Читать книгу ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR - Eberhard Weidner - Страница 4

PETERS GEHEIMNIS

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Kevin ließ seinen aufmerksamen Blick über den Teil des Friedhofs gleiten, den er von seinem Versteck aus einsehen konnte, entdeckte seinen Freund aber nirgends. Wo steckte Peter bloß? Vorsichtig ließ Kevin die Äste der Büsche, die er mit den Händen geteilt hatte, an ihren Platz zurückgleiten, lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Friedhofsmauer und dachte nach, was er tun sollte.

Natürlich konnte er nicht einfach über den Friedhof spazieren, um nach Peter zu suchen, denn viele Besucher – in seinen Augen größtenteils uralte Leute, die bald für immer hier wohnen würden – mochten es nicht, wenn Kinder an diesem Ort der Trauer spielten, herumtobten und Lärm machten. Und der Friedhofsarbeiter, den sie wegen seines merkwürdigen Aussehens und seines humpelnden Gangs Quasimodo getauft hatten, jagte sie mit seinem Gehstock, sobald er sie entdeckte. Peter hatte ihm erzählt, der Mann würde alle Kinder, die er erwischte, in kleine Särge stecken, die er in seinem Häuschen neben dem Friedhof selbst anfertigte, und heimlich vergraben. Nachts könnte man manchmal ihre gedämpften Schreie hören, sofern man überhaupt den Mut hatte, zu dieser Zeit über den Friedhof zu gehen.

Kevin hatte es bei der Geschichte ziemlich gegruselt, obwohl er nicht sagen konnte, ob er wirklich daran glaubte. Peter erzählte ständig solche Geschichten. Aber wenn sie wirklich stimmte, hätte man Quasimodo doch längst ins Gefängnis gesteckt, oder? Andererseits sah der Mann ganz so aus, als wäre er zu derartigen Dingen in der Lage. Kevin erschauerte bei dem Gedanken unwillkürlich und sah sich furchtsam um, ob Quasimodo sich nicht heimlich angeschlichen hatte und in diesem Moment seine krummen Finger, an denen in der Regel noch die Erde eines frisch ausgehobenen Grabes klebte, nach ihm ausstreckte. Zu seiner Erleichterung war jedoch niemand in der Nähe.

Kevin verstand ohnehin nicht, warum die Erwachsenen nicht wollten, dass sie hier waren. Sie machten schließlich nichts kaputt. Und außerdem konnte man hier prima spielen. Besser als auf dem Spielplatz, wo einen die größeren Jungs ärgerten, der Sandkasten voller Hundescheiße war und die meisten Spielgeräte seit Langem kaputt waren. Hier wuchsen entlang der Mauer, die den ganzen Friedhof umgab, so viele Büsche und Bäume, dass es mindestens zwanzig, wenn nicht sogar hundert gute Verstecke gab.

Kevin hatte nur ganz selten richtig Angst, wenn er hier war. Nur manchmal, wenn sie in ihrem Lieblingsversteck saßen, während es schon dunkel wurde, und Peter eine seiner Gruselgeschichten erzählte, dann hatte er schon ein bisschen Angst. Aber eigentlich nur ganz wenig, nicht mal halb so viel wie beim Zahnarzt.

Natürlich, unser Lieblingsversteck!, dachte Kevin und lächelte. Warum bin ich Hirni nicht gleich darauf gekommen? Er klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn, stieß sich von der Mauer ab und spähte durch eine Lücke in den Büschen nach draußen. Im Moment war niemand zu sehen, weder ein Besucher noch der fiese Quasimodo, der Kinder jagte, um sie nachts heimlich zu verscharren.

Kevin schlüpfte vorsichtig aus dem Versteck und rannte dann geduckt über das Gräberfeld, so wie sie es in den Soldatenfilmen machten, wenn sich die Kompanie an feindliche Linien anschlich. Sein Ziel war die gegenüberliegende Seite des Friedhofs, wo sich ihr bestes und liebstes Versteck befand. Zwei Bäume waren dort schief gegeneinander gewachsen und bildeten so ein natürliches Dach, unter dem die beiden Freunde bequem Platz und bei schlechtem Wetter sogar Schutz vor den Elementen fanden. Außerdem wurde die Stelle durch mehrere Büsche vor den Blicken anderer Leute abgeschirmt und bot so den idealen Unterschlupf.

Kevin stoppte auf halber Strecke hinter einem schwarzen polierten Grabstein aus Granit und spähte daran vorbei. Ein gutes Stück entfernt kauerte eine dunkel gekleidete, schon ziemlich alte Frau vor einem Grab und goss die Pflanzen aus einer grünen Plastikgießkanne. Kevin glaubte nicht, dass sie ihn hören konnte, denn dazu war sie viel zu weit weg. Außerdem war sie höchstwahrscheinlich schon genauso schwerhörig wie Oma Gertrud.

Er rannte weiter und kam in den neueren Teil des Friedhofs. Er spurtete an einem frischen Grab vorbei, das mit welkenden, intensiv riechenden Blumen und zahlreichen Kränzen übersät war und noch keinen Grabstein, sondern nur ein schlichtes hellbraunes Holzkreuz besaß, auf dem lediglich der Vorname der Person stand, die hier begraben lag. Auf einer Schleife, die im leichten Wind flatterte, konnte er im Vorbeilaufen die Worte »Unser geliebter Sohn« lesen, dann war er aber schon vorbei und sauste zu den Büschen. Er teilte sie gekonnt mit den Armen, ohne mit der Kleidung irgendwo hängen zu bleiben oder sich wehzutun, und schob sich dann hindurch, als würde er im Sommer mit einem Hechtsprung ins Schwimmbecken des Freibads eintauchen.

»Na, endlich lässt du dich auch mal blicken«, begrüßte ihn Peter. »Wo warst du denn so lange?«

Kevin ließ sich vor seinem besten Freund auf die Knie fallen und atmete schwer. Peter lag auf der Seite, hatte den Kopf lässig in eine Hand gestützt und schaute betont cool auf seine Lego-Armbanduhr, um die Kevin ihn insgeheim beneidete.

»Ich musste erst noch Schularbeiten machen«, antwortete Kevin, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Und dann war ich erst im falschen Versteck, bevor mir einfiel, dass du vermutlich hier bist.«

»Schularbeiten?«, fragte Peter und verzog dabei angewidert das Gesicht, als wäre von etwas furchtbar Ekligem die Rede, beispielsweise von Eukalyptusbonbons, die Kevin immer lutschen musste, wenn er erkältet war, oder Spinat, den er mehr als alles andere verabscheute.

»Ja, Schularbeiten!«, wiederholte Kevin und streckte seinem Freund die Zunge heraus. »Und wieso warst du heute eigentlich nicht in der Schule? Bist du etwa krank?«

Peter zuckte mit den Schultern. »Nö! Ich hatte keine Lust. Wieso, hat jemand nach mir gefragt?«

Kevin überlegte, zuckte dann mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Nö.«

»Siehst du. Die trotteligen Lehrer bemerken es noch nicht mal, wenn ich nicht da bin.«

»Und wo warst du dann?«

Peter sah sich um, als befürchtete er, jemand könnte ihr Gespräch belauschen. Aber sie waren noch immer unter sich. »Ich war an einem geheimen Ort«, flüsterte er dann in einem verschwörerischen Tonfall.

Kevin kicherte. »Mensch, Peter! Du spinnst doch nur wieder und erzählst Geschichten.«

Peter stieß sich mit den Händen vom Boden ab und brachte sich in eine sitzende Position. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Es stimmt aber, Kev, ehrlich! Ich kann es sogar beschwören!« Er hob die linke Hand und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab, während er die andere Hand auf die Brust legte, dorthin, wo sein Herz war. »Ich schwöre es!«

»Echt?« Kevin machte große Augen. Peters ernsthaftes Verhalten überzeugte ihn, dass dieser ausnahmsweise nicht flunkerte. Immerhin hatte er richtig geschworen, und damit machten die beiden Jungs keine Späße. Ein Schwur war eine ernste Sache. Kevin wurde ganz aufgeregt und konnte nur mit Mühe ruhig hocken bleiben, denn wenn es etwas gab, das ihn mehr als alles andere faszinierte, dann waren es Geheimnisse aller Art, zum Beispiel Geheimverstecke, Geheimagenten, geheime Piratenschätze und natürlich geheime Orte. »Und wo ist dieser geheime Ort?«

Peter hob bedauernd die Schultern. »Tut mir leid, Kev, aber wenn ich dir das sage, muss ich dich anschließend töten!«

»Was?«

»War nur ein Scherz, Kevin«, sagte Peter und lachte leise. »Aber im Ernst, ich kann es dir nicht verraten.«

»Hey, das ist jetzt aber voll gemein«, rief Kevin zutiefst entrüstet, dämpfte aber sofort wieder seine Stimme, als er sich an die anderen Friedhofsbesucher und vor allem an Quasimodo und dessen selbst gefertigte Kindersärge erinnerte. »Du kennst es doch auch. Warum darf ich es dann nicht wissen?«

»Eben darum.«

»Eben darum?«, wiederholte Kevin ungläubig. »Eben darum ist überhaupt kein richtiger Grund. Eben darum ist blöd! Das ist so gemein von dir, Peter!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Blick ab, als ihm Tränen in die Augen traten, die sein Freund nicht sehen sollte. Er fühlte sich von Peter verraten, der einen geheimen Ort kannte und ihm nichts verraten wollte. »Und dabei dachte ich, wir wären die besten Freunde«, sagte er leise und zutiefst enttäuscht.

»Na gut«, lenkte Peter da ein und seufzte. »Ich zeig dir den Ort.«

Kevin hätte vor Freude beinahe laut gejubelt, beherrschte sich jedoch gerade noch. Stattdessen kicherte er nur leise, riss die Arme nach oben und wischte sich mit den Ärmeln verstohlen die Tränen vom Gesicht. »Wann? Jetzt gleich?«

Peter schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt geht das nicht.«

»Was? Wann denn dann? Jetzt sag schon!«

»Heute Nacht.«

»In der Nacht?«, fragte Kevin verblüfft. »Spinnst du? Da muss ich doch schlafen!«

»So ist aber die Regel. Wenn du den geheimen Ort sehen willst, dann geht das nur in der Nacht! Also, kommst du jetzt oder kommst du nicht?«

Kevin überlegte. Im Grunde war es für ihn überhaupt kein Problem, heimlich aus dem Fenster seines Zimmers in den Garten zu steigen, wenn seine Mutter ihn zu Bett gebracht hatte. Nachdem Peter ihm den geheimen Ort gezeigt hatte, konnte er dann ebenso problemlos wieder ins Haus zurück. Niemand würde bemerken, dass er überhaupt weg gewesen war. »Okay, ich bin dabei!«

»Dann ist es abgemacht! Aber es gibt noch eine Regel.«

»Welche?«

»Du darfst keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht einmal deiner Mama oder deinem Papa.«

»Mach ich schon nicht. Was glaubst du denn? Es ist schließlich unser Geheimnis, Peter.«

»Dann schwöre es!«

Kevin hob die linke Hand und spreizte wie zuvor sein Freund drei Finger. Die andere Hand presste er gegen die Brust. »Ich schwöre, dass ich keiner Menschenseele, nicht einmal meiner Mama oder meinem Papa, ein Sterbenswörtchen von Peters Geheimnis erzählen werde!«

Peter nickte zufrieden. »Okay.«

»Erzählst du mir jetzt schon was über den geheimen Ort, Peter?«

»Das geht nicht. Aber du wirst es ja heute Nacht selbst sehen.«

Kevin wurde noch aufgeregter. Das musste ja ein super-obergeheimer Ort sein, wenn ihm sein Freund nicht mal ein klitzekleines bisschen darüber erzählen durfte. Er konnte es nicht lassen, eine weitere Frage zu stellen. »Aber sag mir wenigstens, wie es denn so an dem geheimen Ort ist?«

Peter hob den Blick, lächelte versonnen und starrte verträumt ins Leere. »Da ist es voll … cool. Es wird dir dort bestimmt gefallen, Kev. Das verspreche ich dir.«

Kevin grinste. »Super. Ich wünschte nur, es wäre schon so weit. Ich kann es kaum erwarten.«

»Ach, bevor ich es vergesse, ich hab noch was für dich«, sagte Peter und griff in die Tasche seiner Jeans, an der noch Friedhofserde klebte. Er brachte einen kleinen, mattweiß schimmernden Gegenstand zum Vorschein und legte ihn in Kevins Handfläche. »Hier, das schenk ich dir.«

»Was ist das denn?«, fragte Kevin und betrachtete das seltsame Ding aufmerksam von allen Seiten. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Das stammt von dem geheimen Ort. Da gibt es noch viel mehr davon.«

»Echt? Das ist ja voll endgeil!«, sagte Kevin begeistert. Vielleicht war das Ding sogar wertvoll, auch wenn es momentan nicht danach aussah. Unter Umständen war es Teil eines geheimen Schatzes. Kevin stellte sich vor, wie er nach Hause kam, mit Gold, Juwelen und jeder Menge toller Spielsachen beladen. Seine Eltern würden jubeln, ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut, dass du nachts heimlich aus dem Fenster geklettert und zu diesem geheimen Ort gegangen bist, Kevin! Jetzt sind wir endlich steinreich, und du musst nie wieder Spinat und Eukalyptusbonbons essen!«

»Du darfst es aber niemandem zeigen«, ermahnte ihn Peter und riss ihn dadurch aus seinen Träumereien. »Das ist die dritte Regel. Nicht einmal der doofen Katharina

Kevin schüttelte heftig den Kopf und schloss rasch die Hand um sein Souvenir von dem geheimen Ort. Seiner Schwester, Eingeweihten auch als doofe Katharina bekannt, würde er nie im Leben ein Geheimnis verraten oder diesen Gegenstand zeigen. Die würde nämlich nur zu den Eltern rennen und ihn verpetzen. Das machte sie immer! Er schob das Ding rasch in die Hosentasche, damit er es nicht verlor, und sah auf seine Uhr. Nachdem er an den Fingern abgezählt hatte, wie viele Stunden er noch warten musste, bis er den geheimen Ort sah, stöhnte er leise. Sie mussten unbedingt etwas tun, damit die Zeit schneller verstrich. »Lass uns Geheimagenten spielen, Peter!«, schlug er vor.

»Einverstanden, Kev!«

Als Kevin pünktlich um halb sechs nach Hause kam, bereitete seine Mutter in der Küche bereits das Abendessen vor.

»Na, wo hast du dich denn heute wieder herumgetrieben?«, fragte sie.

»Och, ich war nur spielen.«

»So? Warst du etwa ganz allein unterwegs?«

»Nö, natürlich nicht! Ich war doch mit Peter zusammen.«

Seine Mutter sah ihn mit traurigem Blick an und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »O Kevin!«, seufzte sie. Dann bemühte sie sich jedoch wieder um ein Lächeln. »Jetzt aber ab ins Badezimmer mit dir! Wasch dir bitte die Hände, gleich gibt es Abendessen.«

Hinterher durften Kevin und seine Schwester noch ein bisschen fernsehen. Nach dem Sandmännchen wurde Katharina ins Bett gebracht, die zwei Jahre jünger als Kevin war. Sie protestierte und schrie, als würde man sie zum Schafott führen, so wie sie es jeden Abend tat, fügte sich dann aber, nachdem ihr Vater ihr einen tadelnden Blick zugeworfen hatte. Schmollend und mit zornesfinsterer Miene zog sie ab und ging ins Bad, um sich zu waschen und Zähne zu putzen.

Kevin genoss das Privileg, länger als seine Schwester aufbleiben zu dürfen, doch dann war auch seine Zeit abgelaufen. Obwohl auch er sonst heftig, wenngleich chancenlos um ein paar zusätzliche Minuten feilschte, ließ er es für heute bleiben. Der Vater warf der Mutter einen fragenden Blick zu, als Kevin anstandslos aufstand und davonstapfte, doch diese hob nur ratlos die Schultern.

Als Kevin im Bett lag, kämpfte er gegen die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte. Aber er durfte nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Mutter zurück ins Wohnzimmer ging. Nun musste er nur noch warten, bis etwas Ruhe eingekehrt war. Da der Fernseher lief, würden seine Eltern nicht hören, wie er das Fenster öffnete und hinauskletterte. Und die doofe Katharina, deren Zimmer nebenan lag, schlief sicher schon tief und fest.

Kevin hatte den Gegenstand, den Peter ihm gegeben hatte, vor dem Ausziehen heimlich unter sein Kopfkissen gesteckt. Nun holte er ihn hervor und rieb unter der Bettdecke mit den Fingern daran herum, als wäre es Aladins Wunderlampe und könnte Wünsche erfüllen.

Er hörte, dass sich seine Eltern im Wohnzimmer unterhielten. Er konnte allerdings nichts verstehen, und es interessierte ihn auch nicht, worüber sie sprachen. Erwachsenensachen wahrscheinlich. Er ließ den geheimnisvollen Gegenstand durch seine Finger gleiten, ertastete seine merkwürdige, aber dennoch irgendwie vertraut wirkende Form und fuhr über die dicken Rundungen an beiden Enden und den dünnen, glatten Mittelteil.

Bald würde es so weit sein. Er lächelte voller Vorfreude, als er sich vorstellte, dass er noch in dieser Nacht Peters Geheimnis kennenlernen würde.

»Sag mal, was ist eigentlich mit Kevin los?«, fragte Stephan Bauer, als seine Frau ins Wohnzimmer zurückkam. »Kein Theater, kein Gejammer. Ist der Junge etwa krank?«

Rita Bauer ließ sich seufzend auf die Couch sinken. »Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«

Durch den Tonfall seiner Frau alarmiert, wandte er den Blick von der Mattscheibe und sah sie fragend an. »Was ist passiert? Hat es wieder etwas mit … mit seinem Freund zu tun?«

»Du meinst Peter?«, fragte Rita und zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte schon.«

»Er kommt wohl immer noch nicht darüber hinweg, oder?«

»Ich glaube eher, dass er noch gar nicht realisiert hat, was geschehen ist«, widersprach sie.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Als ich ihn fragte, wo er heute war, sagte er vollkommen überzeugt, er sei spielen gewesen. Aber nicht allein, sondern natürlich mit … mit Peter.« Sie wischte sich rasch eine Träne weg, die ihr aus dem rechten Auge und übers Gesicht gelaufen war. »O Gott, was ist bloß mit unserem Jungen los?«

Stephan rückte näher und legte ihr mitfühlend und Trost spendend einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, seine Reaktion ist in diesem Alter ganz normal. Er verdrängt einfach, was passiert ist. So ist es für ihn leichter zu ertragen.«

»Aber er war doch selbst dabei, als es passierte!«, wandte Rita schluchzend ein. »Er hat doch alles mit eigenen Augen gesehen …!«

In grausamer Deutlichkeit konnte sich Rita Bauer noch immer an den exakten Ablauf der Ereignisse erinnern, die erst vor vier Tagen ihr Leben erschüttert hatten. Zunächst hatte sie die Sirenen gehört. Wie jedes Mal beim Klang der Martinshörner war in ihr die Sorge um ihren Sohn erwacht, der mit seinem besten Freund draußen beim Spielen war. Doch zu ihrer Erleichterung kam Kevin schon kurze Zeit später wohlbehalten nach Hause.

»Nanu, was machst du denn schon hier, Kevin?«, fragte Rita. Einerseits war sie erleichtert, dass es ihrem Sohn gut ging. Andererseits kam er sonst nie vor dem vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, sondern nutzte jede freie Minute, um mit Peter in der Umgebung herumzustromern und zu spielen.

»Peter musste … Er ist nach Hause gegangen.«

»Wieso das denn? Gab es etwa Ärger oder so?«

»Keine Ahnung«, meinte Kevin und schenkte sich ein Glas Apfelsaftschorle ein.

Erst anderthalb Stunden später, als die Polizei vor ihrer Tür stand, erfuhr sie, was an diesem Nachmittag tatsächlich geschehen war.

Die beiden Jungen hatten trotz mehrfachen ausdrücklichen Verbots beider Elternpaare an der Bahnstrecke gespielt. Sie hatten Ein- und Zwei-Cent-Münzen auf die Schienen gelegt, damit die Räder der vorbeifahrenden Züge sie platt walzten. Und dabei war das schreckliche Unglück geschehen. Aufgrund bisher ungeklärter, höchst tragischer Umstände war der siebenjährige Peter von einem Interregio-Express erfasst und förmlich in Stücke gerissen worden.

Kevin musste direkt danebengestanden und das Unglück mitangesehen haben, konnte sich allerdings an nichts erinnern. Vehement und nach Ritas Ansicht sehr überzeugend bestritt er, überhaupt in der Nähe der Bahnstrecke gewesen zu sein. Stattdessen erklärte er immer wieder, Peter sei nach Hause gegangen. Sie bedrängten den Jungen schließlich nicht weiter, da er standhaft bei seiner Geschichte blieb, sondern schickten ihn zu Bett.

Nachdem die Kinder im Bett und die Polizisten wieder gegangen waren, brachte Rita noch rasch die Wäsche in den Keller, um sie in die Maschine zu stecken. Sie war noch zu aufgewühlt, um sich vor den Fernseher setzen und auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren zu können. Stattdessen musste sie sich bewegen und etwas tun. Als sie die Wäschestücke sortierte, stellte sie voller Entsetzen fest, dass die Flecken auf Kevins T-Shirt und Jeans, die sie auf den ersten Blick für Dreckspritzer gehalten hatte, unzählige kleine Blutstropfen waren, die die Kleidungstücke an der Vorderseite von oben bis unten bedeckten. Peters Blut!, hatte sie angewidert gedacht. Sie hatte die Sachen gar nicht mehr gewaschen, sondern umgehend in die Mülltonne vor dem Haus gesteckt.

»Vielleicht hätten wir ihn doch mit zur Beerdigung nehmen sollen«, meinte Rita nun.

»Ich glaube immer noch, dass es so für ihn besser war«, widersprach ihr Mann. »Die Beisetzung seines besten Freundes hätte ihn vermutlich nur verwirrt und zu sehr aufgewühlt.«

»Vermutlich hast du ja recht. Aber er hat sich heute Abend so merkwürdig benommen.«

»Das legt sich mit der Zeit wieder. Wirst schon sehen.«

Rita schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hab schon die ganze Zeit so ein komisches Gefühl.« Sie straffte sich und erhob sich von der Couch. »Ich sehe besser noch mal nach dem Jungen. Vorher finde ich einfach keine Ruhe.«

»Wenn es dich beruhigt, dann tu das. Wirst schon sehen, dass alles in Ordnung ist.«

Rita verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur zum hinteren Teil des Hauses, in dem die Schlafzimmer der Familie lagen. Vor dem Zimmer ihrer Tochter blieb sie stehen, öffnete die Tür und spähte hinein. Im Schein des Nachtlichts sah sie, dass Katharina im Bett lag, ihren Teddy fest umklammert hielt und schlief. Mit einem Lächeln um die Lippen schloss Rita wieder leise die Tür.

Sie ging weiter, öffnete auch die nächste Tür möglichst lautlos und blickte ins Zimmer ihres Sohnes. Ihr Herz setzte aus, als sie das verwaiste Bett sah. Sie stieß die Tür ganz auf, machte Licht und stürmte hinein. Von Kevin war jedoch nichts zu entdecken. Stattdessen sah sie, dass der Vorhang zurückgezogen war und das Fenster ein kleines Stück offen stand.

»Kevin! Nein!« Rita eilte zum Bett, als hoffte sie, ihren Sohn übersehen zu haben und doch noch irgendwo zwischen dem zerwühlten Bettzeug zu finden. Doch sie sah auf den ersten Blick, dass sich unter der zurückgeschlagenen Decke niemand verbergen konnte. In der Mitte der Matratze zeichnete sich sogar noch der Umriss des Kindes auf dem Laken ab. Und genau dort lag ein merkwürdiger kleiner Gegenstand, der nicht hierher gehörte und deshalb sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Sie beugte sich vor und nahm den weißen Gegenstand, der sie unwillkürlich an Elfenbein erinnerte, in die Hand, um ihn genauer anzusehen. Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals in Kevins Händen gesehen zu haben. Es dauerte einen Moment, während sie das merkwürdige Ding von allen Seiten musterte, bis sie erkannte, um was es sich handelte.

Augenblicklich ließ sie den menschlichen Fingerknochen angeekelt fallen und schrie gellend. Dann stürzte sie ans Fenster, riss es ganz auf und blickte in die Nacht.

»Kevin!«, schrie sie den Namen ihres geliebten Sohnes in die Finsternis, immer wieder, doch sie erhielt keine Antwort und konnte keine Spur von ihm entdecken. Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, und ihr wurde instinktiv bewusst, dass Kevin zu einem schrecklichen Ort unterwegs war und sie soeben eines ihrer Kinder verloren hatte. Blicklos starrte sie in die finstere Nacht, die ihren Sohn verschlungen hatte und vermutlich nie mehr hergeben würde.

ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

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