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ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

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Max Ackermann, der eigentlich Maximilian hieß, seinen Vornamen aber am liebsten auf amerikanische Art mit einem langen ä in der Mitte aussprach und bei seinem Nachnamen bisweilen das zweite n wegließ, um nicht so kleinbürgerlich deutsch, sondern weltmännischer zu klingen, brachte den schwarzen Porsche Carrera GT in der finsteren Seitenstraße so abrupt zum Stehen, dass die Reifen laut protestierten, ließ den Motor verstummen und löschte die Scheinwerfer. Augenblicklich legte sich wieder wie ein finsteres Leichentuch die Schwärze der Nacht über die gesamte Umgebung, aus der sie die Lichter des Wagens gerade eben gerissen hatten.

Eigentlich müsste ich hier richtig sein.

Max ließ den Blick suchend in alle Richtungen schweifen und starrte angestrengt in die Finsternis, die den Wagen wie ein durchscheinendes, schwarzes Seidentuch von allen Seiten einhüllte. Er konnte jedoch nichts entdecken, das darauf hindeutete, dass sich hier tatsächlich eine Bar befand.

Stattdessen sah alles wie ausgestorben aus. Keine Menschenseele war zu sehen. Und soweit Max es in der Düsternis erkennen konnte, wirkten die umliegenden Mietshäuser allesamt, als würden sie jeden Augenblick einstürzen, sobald jemand in ihrer Nähe nur niesen musste. Wohin er auch blickte, er sah überall nur leere oder vernagelte Fensterhöhlen, kaputte Scheiben und alte Backsteinmauern, von denen längst der größte Teil des schmutzig grauen Verputzes abgebröckelt war. Dieser Ort war entweder schon lange mausetot oder er lag in seinen letzten Zügen und hing am Tropf staatlicher Unterstützungsleistungen, die das Einzige waren, das ihn noch halbwegs am Leben erhielt.

In der Regel also kein Ort, an dem Max seine bevorzugte Klientel fand. Und falls wirklich irgendein Idiot so verrückt gewesen sein sollte, in dieser abgefuckten Gegend eine Bar zu eröffnen, dann hätte er sein Geld genauso gut im Ofen verheizen können. Diese Alternative hatte in Max’ Augen drei entscheidende Vorteile: Sie ging schneller von der Hand, machte deutlich weniger Arbeit und sorgte darüber hinaus für angenehme Wärme.

Er sah jedoch weit und breit keine Bar, und das hieß, dass er hier falsch war. Der erfolgreiche Allround-Unternehmer fluchte leise vor sich hin und klopfte aus Verärgerung wie auch aus Ungeduld mit den Fingern aufs Lenkrad. Es ärgerte ihn über alle Maßen, dass er mit der Fahrt hierher vermutlich nur seine Zeit vergeudete.

Dabei hatte der Anrufer, der ihn an diesen Ort bestellt und mit heiserer Stimme von einem Bombengeschäft gesprochen hatte, in Max’ Ohren noch so überzeugend geklungen. Und wenn Max sich nicht spontan dazu entschlossen hätte, hierher zu kommen, hätte er sich wahrscheinlich ständig gefragt, ob er nicht eine Riesenchance verpasste, und die nächsten drei oder vier Tage sicherlich keine ruhige Minute gehabt.

Denn Geschäfte, vor allem Bombengeschäfte, waren Max’ Lebensinhalt, solange sie sein ohnehin schon beachtliches Vermögen mehrten. Wenn es um Geld ging – vorzugsweise um das Geld anderer Leute –, dann war er skrupellos. Dass seine Geschäftspartner dabei des Öfteren auf der Strecke blieben und alles verloren, was sie besaßen, störte ihn dabei nicht im Mindesten. Im Gegenteil, es war das Salz in der Suppe und erhöhte nur den Reiz für ihn. Denn seiner Meinung nach gehörte das zum Business. Wo gehobelt wurde, da fielen bekanntlich Späne. Deshalb lautete seine Devise im Geschäftsleben auch: Fressen oder gefressen werden! Und Max gehörte von Natur aus zu denjenigen, die in geschäftlichen Dingen besonders gefräßig waren und das größte Maul und die schärfsten Zähne hatten.

Dabei hatte Max im Grunde schon alles, was man sich nur wünschen konnte: eine eigene Insel in der Karibik, mehrere prachtvolle Villen, u.a. in Palm Springs, Kapstadt, an der Côte d’Azur und am Genfer See, luxuriöse Eigentumswohnungen in Monte Carlo, New York, London und Paris, eine 49,9 Meter lange Megayacht von Benetti, eine Cessna Citation XLS+ und mehr Nobelkarossen, als er an den Fingern und Zehen all seiner Gliedmaßen abzählen konnte. Darüber hinaus besaß er dicke Aktienpakete diverser internationaler Konzerne, kostbare Kunstsammlungen und Goldreserven in seinen Bankschließfächern sowie unzählige prall gefüllte Bankkonten, vorwiegend in Steueroasen, von denen die Finanzbehörden dieser Welt zum größten Teil keinen blassen Schimmer hatten.

Doch trotz seines immensen Reichtums, der für mehrere ausschweifende Lebensspannen gereicht hätte, war er noch immer nicht satt und ständig auf der Suche nach vielversprechenden Geschäften und neuen Herausforderungen. Denn im Grunde seines herzlosen Wesens war Max unersättlich. Außerdem liebte er den besonderen Kick, sobald es ihm wieder einmal gelungen war, einen vermeintlichen Geschäftspartner über den Tisch zu ziehen. Ohne das befriedigende Gefühl, im finanziellen Dingen seine Überlegenheit über alle anderen zu demonstrieren, wäre Max’ Leben nämlich leer und öde gewesen. Er könnte seinen Reichtum und die schönen Dinge, die er sich damit leistete, vermutlich gar nicht richtig würdigen und genießen, wenn er sich nicht ständig vergegenwärtigte und immer wieder unter Beweis stellte, auf welche Art und Weise er sich sein Vermögen im wahrsten Sinne des Wortes verdient hatte.

Und genau aus diesen Gründen war auch in der heutigen Nacht wieder der Jagdinstinkt in ihm erwacht und hatte ihn dazu gebracht, sich trotz der fortgeschrittenen Stunde ins Auto zu setzen und in diese trostlose Gegend zu fahren. Doch diesmal schien er ausnahmsweise kein Glück zu haben. Wenn er sich umsah, dann erwartete ihn hier nur Not und Elend, aber vermutlich kein Bombengeschäft. Nicht in dieser heruntergekommenen Gegend, die seiner Meinung nach die ideale Kulisse für einen Endzeitfilm wäre und nicht einmal dann erfolgreich wiederbelebt werden könnte, wenn man zig Millionen Euro an Steuergeldern hineinpumpen würde. Was in seinen Augen allerdings eine riesige Fehlinvestition wäre. Abreißen wäre die bessere Alternative. Dabei würde wenigstens einer etwas verdienen, und zwar der Abrissunternehmer.

Angesichts der allmählich verfallenden Häuser ringsum erschien es ihm immer wahrscheinlicher, dass sich jemand einen bösen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Neider, die ihm seine geschäftlichen Erfolge missgönnten, und Trottel, die er in den finanziellen Ruin getrieben hatte, gab es mittlerweile wie Sand am Meer. Max fragte sich nur, wie der Anrufer an seine geheime Privatnummer gekommen war.

Sei’s drum! Er beschloss, nicht noch mehr Zeit sinnlos zu vergeuden, sondern so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden und stattdessen in eine der momentan angesagten Diskotheken oder Szenekneipen in der Innenstadt zu gehen, die er in einer Nacht wie dieser ohnehin bevorzugte. Irgendwo würde er schon zwei oder zur Abwechslung vielleicht auch mal drei willige blutjunge Frauen finden, die er mit seiner prall gefüllten Brieftasche und seinem guten Aussehen – das er nicht nur seinen Genen, sondern auch den geschickten Händen der weltweit besten und teuersten Schönheitschirurgen zu verdanken hatte – beeindrucken konnte und die ihn anschließend im Schlafzimmer als Gegenleistung für die spendierten Drinks die vertane Zeit vergessen lassen würden.

Er griff bereits nach dem Zündschlüssel und wollte den Motor starten, als urplötzlich in der Finsternis links von ihm ein blendend rotes Licht zum Leben erwachte. Max wandte erschrocken den Kopf und sah an der Fassade eines baufälligen dreistöckigen Hauses einen roten Neonbuchstaben leuchten. Es handelte sich um ein großes M. Nach fünf Sekunden erlosch das Neon-M, und ein zweiter Buchstabe rechts daneben leuchtete stattdessen auf. Diesmal war es ein o, das ebenso zügig von einem r abgelöst wurde. So ging es munter weiter, bis schließlich der elfte und letzte Buchstabe, ebenfalls wieder ein r, aufschien und verblasste. Nach einer kurzen Phase der Finsternis leuchteten dann alle Buchstaben gleichzeitig auf und bildeten zwei Worte.

»Mortuary Bar«, las Max leise den roten Neon-Schriftzug und runzelte die Stirn. Soweit er wusste, bedeutete Mortuary übersetzt Leichenhalle. Was für ein bescheuerter Name für ein Nachtlokal? Aber wenigstens handelte es sich eindeutig um eine Bar. Und da Max keine zweite entdecken konnte oder auch nur insgeheim in dieser gottverlassenen Gegend vermutete, musste es sich um exakt die Lokalität handeln, in die der geheimnisvolle Anrufer ihn bestellt hatte, der ausdrücklich von einem Bombengeschäft gesprochen hatte.

Die Hand noch immer am Zündschlüssel überlegte Max, ob er nicht doch besser wieder wegfahren sollte. Die heruntergekommene, menschenleere Gegend und der makabre Name der Bar verhießen nichts Gutes. Wer nannte seine Bar schon Leichenhalle? Und wer zum Teufel verkehrte eigentlich freiwillig in einem Nachtlokal, das so hieß?

Andererseits passte der Name in dieses Viertel wie das Tüpfelchen aufs i. Und Max hatte in seiner Laufbahn schon an den ungewöhnlichsten und unwahrscheinlichsten Orten wahre Geldadern aufgespürt. Außerdem, was hatte er schon zu verlieren? Die Sache war doch denkbar einfach: Er marschierte in die Bar, redete ein paar Takte Klartext mit demjenigen, der ihn herbestellt hatte, und stellte so rasch fest, was wirklich hinter dem vermeintlichen Bombengeschäft steckte, denn dafür hatte Max einen Riecher und dabei machte ihm niemand so leicht etwas vor. Wenn es sich nur um die Hirngespinste eines Großmauls oder Träumers handelte, stieg er einfach wieder in seinen Wagen und ließ dieses Ruinenviertel so schnell wie möglich hinter sich, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen und je wieder einen Fuß hineinzusetzen. Alles in allem würde ihn die ganze Aktion einschließlich An- und Abfahrt höchstens eine Stunde seiner kostbaren Zeit kosten.

Wenn sich andererseits tatsächlich ein richtig gutes Geschäft dahinter verbarg und er nun einfach wegfuhr … Max wagte den Gedanken nicht einmal zu Ende zu denken, denn der Ärger über eine verpasste Gelegenheit, seine geschäftliche Überlegenheit zu demonstrieren und seinen Reichtum zu mehren, wäre um ein Vielfaches größer als die Verschwendung einer einzigen Stunde seiner Zeit.

Damit war die Entscheidung gefällt.

Max zog den Zündschlüssel ab und stieg aus. Nach dem Absperren überprüfte er noch einmal, ob die Türen des Porsche tatsächlich verriegelt waren. In dieser Gegend war Vorsicht besser als Nachsicht, auch wenn er den Eindruck hatte, dass sogar die Autodiebe dieses Viertel mieden und an besseren Orten auf Beutezug gingen. Anschließend näherte er sich mit vorsichtigen Schritten der Neonbeleuchtung an der Wand. Glasscherben knirschten unter den Sohlen seiner Schuhe. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, konnte jedoch noch immer niemanden entdecken.

Unmittelbar unter dem Schriftzug aus leuchtenden Neonröhren führten mehrere steinerne Stufen in die Tiefe. Sie wurden vom blutroten Schein der Leuchtbuchstaben erhellt und wirkten dadurch wie der Zugang zur Unterwelt. Am Ende der Treppe befand sich eine schartige dunkle Holztür.

Max war nicht der Typ, der sich von vermeintlichen Omen beeindrucken ließ oder in allen Dingen düstere Vorzeichen sah. Es fröstelte ihn zwar leicht, doch er zuckte nur mit den Schultern und schüttelte damit das leichte Unbehagen, das ihn bei dem unheimlichen Anblick befallen hatte, mühelos ab.

Dann machte er sich vorsichtig an den Abstieg. Das rote Licht ließ die Konturen der Stufen vor seinen Augen verschwimmen und undeutlich werden. Er wollte jedoch keinen Fehltritt tun und die Stufen hinunterfallen und ging langsam. Noch immer knirschte Glas unter seinen Schuhen. Ein Sturz würde ihm nicht nur Prellungen, sondern vermutlich auch Schnittwunden einbringen, von einer möglichen Blutvergiftung gar nicht zu sprechen.

Auf dem Weg nach unten konnte Max bereits leise Musik hören, die durch die geschlossene Tür gedämpft wurde. Als er sie erreicht hatte, zögerte er keinen weiteren Augenblick, sondern legte die Hand auf die Türklinke und zog die erbärmlich in ihren Angeln quietschende Tür entschlossen auf. Schwacher gelber Lichtschein fiel nach draußen, und sofort wurde auch die Musik ein bisschen lauter.

Max betrat den dämmrigen Raum, der voller Schatten war, während die Tür hinter ihm laut krachend ins Schloss fiel.

Unbemerkt von menschlichen Augen gab das leuchtende Neon-O über der Treppe in diesem Moment zischende Geräusche von sich. Funken sprühten in alle Richtungen, dann zersprang die runde Leuchtröhre mit einem klirrenden Laut. Die Scherben regneten zu Boden und fielen zu den anderen in der Gasse und auf den Stufen.

Einen Augenblick später erloschen auch die übrigen Buchstaben, die den Schriftzug Mortuary Bar gebildet hatten. Die Gasse und der verlassene Sportwagen versanken in noch tieferer Finsternis als zuvor. Und nichts deutete nun noch darauf hin, dass in der schmutzigen Seitenstraße eine Bar existierte.

Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, blieb Max eine gute Minute reglos stehen und musterte aufmerksam das Innere der Bar, in der er gelandet war.

Die Musik war hier drinnen nur unwesentlich lauter als draußen vor der geschlossenen Tür und überstieg damit nicht den Pegel, bei dem man sich noch problemlos unterhalten konnte, ohne schreien zu müssen. Der Raum war sogar für ein Nachtlokal extrem düster und wurde von entschieden zu wenig verborgenen Lichtquellen nur unzureichend erhellt. In der schummrigen Beleuchtung, die mehr schattige Bereiche als helle Lichtoasen erschuf, konnte Max in der Mitte des Raumes eine ringförmige Theke erkennen, die von hohen Barhockern umzingelt und belagert wurde wie eine Wagenburg von einer Horde angreifender Indianer. Drei Hocker waren belegt. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse konnte Max die anwesenden Gäste allerdings nur schemenhaft erkennen und keine Einzelheiten ausmachen. Er konnte nicht einmal sagen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Rechts und links vor den Seitenwänden des rechteckigen Raumes reihten sich mehrere Sitznischen aneinander, die aus zwei gegenüberliegenden Bänken und einem Tisch in ihrer Mitte bestanden. In mehreren Nischen konnte Max weitere schattenhafte, reglose Gestalten ausmachen.

Max hatte keine Ahnung, ob der anonyme Anrufer schon da war und sich unter den Gästen befand. Er wusste ja nicht einmal, wie er ihn erkennen sollte. Er ging aber davon aus, dass sein potentieller Geschäftspartner wusste, wie Max aussah, und ihn früher oder später ansprechen würde.

Er zuckte mit den Schultern und marschierte, da ihm nichts Besseres einfiel, zum Tresen. Nachdem er die Sitzfläche mit dem Ärmel seines Jacketts sauber gewischt hatte, erklomm er den Hocker und platzierte beide Ellbogen auf der Theke.

Als wäre sie aus einem Raumschiff geradewegs hierher teleportiert worden, materialisierte sich schon im nächsten Augenblick eine Gestalt in einer finsteren Ecke jenseits des Tresens, bei der es sich um den Barmann handeln musste. Geradezu bedächtig schlurfte er aus den Schatten heraus und auf den neuen Gast zu. Erst als sie nur noch die Breite der Theke voneinander trennte, konnte Max ihn deutlicher erkennen und schrak unwillkürlich zurück, denn der Mann bestand fast nur aus Haut und Knochen. Die unnatürlich bleiche Gesichtshaut spannte sich so straff über den Schädelknochen, als müsste sie jeden Moment zerreißen. Die wässrigen, fiebrig glänzenden Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie kaum zu erkennen waren, und der ganze Schädel war vollkommen haarlos und von unzähligen dunklen Pigmentflecken übersät. Auf den dürren unbedeckten Armen befanden sich zahllose Tätowierungen in den unterschiedlichsten Größen, bei denen es sich allesamt entweder um Totenschädel oder um erstaunlich gut getroffene Selbstporträts des Mannes handelte. Der Barkeeper ließ die Musterung teilnahmslos über sich ergehen, fragte nicht, was Max trinken wollte, sondern wartete stumm auf die Bestellung des neuen Gastes. Nachdem Max sich vom ersten Schock des makabren Anblicks erholt hatte, orderte er einen Whisky mit Eis, worauf sich das Klappergestell wortlos abwandte, ebenso gemächlich wieder davonschlurfte und in die Schatten eintauchte.

Kaum war der Mann verschwunden, konnte Max das Grinsen nicht länger zurückhalten. Er strich mit der rechten Hand durch sein kurzes braunes Haar und schüttelte verwundert den Kopf. Nun endlich machte der Name der Bar für ihn einen Sinn, denn dieser Barkeeper passte zu einer Leichenhalle wie die berühmte Faust aufs Auge. Hätte sich die Bar in einer geringfügig zivilisierteren und vorzeigbareren Gegend dieses Planeten befunden, wäre sie möglicherweise sogar eine Goldgrube gewesen, denn die Nachtschwärmer waren ständig auf der Suche nach neuen Kicks und liebten bizarre und ausgefallene Ideen.

Der Barkeeper kehrte schon bald wieder zurück und stellte den Whisky ohne ein Wort vor Max ab. Max nickte ihm zum Dank knapp zu und nahm das Glas, auf dem sich ein Kondensfilm gebildet hatte. Die Eiswürfel schlugen klirrend gegeneinander und an das Innere des Glases, als er es an seine Lippen hob und einen kleinen vorsichtigen Schluck nahm. Augenblicklich verzog er angewidert das Gesicht und stellte das Glas schnell wieder auf den Tresen.

Was zum Teufel ist denn das?

Was immer der Barkeeper ihm da vorgesetzt hatte, es hatte nicht das Geringste mit einem anständigen Whisky gemeinsam. Stattdessen schmeckte das Zeug wie etwas, das schon längere Zeit tot war und seitdem in einer vergessenen Ecke vor sich hin gefault hatte. Max konnte nun auch einen stechenden, geradezu widerwärtigen Geruch wahrnehmen, der vom bräunlich trüben Inhalt des Glases ausging und ihm die Tränen in die Augen trieb. Sogar die Eiswürfel, die darin schwammen, sahen merkwürdig aus. Sie hatten eine ungewöhnliche hellrote Färbung und schienen dunkle schmeißfliegengroße Objekte zu enthalten, die aber zum Glück nur schemenhaft zu erkennen waren.

Max schob das Glas so weit von sich, wie es ihm möglich war, und spuckte die Flüssigkeit, die er zum Glück nicht heruntergeschluckt hatte, auf den Boden neben seinen Barhocker. Es hätte ihn gar nicht verwundert, wenn das eklige Zeug gedampft, gezischt und ein Loch in den Fußboden gebrannt hätte. Er holte sein Taschentuch heraus, um sich den Mund abzuwischen, und rieb mit dem rauen Stoff sogar mehrmals über seine Zunge. Anschließend sammelte er Speichel im Mund und spuckte noch einmal aus, um auch noch den letzten Überrest des widerlichen Geschmacks loszuwerden. Es blieb jedoch auch weiterhin ein leicht unangenehmer Nachgeschmack zurück. Er überlegte, ob er die Toilette aufsuchen und den Mund ausspülen sollte, nur um ganz sicher zu gehen. Vielleicht war das Zeug ja gesundheitsgefährdend. Und vielleicht sollte Max dem Barmann einen guten Rat geben, bevor er ging, denn was immer der Kerl benutzte, um den Whisky zu strecken, er sollte es das nächste Mal mit einem geruchs- und geschmacksneutraleren Mittel versuchen.

»Na, Hübscher, spendierst du mir einen Drink?«

Die raue Stimme, die ihn so überraschend ansprach, riss ihn aus seinen Überlegungen. Er fuhr erschrocken hoch und sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Auf dem Barhocker links neben ihm hatte sich eine Frau mit langen dunklen Haaren niedergelassen. Er wusste nicht, ob sie aus einem anderen Teil der Bar oder von draußen hereingekommen war, da er die letzten Minuten viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um auf seine Umgebung zu achten. Nun hockte sie auf alle Fälle neben ihm und sah ihn aus dem schattigen Bereich, in dem sie saß, heraus an.

Max grunzte zur Erwiderung nur etwas Unverständliches. Er hatte noch nie zu den Leuten gehört, die gern und freigiebig Geschenke verteilten. In der Regel erwartete er für alles eine Gegenleistung. Aber wenn die Unbekannte gut aussah und bereit war, sich entsprechend ihrer von Mutter Natur verliehenen Möglichkeiten zu revanchieren, würde er mit Vergnügen ein paar billige Drinks investieren. Wenn sie hingegen zur gleichen Kategorie wie der Barkeeper, also zur Rasse der Vogelscheuchen, gehörte, dann würde sie entweder ihre Drinks selbst bezahlen oder durstig unter den Stein zurückkriechen müssen, unter dem sie erst vor Kurzem hervorgekrochen sein musste. Im Augenblick konnte sich Max darüber allerdings noch kein abschließendes Urteil bilden, da er außer den langen dunklen Haaren keine Einzelheiten erkennen konnte.

Als hätte die Frau seine Gedanken gelesen, beugte sie sich in seine Richtung, bis ihr Gesicht in den dämmrigen Schein einer der verborgenen Lichtquellen geriet.

Max zuckte vor Schreck noch heftiger zurück als zuvor beim Barmann, sodass er sogar Mühe hatte, auf dem hohen Hocker sein Gleichgewicht zu bewahren und nicht herunterzufallen.

Die papierdünne Haut der Frau hatte eine wächserne, leicht gelbliche Färbung wie altes Fett, war von ungesund aussehenden dunklen Flecken übersät und spannte sich über den Wangenknochen, als wäre sie an einer verborgenen Stelle an die Kopfhaut getackert und anschließend mit hohem Kraftaufwand gestrafft worden. Die Augen lagen so tief in ihren finsteren Höhlen, dass sie vollständig im Schatten verborgen waren, und die strähnigen Haare waren fettig und ungekämmt. Außerdem sah es so aus, als würden zahlreiche winzige Tierchen darin herumkrabbeln, doch so genau konnte und wollte Max es dann doch nicht wissen. Als die Frau das Gesicht zu einer Grimasse verzog, die sie möglicherweise für ein verführerisches Lächeln hielt, und den Mund öffnete, konnte er zwei Reihen brauner Zahnstümpfe entdecken. Ein fauliger, übelkeitserregender Geruch mischte sich unter den leichten Verwesungsgestank, den sie ausdünstete und der Max erst in diesem Moment mit voller Wucht erreichte.

Wie heißt dein Parfüm, Teuerste? Leichenduft N° 5? Zumindest passt es in die Mortuary Bar!, dachte Max, obwohl er höchst angewidert war, in einem Anflug von Galgenhumor und wandte rasch sowohl den Blick als auch seine empfindliche Nase von der Frau ab. Er befürchtete nämlich ernsthaft, sich übergeben zu müssen, sollte er die Gesichtsbaracke neben sich auch nur eine Sekunde länger ansehen und ihren Gestank einatmen müssen.

Was war das nur für ein merkwürdiger Ort, an dem er in dieser Nacht so unvermittelt gelandet war? Der Vorraum zur Hölle? Der Name der Bar schien auf jeden Fall Programm zu sein. Der Barmann und die Frau neben ihm sahen nämlich tatsächlich so aus, als warteten sie auf den Tod, der jeden Moment zur Tür hereingekommen, seine Sense schwingen und sie holen könnte, oder als gehörten sie längst in eine Leichenhalle und nicht in eine öffentliche Bar, die nur diesen makabren Namen trug. Was er zunächst noch für einen müden Gag gehalten hatte, entpuppte sich nun beinahe als zutreffend. Aber was wollte man in dieser Gegend anderes erwarten. Die Menschen, die hier lebten, mussten genauso kaputt sein wie die Häuser, in denen sie hausten – oder wohl eher dahinvegetierten.

Max war auf alle Fälle nicht daran interessiert, auch noch die anderen Gäste näher in Augenschein zu nehmen oder besser kennenzulernen. Stattdessen war er dankbar für die schlechte Beleuchtung, die die meisten Details seiner Umgebung und die anderen Gäste gnädigerweise vor seinen Blicken verbarg.

»Na, wie steht’s jetzt mit dem Drink, Hübscher?«, rief sich die Vogelscheuche neben ihm in Erinnerung.

Verdammte Scheiße!, fluchte Max still in sich hinein. Gevatter Tods hässliche Schwester lässt einfach nicht locker!

Die verfluchte Alte würde wahrscheinlich erst dann Ruhe geben, wenn sie ihren verdammten Gratis-Drink bekam. Also beschloss Max widerwillig, das erste Mal seit langer Zeit etwas herzugeben, ohne dafür eine angemessene Gegenleistung zu verlangen. Aber wenn die Frau ihn dann nicht länger mit ihrem grässlichen Aussehen und ihrem infernalischen Gestank belästigte, war ihm das ausnahmsweise Lohn genug. Außerdem wollte er ohnehin nur noch allerhöchstens zehn weitere Minuten auf seine Verabredung warten. Wenn der Armleuchter bis dann immer noch nicht aufgetaucht war, würde Max diesen schrecklichen Ort schneller hinter sich lassen, als der knochendürre Barmann »Beehren Sie uns bald wieder!« nuscheln konnte. Vorausgesetzt, der Kerl war überhaupt in der Lage, sich verständlich zu artikulieren. Max befürchtete nämlich ernsthaft, die Vogelscheuche neben ihm könnte ansonsten auf den wahnwitzigen Gedanken kommen, sie müsste sich für den spendierten Drink in irgendeiner in seinen Augen eher perversen Art und Weise bei ihm erkenntlich zeigen. Dabei hatte Max schon Albträume, wenn er nur daran dachte, sie und er könnten … Brrr, da bekam er ja gleich Schüttelfrost!

Er hob die Hand, um den klapprigen Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen, zeigte auf die Frau neben sich und machte die in allen Bars dieser Welt verständliche Geste des Trinkens. Auch wenn der Barkeeper nicht gerade der kommunikativste Vertreter seiner Zunft war, kapierte er dennoch sofort, was Max wollte, und machte sich an die Arbeit. Außerdem schien er genau zu wissen, welchen Drink die Frau bevorzugte, denn er fragte nicht einmal nach. Nach ihrem grässlichen Aussehen zu urteilen, gehörte sie ohnehin zum Inventar der Mortuary Bar.

»Das ist wirklich ausgesprochen freundlich von dir«, bedankte sie sich umgehend und zog sich zu Max’ grenzenloser Erleichterung wieder etwas mehr ins Halbdunkel zurück, in dem sie saß und das ihre verunstalteten Züge unsichtbar werden ließ.

Max atmete erleichtert auf, als der widerliche Geruch sogleich weniger intensiv wurde. Er warf einen Blick auf seine Uhr, eine Patek Philippe Sky Moon Tourbillon aus Platin, von der pro Jahr nur zwei Exemplare hergestellt wurden und die beinahe eine Million Schweizer Franken gekostet hatte. Von dem Geld hätte er vermutlich das ganze Stadtviertel mit all seinen Bewohnern kaufen können. Wo, zum Teufel, blieb nur der verdammte Kerl, dem er diesen Trip in den Abort der menschlichen Zivilisation zu verdanken hatte?

Der Barkeeper materialisierte wie ein Geist im Dämmerlicht hinter der Theke, stellte, gesprächig wie immer, ein Glas vor die Frau und verschwand lautlos. Max wollte lieber gar nicht wissen, wie das eitergelb gefärbte Gesöff hieß, schmeckte oder roch. Aber vielleicht bekamen die Stammgäste ja Besseres kredenzt. Oder sie hatten sich an die ekelhafte Brühe, die hier ausgeschenkt wurde, längst gewöhnt und ihre Speiseröhren und Mägen durch jahrelanges intensives Training gestählt und abgehärtet.

Die Frau hob das Glas vom Tresen und nahm einen großen Schluck. Es schien ihr zu schmecken. »Ich heiße übrigens Anna«, stellte sie sich vor, nachdem sie das Glas wieder abgesetzt hatte.

Das blöde Miststück gibt einfach keine Ruhe!, dachte Max verärgert. Die Alte will wohl unbedingt mit mir quatschen. Aber warum eigentlich nicht? Im Augenblick hatte er nichts Besseres zu tun. Außerdem würde er, so wie es aussah, in wenigen Minuten ohnehin den Abflug machen und keine dieser erbärmlichen Gestalten jemals wiedersehen.

»Hallo, Anna. Ich heiße Max.«

»Max«, wiederholte Anna nachdenklich, als würde sie sich den Namen wie eine Speise auf der Zunge zergehen lassen, um zu prüfen, ob sie ihr schmeckte oder nicht. »Freut mich echt, dich hier zu treffen, Max

Max hütete sich davor, etwas Ähnliches zu äußern. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen. Stattdessen stieß er ein unverbindliches Brummen aus, das man so oder so deuten konnte. Außerdem würde er sich vermutlich erst dann wirklich freuen können, wenn er wieder in seinem Wagen saß und die Gegenwart dieser Schreckschraube nicht länger ertragen musste.

»Eins musst du wissen, Max: Ich hab früher mal echt toll ausgesehen«, sagte Anna unvermittelt.

Ja, ja, dachte Max gelangweilt und unterdrückte ein Gähnen, wer’s glaubt, wird selig. Das muss aber schon ein paar Jahrhunderte her sein! Wenigstens war ihr bewusst, dass sie mittlerweile alles andere als echt toll aussah. »Ach ja?«

»Ja. Außerdem war ich damals auch beruflich noch erfolgreich.«

Nun, sieht ganz danach aus, als seien die fetten Jahre jetzt vorbei!, dachte Max und verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen über sein gedankliches Wortspiel. Laut fragte er: »Und was machst du jetzt so, Anna?«

»Na ja, momentan hänge ich eher so herum«, antwortete Anna und gackerte lauthals los, als hätte sie soeben einen köstlichen Witz erzählt, obwohl Max beim besten Willen nichts Komisches an ihrer Äußerung entdecken konnte. Ein paar der anderen Gäste lachten ebenfalls, während der Barkeeper seine ausdruckslose Miene beibehielt, als wäre er nicht nur stumm, sondern auch taub, und weiter Gläser abtrocknete.

Verdammt! Können diese Arschlöcher sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, anstatt fremde Gespräche zu belauschen?, dachte Max verärgert.

»Ich hatte damals ein eigenes Geschäft«, fuhr Anna, nun wieder ernsthaft, fort. »Nichts Großartiges, nur eine kleine Modeboutique, aber es reichte und verschaffte mir ein gutes Auskommen. Außerdem blieb jeden Monat noch etwas Geld übrig, das ich auf die hohe Kante legen konnte, um meine Altersversorgung zu sichern.«

Verdammt, jetzt erzählt sie mir auch noch ihre gottverdammte Lebensgeschichte. Max warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Allerhöchstens noch fünf Minuten, dann bin ich unwiderruflich weg. Länger ertrage ich ihr Gewäsch sowieso nicht mehr.

»Irgendwann wollte ich mir mit meinen Ersparnissen ein kleines Häuschen auf dem Land kaufen. Das war schon immer mein Traum gewesen.«

Max beobachtete die schattenhafte Gestalt auf dem Barhocker neben ihm aus den Augenwinkeln, während sie sprach. Nun hatte sie es doch noch geschafft, sein Interesse zu wecken, denn er war selbst ein paar Jahre in der Baubranche tätig gewesen. Das hatte ihm ein paar leicht verdiente Millionen eingebracht. Er dachte immer wieder gern an diese Zeit und an die zahlreichen Träumer zurück, die ihm ihr Geld und ihr Vertrauen geschenkt hatten. Dummköpfe! Er hatte sie um beides betrogen und sie am Ende in ihren halb fertiggestellten Bauruinen zurückgelassen. Max lächelte verträumt, als er an die damaligen Bombengeschäfte zurückdachte. Damals war für ihn fast jeden Tag Zahltag gewesen, er hatte das Geld gar nicht so schnell zählen können, wie es in seine Taschen geflossen war.

»Ich wandte mich damals an einen Bauträger, der mir versprach, ein wunderschönes Einfamilienhaus ganz nach meinen Vorstellungen zu bauen. Und das zu einem verhältnismäßig günstigen Preis. Meine Ersparnisse reichten dafür nicht, also musste ich einen großen Teil finanzieren. Aber mit der Boutique im Rücken war es kein Problem, einen Kredit zu bekommen.«

Interessiert hörte Max zu. Er konnte sich schon jetzt lebhaft vorstellen, wie diese für einen weniger herzlosen Menschen gewiss rührende Geschichte ausgegangen war.

»Die Firma begann mit dem Bau, doch schon kurz nach Errichtung des Rohbaus wurden die Arbeiten von einem Tag auf den anderen eingestellt. Alles, was ich besaß, war eine Bauruine. Außerdem waren all meine Ersparnisse weg, und den Kredit musste ich auch zurückbezahlen. Ich war nicht das einzige Opfer, Hunderten war es ähnlich ergangen. Alle waren um ihr Geld betrogen worden und saßen nicht nur in unbewohnbaren Rohbauten, sondern auch auf einem Berg von Schulden. Rechtlich war nichts zu machen, denn der vermeintliche Geschäftsführer der Bauträgerfirma war nur ein Strohmann, der von den miesen Machenschaften des wahren Eigentümers nichts gewusst hatte und selbst um seinen Lohn betrogen worden war. Er hatte kein Geld und litt darüber hinaus an einer unheilbaren Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselte. Ihn zu verklagen, wäre sinnlos gewesen.«

Leukämie!, dachte Max und grinste selbstzufrieden über seinen eigenen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, die Geldströme von den Konten anderer Leute elegant in die eigene Tasche umzuleiten.

»Mein Geld war natürlich mitsamt dem Betrüger spurlos verschwunden«, fuhr Anna mit tonloser Stimme fort. »Die monatliche Belastung durch die Kredittilgung und die ständig wachsenden Zinsbeträge wurde irgendwann zu viel. Ich musste mein Geschäft verkaufen, um wenigstens einen Teil meiner Schulden ausgleichen zu können. Anschließend stand ich beruflich vor dem Nichts.«

»Schlimme Sache«, heuchelte Max Mitgefühl, das ihm wesensfremd war, während er über die Dummheit dieser Frau hinter vorgehaltener Hand heimlich grinste.

»Am Ende sah ich keinen anderen Ausweg mehr«, fuhr Anna fort. »Von meinem letzten Bargeld kaufte ich im Baumarkt einen robusten Strick und erhängte mich im Badezimmer!«

Ihre letzten Worte wischten das Grinsen aus Max’ Gesicht. Irritiert schreckte er hoch. Moment mal, was erzählt die Alte bloß für einen Mist? Da sie hier neben ihm hockte, konnte die Sache mit dem Erhängen ja nicht geklappt haben! Konnte diese Versagerin eigentlich gar nichts richtig machen?

»Ganz im Gegenteil, Max. Diesmal hab ich alles richtig gemacht«, widersprach Anna, beugte sich nach vorn, bis ihr Gesicht wieder ins Licht geriet, und starrte ihn aus ihren tief in den Höhlen liegenden Augen anklagend an. »Fast eine ganze Woche hing ich an dem verdammten Seil, bis ich endlich gefunden wurde. Es war der Gerichtsvollzieher, der gekommen war, um mich aus meiner Wohnung zu werfen, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Und das alles nur wegen dir und deiner verfluchten Skrupellosigkeit. Du hast mich auf dem Gewissen, Max Ackermann!«

Erschrocken wich Max zurück, so weit es ihm der Barhocker gestattete. Die Alte war ja komplett wahnsinnig! Es war gut möglich, dass er sie vor einigen Jahren tatsächlich um ihr Geld gebracht hatte. Es waren damals so viele gewesen, dass er sich nicht mehr an jeden Einzelnen erinnern konnte. Aber er hatte doch nur ihr Geld genommen und nicht ihr … ihr Leben.

»Mein Tod geht auch auf dein Konto, Max Ackermann!«, ertönte in diesem Moment eine neue Stimme unmittelbar hinter ihm.

Max wirbelte auf dem Hocker um die eigene Achse und sah sich nach dem Sprecher um.

Die übrigen Gäste in der Bar hatten ihre Plätze verlassen. Während seiner Unterhaltung mit Anna waren sie lautlos und unbemerkt aus ihren Nischen geschlüpft und näher herangekommen. In einem engen Halbkreis standen sie nun vor ihm im trüben Lichtschein und präsentierten sich in all ihrer Schönheit. Und einer sah schlimmer aus als der andere.

»Bei mir lief die Sache nahezu identisch ab«, sagte ein Mann. »Ich hab mich allerdings nicht aufgehängt, sondern mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Das ging schneller.« Er bohrte seinen Zeigefinger in das schwarz verkrustete Einschussloch in seiner rechten Schläfe, bis die vorderen beiden Fingerglieder komplett darin verschwunden waren.

»Mich hast du auch über den Tisch gezogen, Max Ackermann«, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, dessen verzerrte Gesichtszüge Max sogar vage vertraut vorkamen. »Du hast mir meine Firma gestohlen! Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als meine ganze Familie mit in den Tod zu nehmen, um ihnen ein Leben in Armut und Schande zu ersparen.«

Die Frau an seiner Seite nickte heftig. Man konnte noch immer sehen, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Doch jetzt sah ihr Schädel aus, als wäre er von einem brutalen Axthieb in zwei ungleichmäßige Hälften gespalten worden. Auch die Körper und Köpfe der beiden kleinen Kinder, die in ihren mit Comicfiguren bedruckten Schlafanzügen vor dem Paar standen und Max aus großen leblosen Augen finster anstierten, sahen schrecklich deformiert und verunstaltet aus.

»Du hast meine gesamten Ersparnisse gestohlen, die ich dir für Anlagezwecke anvertraut hatte!«, rief eine Frau aus dem Hintergrund. Sie hob ihre Arme und präsentierte ihm ihre blutleeren aufgeschlitzten Handgelenke, als wären es grauenerregende Trophäen.

»Meine auch, du Betrüger!«

»Ackermann, du hast uns ruiniert!«

»Gemeiner Dieb!«

»Wir haben alles verloren!«

Nachdem so ziemlich jeder der Anwesenden mit Ausnahme des Barmanns seinem Unmut lautstark Luft gemacht hatte, kehrte zunächst wieder Ruhe ein. Sogar die Hintergrundmusik war mittlerweile verstummt.

Max war während der anklagenden Worte unwillkürlich auf der Sitzfläche des Hockers immer weiter nach hinten gerutscht, bis er mit dem Rücken gegen die Bar stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte.

»Was auch immer du jedem Einzelnen von uns angetan hast, Max Ackermann«, meldete sich da wieder Anna zu Wort, »heute ist endlich der lang ersehnte Zahltag gekommen. Denn heute Nacht wirst du für deine Untaten bezahlen – mit deinem Leben, mit deinem Blut und mit deinem Fleisch!«

Max wandte rasch den Kopf, obwohl er am liebsten alle Anwesenden gleichzeitig im Auge behalten hätte. Die Frau, die sich ihm mit dem Namen Anna vorgestellt hatte, stand nun unmittelbar neben ihm im düsteren Licht. Er konnte die schwarzen Wundmale an ihrem Hals erkennen, wo sich der Strick tief in ihr nachgiebiges Fleisch gegraben hatte.

Max räusperte sich und setzte zum Sprechen an. Er wollte die Menge mit den beruhigenden Worten des geborenen Verführers, der er war und ihm bisher so viel Erfolg beschert hatte, zur Vernunft bringen. Zur Not würde er ihnen sogar versprechen, das Geld mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten.

Doch die gierige Meute vor ihm kannte nun kein Halten mehr. Als wären Annas Worte der Startschuss gewesen, stürzten sich alle gleichzeitig schreiend und heulend auf den Mann in ihrer Mitte, den sie zuvor bereits mit Worten zu der Strafe verurteilt hatten, die sie nun eigenhändig vollstrecken wollten.

Max schrie gellend, als zahlreiche eisig kalte Klauen gleichzeitig nach ihm griffen und an seinen Armen und Beinen zerrten. Zähne gruben sich an mehreren Stellen durch seine Kleidung und tief in sein Fleisch. Ein besonders gieriges Maul schloss sich um sein rechtes Ohr und riss es ihm mit einem einzigen extrem schmerzhaften Ruck vom Kopf. Etwas Spitzes bohrte sich in sein rechtes Auge und hebelte den Augapfel aus seiner Höhle. Dann wühlten sich gekrümmte Klauenfinger in seinen Hals und rissen ihm den Kehlkopf heraus.

Max Ackermanns qualvoller Schrei endete wie abgeschnitten. Im Hintergrund setzte wieder leise Barmusik ein, als der Barmann den CD-Spieler anmachte, und begleitete das Reißen nachgebenden Fleisches und das Krachen berstender Knochen. Nach einer Weile wurden diese Geräusche jedoch leiser und durch lautes Schlürfen und genießerisches Schmatzen ersetzt. Gelegentlich rülpste sogar jemand laut.

Nachdem die erbarmungslose, rachsüchtige Meute ihr grausiges Mahl vollendet hatte, wandte sie sich stumm von den Überresten ab und verschwand wie eine Prozession von Geistern einer nach dem anderen geräuschlos durch eine im Schatten liegende Tür im hinteren Teil der Bar.

Der schweigsame Barkeeper nahm einen Lappen und einen Eimer mit Wasser und wischte die dunklen Flecken auf, die von Max Ackermann übrig geblieben waren. Er sammelte auch die zerfetzten, bluttriefenden Reste der ehemaligen Designerkleidung, eine teure Armbanduhr, ein Schlüsselbund, eine dicke Brieftasche und ein paar zerbrochene, ausgelutschte Knochenstücke ein, ehe er hinter den Tresen zurückkehrte und begann, die Gläser abzuräumen.

Während er die Gläser spülte, öffnete sich die hintere Tür ein weiteres Mal und entließ einen Schwung merkwürdiger, schweigsamer Gestalten. Die neuen Gäste kamen ebenso wortlos und diszipliniert, wie die alten zuvor das Feld geräumt hatten, in die Bar und verteilten sich anschließend an der Theke und auf die Sitznischen.

Trotz der leisen Hintergrundmusik hörte der Barmann schon bald darauf, wie draußen ein Wagen in die Gasse fuhr und neben dem Porsche des kürzlich verstorbenen Multimillionärs Max Ackermann anhielt, dann verstummte der Motor. Der Barkeeper wartete noch eine halbe Minute, ehe er auf einen unter dem Tresen verborgenen Knopf drückte, wodurch die Neonbeleuchtung über dem Eingang – mit Ausnahme des ausgefallenen o in Mortuary – wieder zu leuchtendem Leben erweckt wurde.

Kurz darauf hörte man, wie eine Autotür zuschlug und zaghafte Schritte die steinernen Stufen vor der Tür herunterkamen.

Die unheimlichen Gestalten in den Schatten und der Barkeeper warteten stumm und reglos auf den nächsten Gast, der in dieser besonderen Nacht hierher bestellt worden war und gleich durch die Tür in die Bar kommen würde.

Da sollte noch mal einer behaupten, das Geschäft in dieser Gegend liefe schlecht. Genau das Gegenteil war der Fall. Schließlich war heute Zahltag in der Mortuary Bar!

ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

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