Читать книгу SCHRECKENSNÄCHTE - Eberhard Weidner - Страница 6
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ОглавлениеDie Heftigkeit dieses Gedankens ließ ihn aufschrecken und die Lähmung seines Körpers überwinden. Mit quälender Langsamkeit rappelte er sich auf, kam zunächst mühsam wie ein alter Mann auf die Knie, ehe er schließlich wieder schwankend auf seinen zitternden Beinen stand, woran er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Er hielt den Kopf schief und horchte angestrengt, doch das Scharren wiederholte sich nicht. Auch sonst war nichts zu hören.
Aber waren da zuvor nicht auch noch andere Geräusche?, überlegte er.
(Ja, du Idiot! Das Klirren von Glas und ein weiteres Scharren.)
Er fragte sich, wie lange er überhaupt dort am Boden gelegen war? Nur wenige Sekunden oder gar mehrere Minuten? Er konnte es nicht beurteilen, da der Sturz und die Benommenheit ihm jegliches Gefühl für die verstrichene Zeit geraubt hatten. Doch die wichtigere Frage lautete ohnehin, wie nah ihm seine Verfolger in der Zwischenzeit gekommen waren. Auch das konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er ahnte, dass sie seine Schwäche ausgenutzt hatten und näher gekommen waren. Für seinen Geschmack viel näher, als ihm lieb sein konnte.
(Lauf, mein Freund!)
Wahrscheinlich hatten sie bereits geglaubt, er wäre am Ende. Aber sie wussten eben nicht, wozu ein verzweifelter Mensch in seiner Lage fähig war. Nein, davon hatten sie vermutlich keine Ahnung. Woher auch, schließlich waren sie selbst keine Menschen mehr.
(Lauf!)
Endlich reagierte er, gehorchte der sonst so verhassten inneren Stimme und wirbelte herum. Jedenfalls kam es ihm selbst wie ein schnelles Herumwirbeln vor, da ihm sogar kurzzeitig schwindelig wurde, auch wenn er sich in Wahrheit vermutlich nur langsam und schwerfällig bewegte. Dann lief er weiter, ein wenig schneller als vor dem Sturz, weil ihn die Panik antrieb und dazu veranlasste, verborgene Kraftreserven anzuzapfen.
Verdammt, wie lange hatte er nur auf dem Boden gelegen? Und wie hatte er nur so verrückt sein können, zu glauben, ihm könnte nichts geschehen, wenn er einfach liegen blieb und vergaß, was geschehen war? Genauso gut könnte er sich selbst eine Kugel durch den Schädel jagen. Das hätte denselben Effekt, wäre aber schneller vorbei und weniger schmerzhaft, als wenn sie ihn erwischten.
(Völlig verrückt!)
Ausnahmsweise musste er der Stimme in seinem Kopf recht geben. Diese Aktion war in der Tat vollkommen verrückt gewesen. So hatten sie ihn auch manche Leute in der Anstalt genannt: verrückt, irre, durchgeknallt! Und deshalb hatten sie ihn ja auch weggesperrt.
Dabei war er gar nicht verrückt! Das hatte er doch gerade bewiesen, oder etwa nicht? Schließlich war er nicht liegen geblieben und hatte tatsächlich alles vergessen, wie es ein komplett Durchgeknallter vermutlich getan hätte. Ganz im Gegenteil, er hatte sich wieder aufgerappelt und war weitergerannt. War das nicht Beweis genug, dass er geistig völlig gesund war?
Außerdem hätten ihn ansonsten vermutlich längst seine Verfolger erwischt, und er wäre bereits tot.
Er rannte keuchend weiter und achtete jetzt besser auf etwaige Hindernisse, die ihn zu Fall bringen konnten. Denn wenn er noch einmal stolperte, bedeutete das gewiss sein Todesurteil, weil sie schon viel zu dicht hinter ihm waren.
Er hob den Blick für einen kurzen Moment vom Pflaster des Gehsteigs vor ihm und sah nach der Nummer des Hauses, an dem er gerade vorbeikam. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass es jetzt nur noch wenige Meter waren, bis er am Ziel und in Sicherheit wäre. Er biss die Zähne zusammen und schaffte auch die letzten Schritte, ohne noch einmal zu straucheln. Als er endlich die Tür des Hauses erreichte, das sein Ziel war, lehnte er sich schwer atmend dagegen. Er konnte es kaum glauben, aber er hatte es tatsächlich geschafft. Mit der rechten Hand suchte er blind nach der Klinke, fand sie auch gleich und drückte sie nach unten. Die Tür gab dem Druck seines Körpers allerdings nicht nach, sondern blieb verschlossen.
Vor Enttäuschung hätte er beinahe laut geschrien. Sollte er so kurz vor dem Ziel doch noch scheitern, und das ausgerechnet wegen einer verschlossenen Tür? Das konnte doch nicht wahr sein. Er sah sich rasch um, doch in der näheren Umgebung war noch immer alles ruhig.
Er versuchte es noch einmal, drückte die Klinke bis zum Anschlag nach unten und warf sich mit seinem ganzen Körper gegen die massive Tür, sodass sie laut dröhnend in ihren Angeln erbebte. Doch mehr geschah nicht. Es war hoffnungslos. Auf diese Weise ließ sich die Haustür nicht öffnen.
Er ließ den Türgriff los, den er so fest umklammert hatte, dass seine Hand ein wenig wehtat, ballte die Fäuste und atmete ein paar Mal tief durch, um die anschwellende Panik in seinem Inneren zurückzudrängen, die ihn zu übermannen drohte und zu kopflosen Aktionen veranlassen wollte. Doch er wusste, dass er einen kühlen Kopf bewahren musste, um dieses Problem in den Griff zu kriegen und richtig zu reagieren.
Nachdem die Panik sich wieder gelegt hatte, dachte er darüber nach, was er jetzt tun sollte. Ihm fiel wieder ein, wie spät es war und dass die meisten Leute in ihren Betten lagen und schliefen. Deshalb war es auch ganz normal, dass die Haustür abgeschlossen war, schließlich war es mitten in der Nacht, und da wollten die Bewohner natürlich nicht, dass Fremde ungehindert ins Haus marschieren konnten. Die verschlossene Tür war also noch lange kein Grund, in Panik zu verfallen.
Nach einem weiteren prüfenden Blick in die Runde, wo es noch immer geradezu verdächtig still war, ging er vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, bis er mitten auf der Straße stand und an der Fassade nach oben blicken konnte. Wenigstens musste er sich um diese Uhrzeit keine Gedanken darüber machen, dass ihn ein Auto überfahren könnte. Als er nach oben sah, bemerkte er zum ersten Mal, dass im ersten Stock Licht brannte. Es war, soweit er sehen konnte, das einzige beleuchtete Fenster in der ganzen Straße. Es musste ein Fenster von Elkes Wohnung sein. Anscheinend war sie wach geblieben, um auf ihn zu warten. Vielleicht war sie auch bei brennendem Licht eingeschlafen, während sie auf ihn gewartet hatte.
Das beleuchtete Fenster wirkte auf ihn wie das Licht eines Leuchtturms im dichten Nebel, denn es schenkte ihm Hoffnung und gab ihm neue Zuversicht.
Er marschierte zurück zur Haustür und studierte das Klingelbrett, das sich rechts neben der Tür befand. Im Schein einer nahen Straßenlaterne konnte er ohne allzu große Mühe die Namen auf den kleinen Messingschildern entziffern. Und tatsächlich war in eins von ihnen der Name Elke Weber eingraviert.
Er legte seinen linken Daumen auf den kleinen Messingknopf neben ihrem Namen und ließ es mehrmals hintereinander klingeln. Am liebsten hätte er Sturm geläutet, bis ihm Elke endlich die Tür öffnete, doch er wusste, dass er ihr nicht schon auf die Nerven gehen durfte, bevor sie überhaupt ein Wort miteinander gesprochen hatten. Deshalb zwang er sich dazu, den Finger vom Klingelknopf zu nehmen und ungeduldig zu warten.
Als nach einer halben Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, noch immer nichts passiert war, wurde er immer nervöser. Er ballte immer wieder die Hände zu Fäusten und entspannte sie dann wieder, während er die Straße in beiden Richtungen im Auge behielt. Doch zum Glück regte sich dort nichts. Nicht einmal das leiseste Geräusch war zu hören, sonst wäre er in seinem augenblicklichen überreizten Zustand vermutlich in die Luft gesprungen und hätte versucht, an der Hauswand hochzuklettern.
Seine linke Hand zuckte nach oben, um noch einmal, dieses Mal wesentlich ausdauernder, zu läuten, doch im gleichen Augenblick zerfetzte ein krachendes Geräusch ganz in der Nähe die nächtliche Ruhe,
(… die Ruhe der Toten …!)
das wie ein Pistolenschuss klang und ebenso laut war.
Er stöhnte erschrocken und fuhr herum. Sein erster Gedanke galt natürlich seinen Verfolgern. Kamen sie nun doch aus ihren Löchern, um ihn im letzten Moment, so kurz vor seinem Ziel abzufangen? Hatten sie die ganze Zeit nur ihr dreckiges Spiel mit ihm getrieben, um ihn zu verhöhnen, und hatten ihn hoffen lassen, er könnte sein Leben retten, um diese Hoffnung nun unter ihren verkohlten, nackten Füßen zu zertreten?
Doch da hörte er Elkes Stimme, die er sogleich wiedererkannte, und er wusste, dass es noch nicht so weit war. Sein galoppierendes Herz beruhigte sich wieder einigermaßen, sofern es in letzter Zeit überhaupt noch in einem Rhythmus geschlagen hatte, den man als normal bezeichnen konnte, und er seufzte erleichtert. Er hatte es tatsächlich geschafft. Er war am Ziel. Endlich! Er war in Sicherheit!
»Rainer? Bist du das?«
Er schaute nach oben, konnte aber aus diesem Winkel, so nah am Haus, nicht viel erkennen. Alles, was er sah, war ein Kopf, der sich aber nur als dunkler Umriss gegen das aus dem Fenster fallende Licht abzeichnete.
Es handelte sich um das Fenster, hinter dem er das Licht gesehen hatte. Und der Lärm, der wie ein Pistolenschuss geklungen und ihn so erschreckt hatte, musste entstanden sein, als Elke es aufgerissen hatte.
Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er musste sie erst frei räuspern, bevor er zu einer verständlichen Antwort fähig war. »Ja, ich bin’s«, antwortete er krächzend, während er nervös von einem Bein aufs andere trat, als müsste er dringend aufs Klo. »Tut mir leid, aber … aber es ist etwas später geworden.« Wie belanglos und geradezu normal seine Worte doch klangen. Unbeschreibliche Schrecken lagen hinter ihm und grausame Monster waren hinter ihm her, und dennoch benahm er sich, als wäre er nur etwas zu spät aus der Kneipe nach Hause gekommen.
Danach herrschte wieder für mehrere Augenblicke Stille, in der er nur das Blut hinter seinen Schläfen rauschen hören konnte. Erneut regte sich die Panik in ihm und hob ihr hässliches Haupt, als ihm der Gedanke kam, dass Elke es sich doch anders überlegt haben könnte. Wird sie mich jetzt etwa doch im Stich lassen?, fragte er sich bang. Vielleicht hatte sie ja das Blut auf seiner Stirn und die völlig verdreckte und durchnässte Anstaltskleidung gesehen, und war sich nun gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt eine so gute Idee war, ihn in diesem Zustand und noch dazu mitten in der Nacht in ihre Wohnung zu lassen.
»Pass auf, Rainer, ich werfe dir den Schlüssel hinunter«, hörte er sie dann jedoch zu seiner grenzenlosen Erleichterung mit gedämpfter Stimme sagen. »Hier, fang auf!«
Schon im nächsten Moment fiel ein kleiner Gegenstand nach unten und reflektierte das Licht der Straßenlaternen, als er immer wieder aufblitzte, während er sich um die eigene Achse drehte. Rainer wollte ihn auffangen, reagierte jedoch zu träge. Und so fiel der Schlüssel zwischen seinen zupackenden Händen hindurch und landete klirrend vor seinen Füßen. Er bückte sich, wobei er jeden einzelnen Muskel in seinem erschöpften Leib zu spüren glaubte, und hob ihn auf. Als er sich wieder aufgerichtet hatte und noch einmal nach oben zum Fenster sah, war Elkes Silhouette bereits verschwunden. Wahrscheinlich war sie schon unterwegs zur Wohnungstür, um für ihn aufzumachen.
Er trat ganz nahe an die Haustür und schob mit zitternden Fingern – er war sich nicht sicher, ob das Zittern von der Kälte oder hauptsächlich von seiner Angst herrührte – den Schlüssel ins Schloss. Er musste ihn mehrmals im Schloss drehen, bevor sich die Tür öffnen ließ. Ehe er ins Haus schlüpfte, sah er sich sicherheitshalber noch einmal um und lauschte gleichzeitig auf verdächtige Geräusche. Doch die Straße lag wie ausgestorben da,
(Gestorben, wie wahr!)
und außer seinem eigenen Schnaufen und dem Pochen des Blutes in seinen Schläfen nahm er kein anderes Geräusch wahr. Erleichtert huschte er durch den Spalt ins Treppenhaus, ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen und lehnte sich dann erschöpft mit dem Rücken dagegen.