Читать книгу SCHRECKENSNÄCHTE - Eberhard Weidner - Страница 5
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ОглавлениеFür einen Moment, der sich in seiner benebelten Wahrnehmung endlos in die Länge zog, explodierten unmittelbar hinter seiner Stirn leuchtende Sterne in allen möglichen und unmöglichen Farbvariationen, als wäre Silvester dieses Jahr um mehr als zwei Monate vorverlegt worden, und das Bewusstsein drohte ihm zu schwinden. Heftige Schmerzwellen pulsierten wie flüssige Lava durch seinen geplagten Körper und wollten ihn in ein finsteres Land davonzerren, in dem das Vergessen regierte und von dem es für ihn vermutlich keine Wiederkehr gab, sobald er es betrat. Doch bevor es dazu kommen konnte, tauchte er mit dem Gesicht in die Pfütze unter seinem Körper, und die kalte Flüssigkeit erfrischte nicht nur sein fiebrig heißes Gesicht, sondern spülte auch die Benommenheit aus seinem Verstand.
Ganz allmählich gewann er die Besinnung wieder, während der Schmerz sich widerstrebend zurückzog und abklang. Dennoch trieb er seinen ermatteten Körper nicht sofort wieder hoch und auf die Füße, sondern blieb erst einmal erschöpft liegen und gönnte sich eine kurze Ruhepause.
Hier würde ich gern für immer und ewig liegen bleiben und am liebsten alles vergessen, was geschehen war und was im Schutz der finsteren Nacht auf der Lauer lag, dachte er. Warum tat er es dann nicht einfach? War doch eine ausgezeichnete Idee, oder etwa nicht? Er vergaß ganz einfach alles, was passiert war, und machte es dadurch ungeschehen. Dann konnte ihm auch nichts mehr passieren. Wenn er doch nur früher darauf gekommen wäre, dass es im Grunde so einfach war. Er musste nur alles aus seinem Gedächtnis löschen, um die Zeit zurückdrehen und es ungeschehen machen zu können. Das war des Rätsels Lösung! Warum, zum Teufel, war er nicht schon früher darauf gekommen?
Nicht weit von ihm entfernt ertönte das Klirren von Glas und durchbrach die nächtliche Ruhe.
(Friedhofsruhe trifft es schon eher.)
Er hörte das Geräusch zwar, doch es drang nicht bis zu seinem Verstand durch, um dort eine Reaktion, einen schrillen Alarmton vielleicht, auszulösen. Und selbst wenn, so wäre es ihm momentan dennoch egal gewesen. Denn er wusste ja jetzt, wie er ihnen entkommen konnte: durch bloßes Vergessen!
(Vergessen und vergeben …)
So einfach war das also, ein Kinderspiel geradezu. Jetzt würden sie verdammt lange, vermutlich bis in alle Ewigkeit, darauf warten müssen, dass sie ihm die Eingeweide aus dem Leib reißen konnten. Er war eben doch eine Spur zu clever für diese vier hirnlosen Gesellen.
Aus der Finsternis, die ihn umgab, drang ein Scharren an seine Ohren, erheblich näher als zuvor das Klirren. Es hörte sich so an, als würde ein nackter, verdreckter Fuß über den Boden schleifen. Doch auch das hatte für ihn inzwischen jede Bedeutung und Bedrohung verloren.
Vermutlich war es ohnehin nur eine Katze, die in der Nähe auf Mäusejagd ging. In einer Wohngegend wie dieser gab es meistens einige Katzen, die nachts durch die Straßen und Gassen schlichen. Vielleicht waren es auch zwei Kater, die sich ihr Revier streitig machten und gegenseitig belauerten …
(Warum nicht gleich vier Katzen? Vier streunende, stinkende Straßenkater in verdreckten Totenhemden auf der Jagd nach einer ganz besonderen Maus! Und dreimal darfst du raten, wer die Maus ist, mein todgeweihter Freund!)
Maus? Wovon sprach die Stimme in seinem Kopf, die seiner eigenen so verblüffend ähnlich war? Er dachte kurz darüber nach, wusste aber keine Antwort, da er die Geräusche von soeben schon wieder aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte.
Stattdessen kamen ungewollt ganz andere Erinnerungen zum Vorschein, als würde ein Zauberer sie wie Kaninchen aus seinem Hut zaubern, und blitzten vor seinem inneren Auge auf wie eine mentale Diavorführung. Zunächst sah er nacheinander die lachenden Gesichter von vier jungen Männern, und sein Gedächtnis lieferte ihm dazu passende Namen: Bernie, Uli, Martin und Mark.
Wer?
In einer unbewussten Geste zuckte er mit den Schultern, denn er hatte bereits vergessen, wer diese jungen Leute waren und welcher Name zu welchem Gesicht gehörte. Schließlich war das Vergessen die Lösung seines dringlichsten gegenwärtigen Problems, wie er gerade eben herausgefunden hatte.
Doch seine Erinnerungen ließen nicht locker, und so kamen weitere Bilder, bei denen es sich um Momentaufnahmen aus seiner Vergangenheit handelte. Zuerst ein unheimlich wirkendes, steinernes Gebäude, dessen Tür lautlos aufschwang, als würde sie von Geisterhand geöffnet werden. Drinnen war es stockdunkel, er glaubte allerdings, einen gellenden Schrei zu hören, der wie abgeschnitten endete. Danach sah er ein anderes Haus, diesmal ein einfaches Wohnhaus. Aus einer Fensteröffnung im ersten Stock schlugen lodernde Flammen. Inmitten des Feuers konnte man undeutlich vier schemenhafte Umrisse erkennen, als stünden dort Menschen aufrecht inmitten der Flammen. Doch bevor er die Details näher in Augenschein nehmen konnte, wechselte das Bild erneut und ein großes, herrschaftliches Gebäude tauchte auf, das einen freundlichen und warmen Eindruck in ihm erweckte. Es lag in einem weitläufigen, gepflegten Park, der von einer hohen Mauer umgeben war, und sämtliche Fenster waren vergittert.
Obwohl die Bilder Emotionen in ihm auslösten, die über das rein Sichtbare hinausgingen und ihm auf diese Weise signalisierten, dass er mit ihnen vertraut sein musste, sagten sie ihm momentan dennoch nichts. Seine Strategie, alles, was geschehen war, aus seinem Gedächtnis zu löschen, schien zumindest teilweise zu funktionieren. Nun musste er nur noch diese Bilder, die letzten Überbleibsel seiner Vergangenheit loswerden, dann wäre er endgültig gerettet.
Doch im gleichen Moment, als er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, tauchten das Bild eines jungen, blonden Mädchens und ein Name in seinem Kopf auf: Elke!
Elke?
Irgendwo in seinem trägen, benebelten Gedankenapparat rastete etwas ein.
Telefon …
Ein weiteres Puzzleteil fiel an seinen Platz, und er erinnerte sich wieder. Ja, genau! Er hatte mit Elke telefoniert. Aber das musste schon verdammt lange her sein, denn er konnte sich kaum noch an das Gespräch erinnern.
Heute Abend!
Was, heute Abend sollte das gewesen sein? Er konnte es nicht fassen. Doch dann erinnerte er sich plötzlich wieder, als wäre in seinem Verstand ein Vorhang zur Seite gezogen worden, hinter dem sich die Erinnerungen verborgen hatten. Ja, richtig, mit den Münzen, die er im Wagen gefunden hatte, hatte er sie angerufen. Aus einer Telefonzelle, die an einem Ort stand, an dem sich viele Menschen aufgehalten hatten.
Am Bahnhof!
Ja, denn nur dort, inmitten der schützenden Menge, hatte er sich vor seinen unheimlichen Verfolgern sicher gefühlt. Und die Männer aus der Anstalt hatte er zu diesem Zeitpunkt längst abgeschüttelt gehabt.
Die Erinnerungen wurden mit jedem weiteren Schlag seines Herzens deutlicher und konkreter.
Und so wurde ihm nun wieder vollends bewusst, dass er nach all den Jahren mit Elke gesprochen und ihr gesagt hatte, wie dringend sie miteinander reden mussten. Sie hatte ihn natürlich gefragt, worum es ging. Aber das konnte er ihr nicht am Telefon sagen. Nein, bloß nicht! Vielleicht hörten seine Verfolger mit. Doch trotz seiner Geheimniskrämerei, die ihr verdächtig erscheinen musste, hatte Elke seine Erwartungen nicht enttäuscht. Ohne zu zögern, hatte sie seine Bitte um ein Treffen erhört und ihn zu sich eingeladen. Allerdings hatte er auch nichts anderes von ihr erwartet. Gute, treue Elke!
Während ihr Bild in seiner Erinnerung allmählich verblasste und wieder in die Untiefen seines Verstandes eintauchte, klärte sich sein Blick wieder. Zum ersten Mal nahm er bewusst die dreckige Pfütze wahr, in der er lag. Unmittelbar vor seinen Augen schwamm eine alte zerfledderte Zigarettenkippe.
Das Wasser kräuselte sich, als ein Tropfen mit leisem Platschen in der Pfütze landete und rote Schlieren ins schmutzig graue Wasser zauberte.
Blut?
Es war tatsächlich Blut, und zwar sein eigenes, das aus einer Platzwunde an seiner Stirn stammen musste. Der Gedanke wirkte wie ein Funke, der die kurze Lunte einer Sprenglandung entzündete, denn von einem Augenblick zum anderen kehrte explosionsartig der Schmerz hinter seiner Stirn zurück und ließ ihn leise aufstöhnen.
Unmittelbar darauf nahm er erstmals die eisige Kälte des Wassers wahr, in dem er lag. Er fröstelte und erschauderte, denn die Kälte war bereits durch seine zu dünne Kleidung gedrungen, hatte seine Haut taub werden lassen und kroch nun in seine Gliedmaßen.
Hinter ihm ertönte ein verstohlenes Scharren, das sich erschreckend nah anhörte.
(Gleich haben sie dich!)
Sekundenlang war er noch immer wie gelähmt, während zumindest sein Verstand wieder die Arbeit aufnahm. Er vermeinte fast, das Knirschen hören zu können, mit dem sich die eingerosteten Zahnräder in seinem Oberstübchen allmählich wieder in Bewegung setzten.
Ein Scharren! Vielleicht sogar das Scharren von nackten, schmutzigen Füßen auf dem Asphalt?, fragte er sich.
(SIE KOMMEN!)