Читать книгу ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR - Eberhard Weidner - Страница 6

ERSATZTEILE

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Bettina amüsierte sich prächtig. Ausgelassen tobte sie zum pulsierenden Rhythmus der Musik über die überfüllte Tanzfläche. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper, und die Kleider klebten ihr am Leib, doch das störte sie kaum. Sie lachte ausgelassen und gab sich ganz der Musik hin. Während sie tanzte, lebte sie nur für den Augenblick und hatte all ihre Probleme und Sorgen vergessen.

Als die Musik kurze Zeit später verstummte, blieb sie schwer atmend mitten auf der Tanzfläche stehen. Das nächste Stück, eine langsame Ballade, begann, doch sie hatte beschlossen, eine Weile zu pausieren und ihre Batterien aufzuladen. Sie schob sich durch die tanzende Menge und erreichte den Rand der Tanzfläche. Dort umstanden ihre Freunde einen hohen Stehtisch, auf dem ihre Getränke standen, beobachteten die Tanzenden oder versuchten, sich über den infernalischen Lärm hinweg zu unterhalten.

Bettina stellte sich neben ihre Freundin Beate und griff nach ihrem Glas. Gierig trank sie die süße Mischung aus Weißbier und Cola.

»Na, hast du endlich genug abgetanzt?«, schrie Beate ihr ins Ohr.

Bettina stellte ihr Glas ab und nickte. »Fürs Erste schon«, rief sie. Sie löste das durchgeschwitzte T-Shirt mit den Fingern von ihrer nassen Haut und versetzte es in flatternde Bewegungen, um ihrem Körper etwas Kühlung zu verschaffen. Allerdings schien es in der ganzen Disco keinen einzigen Kubikzentimeter kühler Luft zu geben.

Sie sah auf und bemerkte, dass Toni, der auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches stand, begehrliche Blicke auf ihre Brüste warf, die sich unter dem feuchten Stoff deutlich abzeichneten. Sie hob die Hand und zeigte ihm den Effenberg-Finger. Errötend senkte Toni den Blick und starrte in sein Glas. Bettina lachte laut, worauf sich Tonis Gesicht noch dunkler verfärbte, bis sogar seine Ohren zu glühen schienen.

Bettina wusste, dass Toni auf sie stand. Er hatte es in einem unbedachten Augenblick nach dem Genuss von zu viel Bier ihrer Freundin Beate anvertraut und vermutlich darauf vertraut, dass sie es nicht weitererzählte. Natürlich hatte Beate die Neuigkeit ihrer besten Freundin sofort brühwarm berichtet, worauf beide in schallendes Gelächter ausgebrochen waren. Tonis Gesichtsfarbe hatte damals einen ähnlichen, vielleicht sogar etwas dunkleren Farbton angenommen wie heute. Leider entsprach Toni so ganz und gar nicht Bettinas Geschmack und den Vorstellungen, die sie von dem Mann hatte, mit dem sie zusammen sein wollte, ebenso wenig wie all die anderen Jungs, die sie bisher kennengelernt hatte. Deshalb war sie noch immer solo, obwohl es ihr an Verehrern – einschließlich Toni, die Träne, wie sie und Beate ihn heimlich nannten – nicht mangelte. Doch sie war geduldig und wartete lieber auf den Richtigen, auf den Mann ihrer Träume sozusagen. Und obwohl sie im Grunde gar keine Ahnung hatte, wie ihr Traummann aussehen musste, wusste sie dennoch, dass sie ihn sofort erkennen würde, wenn er schließlich vor ihr stand. Und bis zu diesem Augenblick, der ihrer Meinung nach unweigerlich früher oder später kommen musste, würde sie eben warten.

Als sie von Beate in die Seite gestupst wurde, wandte sich Bettina ihrer Freundin zu.

Beate brachte ihren Mund ganz nah an Bettinas Ohr, damit sie nicht so laut schreien musste, und sagte: »Wir wollen noch ins Astro fahren. Kommst du mit?«

Bettina überlegte kurz. Das Astro gefiel ihr nicht so besonders, da dort nicht die Musik gespielt wurde, die ihr gefiel und zu der sie am liebsten tanzte. Außerdem sagte ihr auch das Publikum, das dort gewöhnlich verkehrte, nicht so zu. Sie wollte lieber hier bleiben und noch ein paar Runden tanzen. Daher schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich bleib lieber hier.«

Beate verzog missmutig das Gesicht. »Ach, komm schon! Alle kommen mit. Du kannst doch nicht alleine hierbleiben.«

»Sicher kann ich das!«, erwiderte Bettina und wiegte sich schon wieder fröhlich im Takt der Musik.

»Und wie willst du nach Hause kommen?«

Bettina hob die Schultern und hob in gespielter Unschuld die Arme. »Wer, glaubst du, könnte mir einen Wunsch abschlagen? Irgendeinen Dummen werde ich schon finden.«

Die beiden Mädchen lachten laut. Toni, der annahm, dass er schon wieder Zielscheibe ihres Spotts war, zog den Kopf noch ein Stück weiter zwischen die Schultern, als hätte er vor, wie eine Schildkröte im eigenen Panzer zu verschwinden.

Eine halbe Stunde später verabschiedeten sich die Freunde von ihr. Bettina und Beate umarmten sich und gaben sich gegenseitig Küsschen auf die Wangen. Toni, der Träne, war es anzusehen, dass er sich auch gerne so von ihr verabschiedet hätte. Doch da er sich noch nicht einmal traute, ihr die Hand zu geben, winkte er ihr nur zögerlich zu und trottete dann mit eingezogenem Kopf hinter den anderen her.

Nun war sie allein, doch das machte ihr nichts aus. Ab und zu war sie ganz gerne allein. Und wenn es ihr doch zu einsam werden sollte, würde sie gewiss keine Schwierigkeiten haben, hier nette Gesellschaft zu finden. Sie sah sich um und entdeckte ganz in der Nähe eine Gruppe junger Leute, von denen sie den einen oder anderen flüchtig kannte. Vielleicht würde sie später sogar einen von ihnen bitten, sie mitzunehmen und nach Hause zu fahren. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an einem jungen Mann haften, der ebenfalls allein war, am Rand der Tanzfläche stand, mit der rechten Hand ein Bierglas umfasst hielt und die Tänzer beobachtete.

Bettinas Herz setzte ein paar Schläge aus, als sie ihn erblickte. Sie wusste nicht, woher sie die plötzliche Gewissheit nahm, dennoch war sie sicher: Dort stand er, ihr Traummann. Und nun wusste sie auch endlich, wie er aussehen sollte. Wie eine Mischung aus Bradley Cooper und dem jungen Alain Delon. Bettina bemerkte, dass sie ihn anstarrte, und blickte schnell weg. Wenn er bemerkte, dass sie ihn wie eine dumme Göre anhimmelte, dann hatte sie doch gleich verschissen. Sie musste es schon geschickter anstellen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Bloß wie? Vielleicht sollte sie sich zuerst ein bisschen beruhigen, denn ihr Herz hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust, ihr Puls raste wie nach einem Tanzmarathon, und ihr Mund war so ausgetrocknet wie die Marsoberfläche, über die dieses kleine süße Fahrzeug gefahren war. Nicht gerade die beste Ausgangslage, um kühl und überlegt an diese Sache heranzugehen.

Ganz ruhig, sagte sie sich, einfach ganz cool und locker bleiben!

Obwohl es ihr immer leicht gefallen war, Leute anzusprechen und neue Freunde zu finden, wusste sie instinktiv, dass es dieses Mal nicht so einfach werden würde. Schließlich waren das bisher nur irgendwelche Leute gewesen, die ihr nie so viel bedeutet hatten, während es sich hier um den Mann ihrer Träume handelte, in den sie sich auf den ersten Blick unsterblich verliebt hatte. Davon war sie schon jetzt felsenfest überzeugt. Also musste sie gut überlegen, wie sie nun vorging und was sie sagte, wenn sie ihn ansprach, denn eine Zurückweisung von ihm würde sie nicht überleben, ganz bestimmt nicht. Und falls doch, würde sie eben nachhelfen müssen und in der Badewanne ihre Pulsadern aufschneiden. Denn sie wusste, dass sie ohne ihn nicht mehr leben konnte.

Da sie weder ihren Herz- noch ihren Pulsschlag beeinflussen konnte, beschloss sie, wenigstens etwas gegen die Trockenheit in ihrer Kehle zu unternehmen, nahm ihr Glas und stürzte den Rest des Colaweizens hinunter. Dabei fiel ihr Blick zufällig wieder auf ihren Traummann, und sie bemerkte, dass er sie ansah und lächelte. Beinahe wäre ihr das Glas aus den zitternden Fingern geglitten, doch sie umklammerte es krampfhaft und setzte es schnell ab. Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, war sich jedoch nicht sicher, ob es geklappt hatte, da sich ihr Gesichtsausdruck innerlich eher wie eine Grimasse anfühlte.

Das war’s dann wohl, blöde Kuh, schalt sich Bettina. Wahrscheinlich fragt er sich gerade, wer die Verrückte mit der beidseitigen Gesichtslähmung ist.

Doch plötzlich setzte sich der junge Mann in Bewegung und kam langsam auf sie zu, wobei er sie weiter anlächelte.

Bettina sah sich verwirrt um. Vielleicht meinte er ja gar nicht sie, sondern jemand anderen. Die meisten Leute in der Nähe waren jedoch mit anderen Dingen beschäftigt. Nur eine junge Frau, die allein an einer Säule in der Nähe lehnte, musterte sie für einen Moment mit ausdruckslosem Gesicht, blickte dann aber wieder gelangweilt weg.

»Hallo«, rief der gut aussehende, junge Mann, als er dicht neben ihr stand, und stellte sein Bier auf den Tisch.

Erschrocken fuhr Bettina zusammen. Sie drehte leicht den Kopf und blickte in seine warmen, braunen Augen. »Äh … hallo.«

Ihre Köpfe befanden sich nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt, damit sie sich unterhalten konnten, ohne zu schreien.

»Mein Name ist Andi«, stellte er sich vor. »Und wie heißt du?«

Normalerweise wäre Bettina über so eine plumpe, direkte Anmache in schallendes Gelächter ausgebrochen und hätte demjenigen, der versucht hätte, sie auf diese Art anzubaggern, noch einen Tritt in den Hintern mit auf den Nachhauseweg gegeben, doch im Augenblick war sie wie verzaubert. Wieso sollte man die Sache denn umständlich über Umwege angehen, wenn es auch so einfach und direkt ging? »Ich heiße Bettina«, sagte sie und kicherte dabei verlegen.

»Schön, dich kennenzulernen, Bettina«, sagte er lächelnd und streckte ihr seine Hand entgegen.

»Finde ich auch«, stimmte sie zu, ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie überschwänglich. »Ich heiße übrigens Bettina.«

Er lachte und befreite vorsichtig seine Hand aus ihrem Griff. »Ich weiß.«

Sie machte große Augen. »Woher weißt du meinen Namen?«

»Du hast ihn mir schon gesagt.«

»Schei…« Sie schlug die Hand vor den Mund, bevor das schlimme Wort ihr vollends entschlüpfen konnte, und schämte sich für ihre Dämlichkeit. Sich zweimal namentlich vorzustellen – wie bescheuert konnte ein Mensch eigentlich sein? Wenn er sie zuvor nicht für eine Vollidiotin gehalten hatte, dann spätestens jetzt.

»Ich heiße übrigens Andi«, sagte er und streckte ihr noch einmal die Hand entgegen.

Sie brach in schallendes Gelächter aus, und er fiel mit ein. Nach kurzer Zeit ebbte das Gelächter ab, und Bettina wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Nun haben wir uns wohl ausreichend miteinander bekannt gemacht«, sagte Andi.

»Stimmt.«

»Bist du ganz allein hier?«

Sie nickte. »Meine Clique ist noch woanders hingefahren, aber ich wollte nicht mit. Mir gefällt es hier. Und du?«

»Ich bin allein hierhergekommen«, antwortete er. »Ich fahre zurzeit mit meinem alten VW-Bus durch Europa. Ich hab eigentlich nur haltgemacht, weil ich ein paar Ersatzteile brauche, und so bin ich heute hier gelandet. Zum Glück, wie ich vor wenigen Augenblicken festgestellt habe.«

»Heißt das, dass du morgen schon wieder weiterfährst?«, fragte sie enttäuscht.

Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Ich bin frei und ungebunden wie ein Vogel. Wenn ich die Ersatzteile kriege, die ich brauche, bin ich morgen vielleicht schon wieder ganz woanders. In Rom, Venedig oder Paris, der Stadt der Liebe. Wer weiß? Vielleicht bleibe ich aber auch etwas länger hier, wenn es einen guten Grund dafür gibt.« Lächelnd zwinkerte er ihr zu.

Bettina schmolz beinahe wie Butter in der Mikrowelle dahin. »Toll!«, hauchte sie.

»Was?«

»Na ja, diese Freiheit. Einfach zu tun, was einem gefällt.« Sie senkte den Blick und starrte auf die Tischplatte. Während sie weitersprach, tauchte sie ihren Zeigefinger in eine Bierpfütze und zeichnete geometrische Figuren auf die Tischplatte. »Bei mir ist das ganz anders. Alles hier engt mich ein. Vor allem die blöde Schule und diese bescheuerten Lehrer. Das Abi schaffe ich wahrscheinlich sowieso nicht. Und dann sind da auch noch meine Eltern, die mir die ganze Zeit nur Vorschriften machen und damit so was von auf den Sack … ups« Sie verstummte erschrocken, nachdem ihr dieser Ausdruck herausgerutscht war, doch als sie ihn lachen hörte, fuhr sie fort: »… auf die Nerven gehen, wollte ich sagen. Die haben schon mein ganzes Leben verplant, und dabei kennen sie mich nicht einmal richtig.« Sie sprach mit tieferer Stimme weiter, um vermutlich ihren Vater zu imitieren. »Mach schön dein Abitur, mein Kind. Studiere etwas Vernünftiges, mein Kind. Heirate einen feinen Mann, mein Kind. Gebäre uns viele kleine Enkelchen, mein Kind.« Dann sprach sie wieder mit normaler Stimme weiter. »Es ist so was von zum Kotzen. Manchmal denke ich, ich muss ersticken. Und dann gibt es auch noch meine Schwester, Fräulein Neunmalklug, der Traum aller Eltern. Nur gute Noten, immer nett und niedlich. Manchmal möchte ich sie echt umbringen.« Bettina verstummte und blickte auf, um zu sehen, ob sie Andi durch ihren Redeschwall bereits in die Flucht geschlagen hatte. Doch er stand noch immer neben ihr und sah sie aufmerksam an. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm schon nach wenigen Minuten ihre Lebensgeschichte erzählte. Was ihre geheimen Wünsche und Träume anging, war sie sonst eher verschlossen. Nur Beate erzählte sie manchmal davon, schließlich war sie ihre beste Freundin und engste Vertraute, sonst niemandem. Zumindest bis zu diesem Moment.

»Hast du auch Geschwister?«

Er nickte. »Ja, ebenfalls eine Schwester. Aber die ist ganz okay. Wir verstehen uns prima.«

Sie lachte bitter. »Da hast du aber Glück gehabt.«

Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.

»Hör mal, Bettina«, begann Andi. »Wenn dich hier eh alles ankotzt, warum kommst du dann nicht einfach mit mir mit?«

Bettina starrte ihn mit großen Augen verblüfft an. Sie hatte gerade genau das Gleiche gedacht, hätte sich aber nie im Leben getraut, ihn zu fragen, ob er sie mitnehmen würde. Sie forschte in seinem Gesicht, ob er sich nur einen Spaß mit ihr erlaubte und sich insgeheim über sie lustig machte, doch es schien ihm ernst zu sein. »Ich kann doch nicht einfach so abhauen«, wandte sie ein, hoffte aber sehnlichst, dass er jetzt nicht etwa »Da hast du natürlich recht, vergiss es einfach!« sagen, sondern sie vielmehr vom Gegenteil überzeugen würde.

»Warum denn nicht?«, fragte er, und ihr fiel bei dieser Reaktion ein Stein vom Herzen. »Was hält dich denn noch hier?«

»Eigentlich … nichts«, stimmte sie zu. »Aber … aber ich kenne dich doch kaum.«

»Dann musst du mich eben besser kennenlernen«, sagte er lächelnd. »Und für den Anfang muss ich dir gleich ein Geständnis machen.«

»Was denn?«, fragte sie alarmiert und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Jetzt würde er ihr vermutlich erzählen, dass sie erst noch seine Freundin abholen mussten. Oder dass er unheilbar an Krebs erkrankt war, nur noch 5 Tage, 4 Stunden, 23 Minuten und 48 Sekunden zu leben hatte und durch Europa fuhr, um alle Länder vor seinem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Auf jeden Fall irgendetwas, das ihren Traum, mit ihm einfach von hier abzuhauen, schlagartig zum Platzen bringen würde.

»Also, ich weiß ja nicht, ob es dir ähnlich erging«, begann er, »aber als ich dich vorhin zum ersten Mal sah, war es, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich wusste instinktiv: Das ist das Mädchen, nach dem ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Ich bin überzeugt, dass wir füreinander bestimmt sind!«

»Echt?«

Er nickte mit todernstem Gesichtsausdruck und hob die rechte Hand. »Großes Indianerehrenwort.«

Sie lachte und wäre vor Erleichterung, Freude und Rührung beinahe in Tränen ausgebrochen. »Du wirst es nicht glauben, aber genauso ging es mir auch. Wirklich ganz genauso.«

Er grinste. »Irre, oder?«

»Total abgefahren.«

Sie lachten beide. Dann legte Andi seine rechte Hand auf ihre Schulter, beugte sich nach vorn und küsste sie. Sie schloss die Augen und erwiderte den Kuss, öffnete die Lippen und ließ seine Zunge in ihren Mund eindringen. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, löste er sich von ihr und schaute sie mit blitzenden Augen an.

»Und? Was sagst du jetzt?«

»Wozu?«

»Na, kommst du jetzt mit oder nicht?«

Sie warf sich freudig in seine Arme, umschlang ihn mit ihren Armen und bettete ihren Kopf an seine muskulöse Brust. »Wo immer dich dein Weg als Nächstes hinführt, ich komme mit dir.«

Kurz nach Mitternacht verließen sie Arm in Arm die Diskothek. Sie hatten noch etwas getrunken und sich ausgiebig unterhalten. Bettina war immer noch erstaunt, wie viel sie und Andi gemeinsam hatten. Außerdem konnte sie sich mit ihm super unterhalten. Er war ein guter Zuhörer und erzählte nur dann von sich, wenn er gefragt wurde. Bettina war fast trunken vor Freude, denn heute war der schönste Tag in ihrem Leben. Falsch, verbesserte sie sich, wir haben ja schon morgen. Also war gestern der schönste Tag in ihrem Leben gewesen, denn da hatte sie endlich ihren Traummann kennengelernt. Aber von nun an würden nur noch schöne Tage folgen, einer besser als der vorherige, das wusste sie.

Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während sie den Parkplatz überquerten. Andi führte sie zu einem alten, weißen VW-Bus.

»Darf ich vorstellen, das ist Berta«, sagte er, nachdem sie den Wagen erreicht hatten, und deutete auf das Fahrzeug. »Berta, das ist Bettina.«

Bettina lachte. »Berta? Wer hat sich denn den Namen ausgedacht?«

»Meine Mutter. Gefällt er dir?«

»Klar. Er passt irgendwie zu ihm … ups, ich meine natürlich, zu ihr.«

Andi umrundete die Front des Fahrzeugs, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Dann öffnete er von innen die Beifahrertür. Bettina hievte sich auf den Sitz und schloss die Tür.

»Wie sieht es denn hier aus?«, fragte sie und rümpfte in gespieltem Entsetzen die Nase, als sie all die leeren Getränkedosen und -flaschen, Schokoriegel-Verpackungen, Pizzaschachteln und den sonstigen Müll sah, der im Fußraum lag.

Andi zuckte die Schultern. »Ich wette, in deinem Zimmer sieht es auch nicht viel besser aus.«

»Diese Antwort ist richtig, der Kandidat hat hundert Punkte«, rief sie lachend.

Er lachte ebenfalls und startete den Wagen.

»Und? Wo fahren wir jetzt hin?«, fragte Bettina abenteuerlustig.

»Zu dir nach Hause.«

»Nach Hause?«, fragte sie enttäuscht.

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und steuerte den Bus dann aus der Parklücke. »Du willst doch bestimmt noch ein paar Sachen mitnehmen, bevor wir auf große Fahrt gehen, oder etwa nicht?«

»Stimmt«, sagte sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, sodass es laut klatschte. »Das hätte ich jetzt glatt vergessen.«

Andi lachte. »Das Ausreißen will eben gut geplant sein. Außerdem muss ich noch die Ersatzteile besorgen, von denen ich dir erzählt habe.« Er steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die schmale Landstraße und gab Gas.

Bettina schloss die Augen und lehnte sich entspannt zurück. Das war alles so aufregend. Eben erst hatte sie ihren Traummann kennengelernt, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte, und nun fuhr sie mit ihm schon auf und davon. Dabei war es ihr vollkommen egal, wohin die Reise ging, mit Andi an ihrer Seite würde es überall auf der Welt zauberhaft schön sein.

Sie wurde aus ihren Träumereien gerissen, als hinter ihr ein Summen wie von einem wütenden Bienenschwarm ertönte. Sie öffnete die Augen und sah zu Andi hinüber, doch er schien nichts gehört zu haben und konzentrierte sich ganz aufs Fahren. Vielleicht hatte sie sich ja auch getäuscht. Doch da hörte sie es erneut. Sie drehte den Kopf, um nachzusehen, woher das Geräusch kam, erblickte jedoch nur eine Sperrholzwand, die die Fahrerkabine vom hinteren Teil des Busses trennte.

»Was ist?«, fragte Andi und warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er seine Augen wieder auf die Straße richtete.

»Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört. Von hinten.«

»Was denn?«

»So ein komisches Summen«, erklärte sie.

»Ein Summen?«, wiederholte er und runzelte die Stirn. Er lehnte sich etwas zurück und legte den Kopf zur Seite, um zu lauschen, während er weiterhin die Straße im Auge behielt.

Nur wenige Sekunden später ertönte das Geräusch erneut.

»Da war es wieder!«, rief Bettina aufgeregt. »Hast du es jetzt auch gehört?«

Er nickte nachdenklich.

»Was ist das?«

Er zuckte mit den Schultern und schürzte die Lippen. »Möglicherweise stimmt was nicht mit dem Auto. Ich sagte dir ja schon, dass ich dringend ein paar Ersatzteile für Berta benötige.«

»Mit dem Auto stimmt etwas nicht?«, fragte sie erschrocken. Ihre Träume schienen dem Platzen schon wieder gefährlich nahe gekommen zu sein. Wenn das Auto jetzt seinen Geist aufgab, konnte sie die große Reise mit ihrem Traummann wohl vergessen. So ein Mist aber auch!

»Nur keine Panik«, sagte Andi und warf ihr einen zuversichtlichen Blick zu. »Bei der nächsten Gelegenheit halte ich an und sehe mal nach. Es kann nichts Schlimmes sein, immerhin fährt Berta ja noch, oder?«

Sie lachte erleichtert. Er hatte recht. Es konnte gar nichts Schlimmes sein, solange der Motor noch lief. Er hatte alles unter Kontrolle. Schließlich war er schon eine Weile mit dem Auto unterwegs und hatte das Problem wahrscheinlich in Windeseile behoben. Wie dumm von ihr, gleich das Schlimmste anzunehmen.

Andi verlangsamte die Geschwindigkeit und hielt nach einer Möglichkeit zum Anhalten Ausschau. Als sie zu einem schmalen Forstweg kamen, der rechts in den Wald führte, bremste er und lenkte den Wagen ein Stück in den Wald hinein. Als er den Bus schließlich stoppte, war von der Straße nichts mehr zu sehen.

»Okay, ich sehe dann mal nach, was dieses Summen verursacht. Kommst du mit?«

Ängstlich schaute Bettina durch die Scheiben nach draußen. Nachdem Andi die Scheinwerfer gelöscht hatte, war es stockfinster, und sie konnte nichts erkennen.

»Keine Angst, ich hab hier irgendwo eine Taschenlampe.«

Sie hörte ein Rascheln und Klappern, dann hatte er die Lampe gefunden. Er schaltete sie ein und richtete den Strahl von unten auf sein Gesicht. »Buh!«, machte er und zog eine schreckliche Grimasse.

»Hör sofort auf damit!«, schrie sie.

»Entschuldige«, sagte er und richtete den Lichtstrahl auf die Fahrertür. »Warte, dann komm ich herum und mach dir die Tür auf.« Er öffnete die Fahrertür und stieg aus. Als die Tür geöffnet wurde, ging die Innenbeleuchtung an, und Bettina atmete erleichtert auf. Doch als er die Tür hinter sich wieder zuschlug, erlosch auch das Licht. Verdammt!

Bettina behielt den Lichtstrahl der Taschenlampe im Auge, der vorn ums Auto herumwanderte. Sie konnte hören, dass Andi fluchte. Dann verschwand der Strahl der Taschenlampe, und ein lautes Plumpsen ertönte, als wäre ein schwerer Körper zu Boden gefallen.

»Andi, was ist passiert?«, schrie Bettina und krampfte ihre Hände im Schoß ineinander. Sie starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe, konnte in der Finsternis allerdings nichts erkennen. Wenn sie nur wüsste, wie man die Innenbeleuchtung anschaltete, ohne die Tür zu öffnen. Denn die Tür würde sie jetzt ganz bestimmt nicht aufmachen. Wer wusste schon, was da draußen auf sie lauerte. Es musste auf jeden Fall etwas Großes und Schreckliches sein, wenn es Andi so leicht hatte überwältigen können.

Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie sich fragte, wie es Andi ging und ob er überhaupt noch am Leben war. Wenn sie wenigstens das Licht anmachen könnte, würde sie ihn möglicherweise sehen. Andererseits, wenn sie die Innenbeleuchtung anmachte, würden die Scheiben das Licht reflektieren und sie würde auch nichts erkennen können. Allerdings würde sie das Ding da draußen deutlich sehen können, was immer es auch war. Vielleicht ging es ja wieder weg, wenn sie sich ruhig verhielt und nicht bewegte. Vielleicht aber auch nicht. Was sollte sie nur tun? Eine Waffe, sie brauchte unbedingt …

Plötzlich wurde die Beifahrertür ruckartig aufgerissen, und die Innenbeleuchtung ging an.

Bettina schrie gellend und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Sie wollte das Ding, das Andi getötet hatte, gar nicht sehen. Es hatte sie schließlich doch gefunden. Gleich würde es …

»Was ist denn mit dir los?«

Bettina erstarrte. »Andi?« Sie nahm die Hände vom Gesicht und wandte den Kopf. Andi stand neben der offenen Beifahrertür und sah sie erstaunt an. »O Andi.« Sie breitete die Arme aus und warf sich an seine Brust. Er taumelte zwei Schritte zurück und hob sie dadurch aus dem Auto, bis sie in seinen Armen hing.

»Ich freu mich zwar, dass du so auf mich fliegst«, sagte er. »Aber ich war doch nur ganz kurz weg.«

»Was ist denn passiert?«, fragte sie und hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich hörte einen Plumps, und dann ging auch noch die Lampe aus. Ich dachte schon, du wärst tot.«

»Ach so«, sagte er und kratzte sich am Kopf. »Ich bin nur über so einen blöden Ast gestolpert und hingefallen. Dabei ist dummerweise die Lampe kaputtgegangen.«

Sie lachte erleichtert. »O Mann! Und ich dachte schon, irgendetwas wäre über dich hergefallen.«

Er lachte. »Was soll denn hier schon über mich herfallen? Wir sind mitten in Deutschland und nicht im südamerikanischen Dschungel.«

»Ich weiß auch nicht. Irgendetwas furchtbar Schreckliches!«

Er lächelte, gab ihr einen Kuss und setzte sie ab. »Ich fürchte, da musst du dich schon mit mir begnügen. Im Augenblick bin ich vermutlich das Schrecklichste, das du in diesem Wald finden wirst.«

»So?«

Er nickte und schnitt erneut eine Grimasse. »Grrr …«

»Hör sofort auf!«, rief sie und schlug ihm spielerisch die Faust gegen die Schulter.

Er breitete die Arme aus. »Okay, okay. Ich gebe auf. Lass uns nachsehen, was mit der alten Berta nicht stimmt.«

Sie nickte.

Er ging an ihr vorbei und wollte die Beifahrertür zumachen.

»Warte«, sagte sie und fasste ihn am Arm. »Können wir die Tür nicht offen stehen lassen, dann haben wir wenigstens Licht?«

Er schüttelte den Kopf. »Das geht alles auf die Batterie, und die ist ohnehin nicht mehr die Beste. Wenn wir die Innenbeleuchtung zu lange brennen lassen, kommen wir nachher vielleicht nicht mehr weg. Aber keine Angst, hinten ist auch noch eine Lampe, die hängt an einer separaten Batterie. Und irgendwo muss ich noch eine zweite Taschenlampe haben. Außerdem bin ich ja bei dir. Okay?«

Sie nickte tapfer. Was er sagte, klang ja auch einleuchtend. Außerdem wollte sie nicht wie der größte Angsthase dastehen. »Okay.«

Er schlug die Tür zu, und augenblicklich wurde es wieder stockfinster.

»Hier, nimm meine Hand«, sagte Andi und berührte sie mit seiner Hand.

Erleichtert griff sie nach seinem Arm und klammerte sich daran. Als es in der Nähe im Unterholz raschelte, zuckte sie erschrocken zusammen. »Was … ist das?«

»Kleine Tiere«, sagte Andi, um sie zu beruhigen. »Eichhörnchen, Haselmäuse, Igel und so was. Die wohnen hier im Wald. Pass auf! Ich öffne gleich die Schiebetür. In Kürze haben wir wieder Licht. Kann sein, dass es drinnen etwas muffig riecht, aber du weißt ja, wie das bei uns Junggesellen ist.«

Sie lachte. »Ex-Junggesellen meinst du wohl. Aber ab jetzt werde ich da schon Abhilfe schaffen.«

»Das glaube ich dir.«

Sie hörte, wie er am Griff der Schiebetür hantierte und diese dann zur Seite glitt. Sie schnüffelte, als der Geruch an ihre Nase drang. Es roch nach Tannennadeln, allerdings nicht aus dem Wald, sondern aus dem Innern des Wagens. Es war ein schwerer und intensiver Duft wie von zu viel Raumspray oder Lufterfrischer. Darunter lag aber noch ein anderer, unangenehmerer Duft, den sie aber nicht identifizieren konnte. Höchstwahrscheinlich Andis alten Socken und Unterhosen. Na ja, ab heute würde sich das ändern, dafür würde sie schon sorgen.

»Pass auf!«, sagte er. »Jetzt wird es hell.«

Er knipste ein Licht an, und sie schloss geblendet die Augen. Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie ins erleuchtete Innere des Busses blicken. Es herrschte ein chaotisches Durcheinander. Kleidung, Verpackungsreste und leere Flaschen lagen überall herum. Dazwischen allerhand anderer Kram, den sie jedoch nicht genau erkennen konnte. Ein großer, schwarzer Vorhang teilte den Innenraum in zwei Hälften.

»Und was ist hinter dem Vorhang?«

»Das Bett natürlich«, sagte er und zwinkerte ihr zu. Dann griff er in einen der Haufen und zog einen langen, metallisch glänzenden Gegenstand hervor. »Und hier ist auch die zweite Taschenlampe. Ordnung ist eben das halbe Leben.« Er knipste die Lampe an und richtete den Strahl in den Himmel.

Bettina kicherte.

Andi schaltete die Lampe wieder aus, befreite sich aus ihrer Umklammerung seines Armes und stieg in den Bus. Er drehte sich um und streckte ihr die Hand entgegen. »Na los, komm rein. Du musst mir helfen, das Werkzeug zu finden. Ich hab im Augenblick vergessen, wo es steckt.«

»Und ich dachte, Ordnung sei das halbe Leben«, neckte sie ihn.

Er grinste. »Das Werkzeug gehört leider zur anderen Hälfte.«

Sie reichte ihm die Hand und ließ sich von ihm hochziehen, bis sie ein wenig gebückt neben ihm im Innern des Busses stand.

»Wo sollen wir bloß anfangen?«, fragte sie und betrachtete skeptisch die Unordnung, die überall herrschte.

»Gute Frage«, sagte er.

Plötzlich ertönte von draußen ein lautes Krachen.

Bettina wirbelte erschrocken herum und warf sich an Andis Brust. »Und was war das?«, fragte sie ängstlich. »Das war doch kein kleines Tier, oder?« Für ein Eichhörnchen, eine Maus oder einen Igel war das Krachen entschieden zu laut gewesen. Der Schein der Innenbeleuchtung umgab sie zwar wie eine schützende Kuppel, er reichte jedoch nicht weit in den Wald hinein. Dahinter erhob sich drohend tiefste Finsternis zwischen schemenhaft erkennbaren Baumstämmen, die sie auf der Suche nach der Ursache des Geräuschs vergeblich mit ihren Blicken zu durchdringen versuchte.

»Da ist vermutlich jemand auf einen morschen Ast getreten«, beantwortete Andi ihre Frage.

»Jemand? Aber wer kann das sein?«

»Warte, das werden wir gleich haben«, sagte Andi zuversichtlich und knipste die Taschenlampe wieder an. Er richtete den Strahl nach draußen und bewegte ihn langsam von einer Seite zur anderen. Plötzlich riss der helle Schein eine geisterhafte Gestalt aus der Dunkelheit. Bettina schrie leise auf, als sie die Person sah. Im nächsten Moment erkannte sie auch, um wen es sich handelte. Es war die junge Frau, die sie in der Diskothek kurz gemustert, dann aber wieder weggesehen hatte. Aber wie kam sie hierher? Und was wollte sie von ihnen?

»Wer …?«

»Ach ja«, unterbrach Andi sie betont beiläufig. »Das ist übrigens Christina. Christina ist meine Schwester.«

Nun verstand Bettina überhaupt nichts mehr. Verwirrt wanderten ihre Blicke zwischen Andi und Christina hin und her.

»Ich hab dir doch von ihr erzählt. Erinnerst du dich nicht?«

»Ja, aber …«

»Du bist wohl etwas verwirrt, aber das macht gar nichts«, sagte Andi beruhigend und strich mit der freien Hand über ihr Haar. Im nächsten Moment packte er ihren linken Oberarm. »Aber da wir gerade dabei sind, möchte ich dir noch jemanden vorstellen.« Er schob sie auf den schwarzen Vorhang zu, bis sie direkt davor stand. Er stand seitlich hinter ihr und hielt sie am Arm fest, dann beugte er sich vor und riss mit einem Ruck den Vorhang zur Seite. »Bettina, darf ich dir Christinas und meine Mutter vorstellen. Sie heißt Berta. Sag schön Hallo zu Mama Berta.«

Bettina wollte schreien, konnte es jedoch nicht, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Gleichzeitig verspürte sie den entsetzlichen Drang, sich zu übergeben, aber auch das blieb ihr verwehrt. Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Alles, was sie tun konnte, war, wie erstarrt dazustehen und auf das zu starren, was auf dem breiten Bett vor ihr lag.

Die Gestalt war völlig nackt und lag auf dem Rücken. Die leeren Augenhöhlen starrten blicklos an die Decke des Busses. Einige Teile des leblosen Körpers wie die Nase, der linke Arm und das rechte Bein waren ziemlich zerfressen und befanden sich in einem fortgeschrittenen Grad der Verwesung. Andere Teile waren hingegen weniger angegriffen und sahen viel besser aus, hatten jedoch oft eine hellere oder dunklere Färbung als der Rest des Körpers und waren durch grobe Nähte aus dickem, schwarzem Garn an dem aufgeblähten Torso befestigt worden. Ein grässlicher Gestank ging von dem Körper aus, den jetzt, aus der Nähe, nicht einmal mehr der Tannennadelduft aus der Dose überdecken konnte. Außerdem krabbelten unzählige Fliegen über die wächserne, blutleere Haut oder summten, aufgeschreckt durch den zurückgezogenen Vorhang, durch die Luft, während bleiche Maden sich in Körperöffnungen und -höhlungen wanden.

»Hallo Mama«, sagte Andi mit liebevoller Stimme. »Schau mal, wen ich mitgebracht habe. Das ist Bettina. Sag Hallo.« Er beugte sich an der schreckensstarren Bettina vorbei, ergriff die rechte Hand der Frauenleiche und bewegte diese dann auf und nieder, als würde sie winken. Der schwarze Faden, mit dem der Arm an der Schulter befestigt war, spannte sich, zerriss jedoch nicht.

Bettina befreite sich aus Andis Griff und taumelte zwei unsichere Schritte nach hinten. Sie hob die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Das alles durfte einfach nicht wahr sein. Stattdessen steckte sie inmitten eines grässlichen Alptraums.

Andi ließ die Hand seiner Mutter los und wandte sich um. »Wie du sehen kannst, ist Mama Berta sehr krank. Sie braucht mal wieder eine Reparatur.«

Bettina hörte seine Worte zwar, doch sie ergaben für sie keinen Sinn. Was redete er denn da? Reparatur? Mama Berta war nicht mehr zu reparieren. Begriff er das denn nicht? Alles, was Mama Berta brauchte, waren eine Kiste und ein tiefes Loch. Bettina nahm die Hände von den Augen und starrte ihn an. Andi musste vollkommen irre sein.

Doch Andi sah sie weiterhin sanft lächelnd an. »Christina und ich werden Mama wieder reparieren. Das haben wir schon oft gemacht. Und du wirst uns dabei helfen.«

Bettina verstand kein Wort. War denn auf einmal die ganze Welt komplett verrückt geworden? Oder wenn nicht, wo blieb denn dann die verdammte versteckte Kamera?

»Wir brauchen dringend Ersatzteile«, sagte Andi. Er lächelte noch immer. Aber gerade dieser Widerspruch zwischen seinem freundlichen Gesichtsausdruck und seinen unsinnigen Worten trieb sie beinahe in den Wahnsinn.

Aber plötzlich verstand sie, was er vor ihr wollte. Ersatzteile!

»Nein«, hauchte Bettina zutiefst entsetzt, hob abwehrbereit die Arme und wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück. Dabei trat sie allerdings ins Leere und fiel aus dem Wagen auf den tannennadelübersäten Waldboden.

Andi kam zwei Schritte näher, blieb in der offenen Schiebetür stehen und sah auf sie herunter. »Pass auf, dass du nichts kaputtmachst«, sagte er sanft. »Wir können nur intakte Ersatzteile gebrauchen.« Dann blickte er über sie hinweg zu seiner Schwester. »Okay, Christina. Lass uns mit Mama Bertas Reparatur anfangen!«

Bettina warf den Kopf herum und starrte mit geweiteten Augen und offenem Mund auf Andis Schwester, die unmittelbar hinter ihr stand und beinahe ebenso liebevoll auf sie herabblickte wie ihr Bruder.

Endlich gelang es Bettina, laut zu schreien. Doch ihr gellender Schrei ging völlig unter im Aufheulen der Kettensäge, die Christina in Händen hielt.

ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR

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