Читать книгу GRABESDUNKEL STEHT DER WALD - Eberhard Weidner - Страница 3

PROLOG

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Der Ort war für eine Grabstätte hervorragend geeignet. Er lag in einem der am dichtesten mit hohen Fichten bewachsenen Teile des Waldes, abseits aller Straßen, Wege und Pfade, sodass sich vermutlich nicht einmal dann jemand hierher verirrte, wenn er sich verlaufen hatte.

Die große breitschultrige Gestalt, die im Schein des hoch am Nachthimmel stehenden, nahezu kreisrunden Mondes die Schaufel schwang und das Grab aushob, hatte gleichwohl keinerlei Schwierigkeiten gehabt, bis hierher vorzudringen, obwohl sie neben dem Grabwerkzeug auch noch eine andere Last zu schleppen gehabt hatte, die in der Länge ein Meter achtzig maß und fünfundachtzig Kilo auf die Waage brachte. Doch wo ein Wille war, da war bekanntlich auch immer ein Weg. Und so hatte der Grabende weder Aufwand noch Mühe gescheut, um die Leiche an diesen Ort zu schaffen.

Er schnaufte mittlerweile schwer, während er in gleichmäßigem Tempo Schaufel um Schaufel des dunklen Waldbodens abtrug und neben der beständig tiefer werdenden Grube auf den rasch anwachsenden Erdhaufen kippte. Obwohl er wegen der anstrengenden Tätigkeit bereits ins Schwitzen gekommen war, hatte er weder den schwarzen Kapuzenpulli ausgezogen noch die Kapuze vom Kopf gestreift. Dabei war die Gefahr, dass ihn um diese Uhrzeit kurz nach Mitternacht und an diesem abgelegenen, menschenverlassenen Ort jemand sah, geradezu verschwindend gering. Dennoch wollte er nicht das geringste Risiko eingehen, denn der Preis, den er zu zahlen hätte, wenn er und das, was er getan hatte, entdeckt würden, war einfach zu hoch.

Während der überwiegende Teil dieses Waldstücks in mitternächtliche Dunkelheit gehüllt war, schien der Mond an mehreren Stellen durch Lücken im Geäst der Bäume und schuf dadurch eine geradezu märchenhafte, gespenstische Atmosphäre, die der selbsternannte Totengräber allerdings nicht zur Kenntnis nahm, da er sich vollständig auf seine Tätigkeit konzentrierte. Nur ab und zu hielt er kurz inne, hob den kapuzenbewehrten Kopf und lauschte auf verdächtige Geräusche, die in der Stille der Nacht weit zu hören waren. Doch außer seinen eigenen keuchenden Atemzügen und dem raschen Schlag seines Herzens, der ihm so laut vorkam, als müsste er im ganzen Wald zu hören sein, herrschte unwirkliche Stille. Nicht einmal die natürlichen Geräusche des nächtlichen Waldes waren zu hören, da es absolut windstill war und sämtliche Tiere in der näheren Umgebung vor Schreck erstarrt und verstummt zu sein schienen, als wären sie empört über den Frevel, den der zweibeinige Eindringling in ihrem Wald beging, und hielten unwillkürlich die Luft an.

Eine der größeren Lücken im Geäst befand sich genau über der Grabgrube, sodass der Mond den Grabenden und sein Vorankommen in kaltes, fahles Licht tauchte. Die Bäume hatten an dieser Stelle aus unerfindlichen Gründen eine kleine natürliche Lichtung geschaffen, die im Durchmesser zwar gerade einmal acht Meter maß, für die Person mit der Schaufel aber dennoch einen Glücksfall darstellte. Denn so hatte sie ausreichend Platz für ihr Vorhaben und musste nicht mit den Wurzeln der Bäume kämpfen, die sie wie ein Kreis stummer und missbilligender Wächter umstanden.

Der von einer zentimeterdicken Schicht aus Fichtennadeln bedeckte Waldboden war an dieser Stelle locker genug und bot dem kräftig geführten Schaufelblatt nur wenig Widerstand, sodass die Grube rasch tiefer wurde, während der Berg aus ausgehobener Erde daneben immer mehr anwuchs.

Schließlich hielt die Person, die neben dem Kapuzenpulli eine schwarze Jeans und schwarze Lederstiefel trug, schwer atmend inne, begutachtete das ausgehobene Erdloch, in dem sie stand, und nickte zufrieden. Sie stützte sich auf den Schaufelgriff und atmete mehrmals tief durch. Während sie darauf wartete, dass sich ihre Atmung und ihr Herzschlag wieder beruhigten, sah sie sich in alle Richtungen um, konnte jedoch nichts entdecken, was ihr Misstrauen erregt hätte. So wie es aussah, war sie noch immer mutterseelenallein an diesem Ort, der zum exklusiven Privatfriedhof für einen einzigen Menschen werden sollte, sodass seine Leiche nach Möglichkeit nie gefunden wurde.

Nachdem er schließlich wieder zu Atem gekommen war, wischte sich der Totengräber mit dem linken Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn, bevor er leise ächzend aus dem Grab stieg, das etwa einen Meter tief war, was er unter den gegebenen Umständen aber durchaus für ausreichend erachtete. Er ließ die Schaufel einfach auf den Boden fallen, da der weiche Belag aus Kiefernnadeln den Aufprall dämpfte, sodass der Laut nur wenige Meter weit zu hören sein würde. Dann trat er zu der reglosen Gestalt, die unweit der Grube auf dem Waldboden lag.

Es handelte sich dabei um einen Mann mit einem schmalen Gesicht und einem komplett kahl geschorenen Kopf. Er war glatt rasiert und besaß ein markantes breites Kinn, das ihm einen energischen, durchsetzungsstarken Eindruck verlieh und von einer auffälligen Kinnspalte geteilt wurde. Er war schlank und machte einen durchtrainierten Eindruck, ohne dabei allerdings übermäßig muskulös zu sein. Auf seinen Handrücken wuchsen rotbraune Haare, die im Mondlicht wie das Fell eines exotischen Tieres aussahen.

Die Augen des Mannes waren geschlossen, sodass er den Eindruck erweckte, als schliefe er nur. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass keine äußerlich sichtbare Verletzung zu erkennen war. Seine Kleidung – eine hellblaue Jeans, ein schwarzer Rollkragenpullover und braune Bootsschuhe mit abgelaufenen Hacken – war zwar leicht verdreckt, was vor allem auf den beschwerlichen Transport an diesen Ort, zunächst im Kofferraum eines Wagens und dann auf der Schulter des Totengräbers, zurückzuführen war, ansonsten aber unbeschädigt.

Dennoch wusste die Person, die den Mann zunächst unter großen Mühen hierher transportiert und dann auch noch das Loch gegraben hatte, dass sein Opfer mausetot war und keinen Atemzug mehr tat, denn schließlich hatte sie es mit ihren eigenen Händen erwürgt. Und wenn sie sich auf eine Sache in dieser Welt hundertprozentig verlassen konnte, dann auf ihre großen Hände und die enorme Kraft, die in ihnen steckte. Die Würgemale am Hals ihres Opfers wurden allerdings gnädigerweise vom Kragen des Rollis verdeckt.

Der Totengräber riss sich aufseufzend vom Anblick des Mannes los, den er ermordet hatte. Dann ging er in die Knie, schob seine muskulösen Arme unter den Körper und hob ihn mühelos hoch. Er wandte sich um, ging zurück zur Grabgrube und stieg mitsamt seiner Last hinein. Obwohl er kein Mitleid oder Mitgefühl für sein Opfer empfand – weder, als er es getötet hatte, noch jetzt, da es tot war – widerstrebte es ihm dennoch, allzu grob mit der Leiche umzugehen. Deshalb ließ er sie auch nicht einfach zu Boden fallen wie einen Sack Zement, was der tote Mann ohnehin weder gespürt, noch übelgenommen hätte, sondern bückte sich und legte ihn geradezu behutsam auf den Boden der ausgehobenen Grube. Anschließend wandte er sich rasch ab und stieg wieder hinaus. Er hob die Schaufel vom Boden auf und warf einen letzten Blick auf sein Opfer.

Was er sah, ließ ihn unwillkürlich erschaudern, denn das fahle Licht des Mondes, das nun ungehindert auf den reglosen Körper fiel, ließ diesen aussehen, als würde er in einem unirdischen Licht von innen heraus erstrahlen. Gleichzeitig erweckte der Mann in der Grabgrube den Eindruck, als wäre er noch immer quicklebendig und würde sich jeden Moment bewegen und aufsetzen, um sich beispielsweise über eine fehlende Grabrede zu beschweren.

Die linke Hand der Person im Kapuzenpulli zuckte automatisch zur Brust, als wollte sie sich bekreuzigen – zweifellos ein hartnäckiges Überbleibsel einer katholischen Erziehung –, verharrte jedoch wieder, noch bevor sie mit dem Kreuzzeichen beginnen konnte, als ihr jäh bewusst wurde, was sie da tat. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf und unterdrückte jeden Laut des Entsetzens, das sie bei diesem widernatürlichen Anblick empfand. Schnell stieß sie das Schaufelblatt in den Erdhaufen neben der Grube und begann dann mit energischen, schon beinahe verzweifelt wirkenden Bewegungen damit, Erde auf den Körper zu schaufeln, um nicht nur dieses merkwürdige Schauspiel zu beenden, das der Mond mit dem Leichnam veranstaltete, sondern vor allem auch, um hier fertig zu werden und diesen gottverlassenen Ort endlich hinter sich lassen zu können.

Die Erde fiel auf den reglosen Körper im Grab. Zahlreiche Erdbröckchen kullerten herunter und häuften sich zu beiden Seiten an. Doch der größte Teil blieb auf dem Brustkorb, dem Bauch, dem Unterleib und den Beinen liegen.

Der Totengräber begann schon bald wieder, laut zu keuchen, während er unermüdlich schaufelte und keinen weiteren Blick für den Mann in der Grube vergeudete. Er verzichtete nun sogar darauf, ab und zu innezuhalten, um einen Blick auf seine Umgebung zu werfen und konzentriert zu lauschen, so wie er es noch beim Ausheben des Grabes getan hatte.

Als daher völlig unvermittelt ganz in der Nähe mit einem lauten Knacken, das die Stille des nächtlichen Waldes wie ein Axthieb spaltete, ein Ast zerbrach und als Reaktion darauf ein Kauz schrie, erstarrte er und sah sich mit ruckartigen Bewegungen in alle Richtungen um. Sein Keuchen war abrupt verstummt, als er die Luft anhielt, um besser lauschen und auch noch das leiseste Geräusch wahrnehmen zu können. Doch keiner der vorherigen Laute wiederholte sich. Und auch sonst war nichts zu hören oder zu sehen, das ihn glauben ließ, er wäre nicht länger allein an diesem Ort und es gäbe einen unliebsamen Zeugen seines Tuns.

Er kam deshalb rasch zu der Überzeugung, dass es sich beim Verursacher des Knackens um ein nachtaktives Tier gehandelt haben musste, das in diesem Wald heimisch war. Ein großes Tier zwar, wenn er von der Lautstärke des brechenden Astes auf dessen Größe schloss, nichtsdestotrotz aber nur ein Tier und deshalb kein Grund zur Beunruhigung.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, entspannte er sich, stieß die angehaltene Luft aus und atmete tief ein. Ein rascher Blick auf das flache Grab zeigte ihm, dass es schon fast vollständig gefüllt war. Von dem Mann, den er getötet hatte, war kaum noch etwas zu sehen. Vom Hals abwärts bis zu den Zehen war er bereits komplett von Erde bedeckt. Nicht einmal die Konturen seines Körpers waren darunter noch zu erahnen. Lediglich das Gesicht hatte er bislang noch ausgespart, als hätte er Hemmungen gehabt, Erde darauf zu schippen.

Er nahm daher rasch mehrere Schaufeln voller Erde und kippte sie auf das Gesicht des Opfers, bis es vollständig bedeckt war. Anschließend arbeitete er noch rascher, als es vor dem knackenden Ast der Fall gewesen war, als hätte dieser ihn zur Eile angetrieben, bis das Grab wenige Augenblicke später gefüllt und der Erdhaufen daneben vollständig abgetragen war.

Der Mond beschien die Grabstelle noch immer, doch nachdem sein Opfer nun unter der Erde lag und er es nicht mehr sehen musste, beunruhigte ihn das nicht länger. Im fahlen Licht war nur noch ein flacher Erdhügel zu erkennen, der sich über dem hier vergrabenen Körper erhob. Allerdings war noch immer deutlich zu sehen, dass hier gegraben worden war, da die Fichtennadelschicht fehlte. Deshalb bückte er sich und schob mit den Händen Fichtennadeln von den Seiten auf das frische Grab und verteilte sie dort, bis sie wieder eine durchgehende, makellose Schicht bildeten. Sie war zwar dort, wo sich das Grab befand, noch etwas feucht und daher dunkler als in der Umgebung, doch bis zum Sonnenaufgang war sie bestimmt getrocknet, sodass niemand vermuten würde, dass hier unlängst gegraben worden war, solange er nicht ausdrücklich danach suchte. Allerdings rechnete er ohnehin nicht damit, dass hier jemand zufällig vorbeikam.

Zufrieden mit seinem Werk richtete er sich schließlich auf und klopfte die Hände an seiner Hose ab. Dann nahm er die Schaufel, legte sie sich über die Schulter und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Wozu auch? Sein Opfer war tot und begraben, und mehr hatte er nicht gewollt.

GRABESDUNKEL STEHT DER WALD

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