruf nicht von früh bis spät auf den Beinen war, ließ er seine Verachtung spüren, sogar den freundlichen Herrn Pietzsch aus unserem Haus, einen Buchhalter, der im Winter den Schnee von der Straße schippte. »Weil der eben Bewegung braucht, sonst verkalkt der total«, sagte Vater und lachte sich ins Fäustchen, wenn die Schippe oder der Schaufelstiel brachen; er dachte nicht daran, ihm zu helfen. Noch weniger gut war er auf die Leute von Arbeitsfront, SA oder Partei zu sprechen, die er niemals grüßte. »Bonzen«, flüsterte er mir zu, »darfst du aber nicht laut sagen, weil die gefährlich sind.« Tiefer weihte er mich nicht in seine Urteile und Vorurteile ein. Er saß mit mir auf der Bank und sagte: »Pst!«, wenn ein Vogel zwitscherte. Außer seiner Dienstpfeife hatte er noch ein kleines, rundes Pfeifblättchen, das er zwischen Zunge und Zähne schob, um Vogelstimmen nachzuahmen. Er konnte damit trällern, meckern und sehr komische Laute hervorbringen, ohne daß man´s ihm ansah. Sobald jemand vorüberkam, den er nicht leiden konnte, zwitscherte er schrill und nervtötend, sah wie verträumt ins Blätterdach der Bäume hoch, doch beobachtete genau und ahmte später nach, wie sich die »Bonzen« und »Sesselfurzer« benahmen.

Einen von Mutters Brüdern, den Leipziger Onkel Hans, konnte mein Vater auf den Tod nicht leiden, weil er mit Figuren und Reliefs aus einer merkwürdig riechenden Kunststoffmasse handelte: Soldaten im Kampf, SA-Männer auf dem Marsch, bekannte Jagdflieger und U-Boot-Kommandanten und Hitlerjungen mit wehenden Hakenkreuzfahnen, alles braungefärbt. »Dieser Dieb und Halunke, jetzt macht der solchen Mist zu Geld«, sagte er zu Mutter und geriet heftig mit ihr aneinander. Sie entgegnete: »Sei still!« und verbat es sich, so von ihrem Bruder zu sprechen, noch dazu in meiner Gegenwart. Der Hans habe es schwer genug im Leben gehabt und endlich einen festen Halt gefunden. »Du hast ja keine Ahnung«, ereiferte sie sich, »wie schwer es ist, nach einem Fehltritt in der Jugend wieder hochzukommen.« Am Abend, hinter der angelehnten Schlafzimmertür, hörte ich, daß der Streit noch lange weiterging. Denn Mutter wollte das mit dem »Dieb und Halunken« um keinen Preis auf ihrem Bruder sitzenlassen. Sie behauptete, ihn besser zu kennen als jeder andere Mensch auf der Welt, er habe nie Schlechtes getan, nur immer Pech gehabt, alles sei nur eine unglückliche Verkettung von Umständen gewesen, aus der er sich endlich gelöst habe. »Wäre er denn der erste, den sie unschuldig eingesperrt hätten?« rief sie empört. »Du kümmerst dich um nichts, liest keine Zeitung, hörst keine Nachrichten, redest mit niemandem, der was zu sagen hat, sondern rümpfst nur die Nase, wenn dir was nicht paßt.« Sie schwor darauf, daß ihr Bruder die Schmucksachen und Pelze damals nicht aus der Altstädter Villa gestohlen habe, wie es ihm vorgeworfen worden war. Es habe zwar alles gegen ihn gesprochen, und die Polizei sei auch kurz danach auf seine Spur gekommen, weil das Dienstmädchen, eine dumme Göre, mit der er verlobt war, etwas von einem verschwundenen Schlüssel und einer Verabredung gefaselt habe, wodurch sie angeblich aus dem Hause gelockt worden wäre. Aber Hans behauptete, auch später in seinen Briefen an die Familie und unzähligen Gnadengesuchen, er habe nie einen Schlüssel gehabt und nie diese Villa betreten, nur am Gartentor auf das Mädchen gewartet, als ein Mann kam, der ihm einen Koffer zur Aufbewahrung gab, um schnell etwas zu erledigen. In diesem Koffer, den Hans mit heimnahm, weil der fremde Mann nicht wiederkam, fand dann leider die Polizei das Diebesgut. »Dieses alte Märchen!« rief Vater, lachte und brachte Mutter noch mehr in Harnisch. »Und wenn´s wahr ist?« entgegnete sie aufgebracht. »Warst du dabei? Ich habe ihn schließlich im Gefängnis besucht und seine Briefe gelesen, ich leg´ für ihn die Hand ins Feuer, damit du´s weißt.« Aber Vater blieb bei seiner Meinung und behauptete: »Wenn der Hans nicht Nazi geworden wäre, säße er immer noch im Knast oder schon wieder, das redest du mir nicht aus. Unkraut verdirbt nicht.«

In Sprichwörtern war Vater groß, er freute sich und lachte lauthals darüber, wenn er glaubte, das Passende zu einer Situation gefunden zu haben. Als junger Mann, bei irgendeinem Gartenfest mit Tanz, wo er Mutter kennenlernte, erregte er Aufsehen durch seine Sprüche, mit denen er um sich warf. Er verblüffte und blendete sie damit und machte auf sie den Eindruck eines gebildeten, witzigen Menschen. Dazu war er hübsch, adrett gekleidet und ein guter Tänzer, so daß sich alle Mädchen um ihn rissen. Es dauerte ziemlich lange, bis Mutter die vielen Nebenbuhlerinnen ausgestochen hatte; da war sie freilich dahintergekommen, wie klein der Vorrat seiner Aussprüche war. Trotzdem heiratete sie ihn, ein Kind war nämlich unterwegs, er wiederholte nur immer: »Kommt Zeit, kommt Rat«, lachte und brachte es schließlich zuwege, daß sie es wenige Tage vor der Hochzeit wegbringen ließ. »Sonst hättet ihr noch eine Schwester gehabt, man konnte nämlich schon erkennen, daß es ein Mädchen war«, erzählte sie später einmal. »Aber ich bin auf seine Sprüche hereingefallen, in jeder Hinsicht, von Anfang an bis zuletzt.«

Seine Lieblingssätze waren: »Was sein muß, muß sein«, und: »Ehrlich währt am längsten.« Ich wußte, es war sein Stolz, daß in seinem Straßenbahnwagen nie ein Kontrolleur einen Schwarzfahrer aufgespürt hatte. Sein Personengedächtnis war fabelhaft, er brauchte die Einsteigenden nur kurz zu mustern, doch prägten sich alle Gesichter ein, selbst bei dem größten Gedränge entging ihm nichts. Nach dem Dienst konnte er die Leute aufzählen, die er abkassiert hatte, ob sie kleines oder großes Geld hervorgeholt hatten, auf Mark und Pfennig genau, und ob sie den Gang versperrt oder zu einem Sitzplatz drängten; junge Leute scheuchte er sowieso auf den Perron. Er teilte sie ein in Hochnäsige, Liederliche, Höfliche, Freundliche, Knickrige, Großmäulige und Dummdreiste. Kam ihm jemand frech, so kanzelte er ihn gehörig ab, und war ihm gar einer auf die Füße getreten, bekam er einen noch derberen Tritt zurück. »Wie´s in den Wald hineinhallt, so hallt´s auch raus«, rief er den Fahrgästen zu. Mit Betrunkenen oder Widerspenstigen, die nicht zahlen wollten, machte er kurzen Prozeß, er klingelte, ließ anhalten und setzte sie an die Luft. »Wer nicht hören will, muß fühlen«, rief er ihnen nach. Und wenn jemand um Nachsicht bat oder seine rauhe Konsequenz tadelte, winkte er lässig ab und meinte: »Die kleinen Gauner werden auch mal groß, steht schon in der Bibel.«

Nachdem ich als Zehnjähriger Pimpf geworden war, kam Vater auf Urlaub. Er sah mich in meiner Uniform mit dem Braunhemd kopfschüttelnd an. »Mußtet ihr das selber kaufen, dieses Senfhemd?« fragte er. Er hatte seine Uniformen stets kostenlos bekommen, entweder vom Straßenbahndepot oder von der Wehrmacht, anders erschienen sie ihm unerträglich. Meine Mutter fiel ihm ins Wort, solches Gerede könne Kopf und Kragen kosten. »Der Junge«, flüsterte sie und nahm mich beiseite. »Daß du nie so was weitersagst.« Mein Vater amüsierte sich jedoch so sehr über das Wort »Senfhemd«, daß er immer wieder darauf zurückkam. »Wenn man nicht mal in seinen eigenen vier Wänden reden kann, wie man will«, hielt er ihr entgegen, »dann ist überhaupt alles Senf.«

Meist ging es bei solchen Auseinandersetzungen um mich; Achim, mein Bruder, war noch zu klein. Bald kam aber die Zeit, da er bei allem mit dabeisein wollte, vor allem beim Spielen im Hof, bei unseren Späßen und Streichen, die den Krieg und das besorgte Gerede der Eltern vergessen ließen. Wenn wir ein Portemonnaie an einen Zwirnsfaden banden und, hinter einer Mauer versteckt, die Leute foppten, lachte mein Bruder so laut und verräterisch, daß ich ihm den Mund zuhalten mußte und er fast erstickte. Er lachte von kleinauf gern und laut wie Vater, überhaupt war er ihm ähnlicher, ich dagegen mehr Mutter. Kichernd stand er da, wenn ich die Jungvolk-Uniform anzog, das Koppelschloß mit dem Fahrtenmesser umschnallte und die komische Skimütze aufsetzte. Beim Marschieren, im Gleich- oder Achtungsschritt, auf dem Geibelsportplatz, hopste er hinterm Fußballtor herum und äffte uns nach. Er grölte laut und kreischend mit, wenn wir das »Englandlied« oder »Wir lagen vor Madagaskar« sangen, obwohl er viel musikalischer als ich und ein guter Sänger war. Mit vier oder fünf Jahren spielte er auf Großmutters Klavier, lauter komische Sachen, alte Schlager von den »Wanzen, wie die tanzen, immer an der Wand lang« oder von der Festung Königstein, »Juppheidieh, juppheidah!«. Einmal bekam er von unserm Fähnleinführer eine Backpfeife, als er dieses Ulklied während eines Fahnenappells auf dem Sportplatz grölte. Er fiel hin, blieb eine Weile liegen, dann rief er nach mir. Als ich abends nach Hause kam, saß er mit rotem Gesicht da und schrie mich an: »Du Feigling!« Ich schämte mich, weil ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte, als es passierte, doch sagte ich mit aller Entschiedenheit: »Du Knallkopp, das ist kein Kindergarten, laß dich dort erst wieder blicken, wenn du aus den Windeln bist.«

Vater hatte uns beiden Jungen Mundharmonikas geschenkt. Er spielte selbst sehr gern und zeigte uns, wie er die lauten, leisen, zarten und kräftigen Töne mit der gewölbten Hand nachhallen ließ, hielt dabei die Augen geschlossen und lächelte, wenn ihm eine Melodie, etwas von Lehár oder Puccini, besonders gut gelungen war. Ohne zu üben, auch mit geschlossenen Augen, spielte sie mein Bruder nach und begleitete ihn manchmal mit einer zweiten Stimme, Zwischentakten und Akkorden, daß es sich fast wie ein Orchester anhörte. Ich aber phantasierte auf der Mundharmonika nur herum, vergaloppierte oder zerdehnte die Melodien, kam aus dem Takt, daß es schauerlich klang. Die Texte modelte ich beim Singen um, weil ich sie nicht genau kannte oder gerade an etwas anderes dachte. In der Schule fiel es dem Lehrer gar nicht auf, ich bekam sogar Lob, weil ich beim Singen oder Gedichtaufsagen niemals steckenblieb. Doch mein Bruder verzog bei jedem falschen Ton oder Wort das Gesicht, schüttelte sich und rief: »Verstimmt!« Bei Vaters letztem Fronturlaub verpfuschte ich das Lied aus dem »Zarewitsch« von dem Soldaten, der einsam am Wolgastrand auf Wache stand, weil ich »Soldat im Wolgasand« sang. Mein Bruder war wütend, warf seine Mundharmonika nach mir, und Vater, der bei diesem Lied Tränen in den Augen hatte, sagte nur: »Kinder, seid friedlich, dieser Krieg.«

Meines Vaters Straßenbahn

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