Читать книгу GRABESDUNKEL STEHT DER WALD - Eberhard Weidner - Страница 6
DRITTES KAPITEL
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Als Cora von ihrem mentalen Ausflug in ihre Erinnerungen zurückkehrte, als erwachte sie aus einem Traum, saß sie noch immer im Bad neben der Toilettenschüssel und ließ ihren rechten Zeigefinger auf ihrer Kopfhaut kreiseln, sodass sich ihre langen Haare darum wickelten. Es war eine Angewohnheit, die sie sich einfach nicht abgewöhnen konnte, sosehr und sooft sie es auch versuchte, und die sie vor allem immer dann unbewusst ausführte, wenn sie unter starkem, emotionalem Stress stand.
Sie befreite ihren Zeigefinger, dessen Spitze dunkel war, weil sich das Blut darin gestaut hatte, und stand auf. Dann stellte sie sich vor das Waschbecken und erwiderte den Blick ihres seitenverkehrten Ebenbilds im Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr allerdings ausnahmsweise nicht so besonders.
Ihr Haar war an der Stelle zerzaust, an der sie es um ihren Finger gewickelt hatte. Außerdem war sie blasser als sonst und hatte leicht gerötete, wässrige Augen, als wäre sie ernsthaft erkrankt. Und zu allem Überfluss hing auch noch ein Spritzer Erbrochenes an ihrem Kinn.
Sie verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf, weil es Zeit wurde, dass sie sich nicht so gehen ließ und ein ernstes Wort mit sich selbst sprach.
Na schön, dann war Markus also wieder aufgetaucht. Und wenn schon? Das war schließlich kein Weltuntergang. Nach Angaben der Polizistin von der Vermisstenstelle hatte er nämlich sein Gedächtnis verloren. Also wusste er auch nicht mehr, was mit ihm passiert war. Und selbst wenn er seine Erinnerungen irgendwann zurückerlangte, würde er den Mordversuch nicht mit ihr in Verbindung bringen. Schließlich war sie weit weg gewesen und hatte eines der besten Alibis, die man sich nur wünschen konnte.
Und während Coras Abwesenheit war eben ein Unbekannter ins Haus eingedrungen, als Markus gerade im Arbeitszimmer auf Coras Anruf gewartet hatte, und hatte ihren Ehemann erwürgt. Anschließend hatte der Fremde die Leiche in den Ebersberger Forst gebracht, einem ausgedehnten Waldgebiet fünfundzwanzig Kilometer von München entfernt, und dort verscharrt.
So war es zumindest von ihr geplant gewesen, und genau so hätte Sascha es auch ausführen sollen. Was war also passiert, dass Markus noch immer am Leben war und so unerwartet und unwillkommen wie ein nächtlicher Albtraum wieder auf der Bildfläche erschien?
Hatte Sascha ihn gar nicht getötet, wie er es ihr gegenüber hinterher behauptet hatte? Aber wieso nicht? Und wo war Markus seitdem gewesen? War er in der Gegend herumgeirrt, nachdem er im Wald ohne jegliche Erinnerung wieder zu sich gekommen war, und schließlich in Regensburg gelandet, um dort bei einem Ladendiebstahl erwischt zu werden und wieder in ihr Leben zurückzukehren?
Cora spürte den Impuls, nach unten zu gehen und zum Telefon zu greifen, um Sascha sofort anzurufen und zur Rede zu stellen. Doch ihr wurde sofort klar, dass dies das Verkehrteste wäre, was sie tun könnte.
Erstens hatte sie mit ihm eine Funkstille von einem halben Jahr vereinbart. Denn wenn niemand sie zusammen sah, würde auch niemand argwöhnen, Sascha könnte etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun haben. Wenn er hingegen ein halbes Jahr nach Markus’ Verschwinden auftauchte, wäre das viel unverdächtiger, schließlich konnte niemand erwarten, dass sie ihrem verschollenen Mann ein Leben lang hinterherweinte.
Zweitens hegte sie trotz des Fotos, das ihr die Ermittlerin per Mail geschickt hatte, urplötzlich den Verdacht, das Ganze könnte eine ausgeklügelte Falle der Polizei sein. Vielleicht verdächtigte man sie trotz all ihrer raffinierten Vorsichtsmaßnahmen und wollte sie auf diese Weise aus der Reserve locken und dazu verleiten, einen Fehler zu begehen.
Aber nicht mit mir, Freunde!
Coras Spiegelbild grinste sie an, während sie sich vornahm, sich weiterhin extrem vorsichtig zu verhalten und nach Möglichkeit keine vermeidbaren Fehler zu begehen. Ob die Polizei sie tatsächlich verdächtigte und auszutricksen versuchte, wusste sie nicht mit Sicherheit, sie beschloss allerdings, bis auf Weiteres so zu tun, als wäre das der Fall. Doch dazu musste sie einen kühlen Kopf bewahren und durfte nicht in Panik verfallen.
Die überraschende Mitteilung von Anja Spangenberg, ihr Mann, den sie in einem Grab im Wald gewähnt hatte, sei wieder aufgetaucht, hatte ihr einen Schock versetzt und für eine Weile ihren gesunden Menschenverstand ausgeschaltet. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Schließlich war es ja nicht so, als wäre Markus von den Toten wiederauferstanden und ein verfluchter Zombie. Nein, für sein Wiederauftauchen musste es eine normale, rationale Erklärung geben. Und die musste sie herausfinden, bevor sie sich überhaupt daranmachen konnte, die nächsten Schritte in Angriff zu nehmen.
Die wichtigste Frage war daher ganz einfach und lautete momentan wie folgt: Aus welchem Grund war Markus nicht tot?
Und da Sascha nicht hier war, um ihr Rede und Antwort zu stehen, gab es für sie eigentlich nur eine Möglichkeit, wie sie rasch Licht ins Dunkel bringen konnte.
2
Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt hatte, um den ekelerregenden Geschmack nach Erbrochenem loszuwerden, ging Cora eilig zurück in ihr Arbeitszimmer.
Markus und sie hatten schon immer getrennte Schlafzimmer gehabt, da Markus’ Schnarchen zeitweise die Lautstärke eines Presslufthammers erreichte und Cora von Haus aus einen leichten Schlaf hatte. Zwei Dinge, die unvereinbar waren. Und als sie dann vor sechzehn Jahren in dieses Haus gezogen waren, das über weit mehr Zimmer verfügte, als sie benötigten, weil sie keine Kinder hatten, hatte Cora neben ihrem Schlafzimmer und dem Atelier im Dachgeschoss auch noch ein eigenes, kleines Arbeitszimmer bekommen, in dem sich neben dem Schreibtisch mit ihrem Laptop und mehreren Regalen unter anderem auch ein Wandtresor befand.
Cora nahm das Bild – eine limitierte Farblithografie von Pablo Picasso – von der Wand, hinter dem sich der Tresor verbarg, und lehnte es am Boden gegen die Wand. Anschließend tippte sie den sechsstelligen Code, den nicht einmal Markus gekannt hatte, in die LED-Tastatur, drückte zur Bestätigung die Taste mit dem Rautenzeichen und drehte den Metallklappgriff, um die Safetür zu öffnen.
Im Tresor befanden sich ihre persönlichen wichtigen Unterlagen, ihre Sparbücher, etwas Bargeld für den Notfall und ihr Schmuck. Doch all das interessierte sie momentan nicht. Worauf sie es abgesehen hatte, lag auf der rechten Seite im oberen Fach. Sie griff danach und schloss die Tresortür wieder, verzichtete aber vorerst darauf, das Bild wieder davor aufzuhängen.
Sie wandte sich um und ging zum Schreibtisch. Das Display des Laptops war noch immer aufgeklappt und der Rechner in Betrieb. Cora nahm hinter dem Schreibtisch Platz und öffnete das Speicherkarten-Etui, das sie dem Tresor entnommen hatte. Im Innern befanden sich zwei Speicherkarten, die lediglich mit den Ziffern 1 und 2 beschriftet waren. Sie nahm die Karte mit der 1 und schob sie in das Kartenlesegerät des Laptops.
Die Daten wurden eingelesen, dann öffnete sich auf dem Bildschirm ein Menü mit mehreren Auswahlmöglichkeiten. Cora entschied sich für die Option, die es ihr erlaubte, den Ordner zu öffnen, um die Dateien anzuzeigen. Einen Augenblick später öffnete sich ein Fenster, und Cora hatte den Inhalt des Datenträgers vor sich. Es gab jedoch nur eine einzige Datei, und bei dieser handelte es sich um eine Videodatei.
Cora doppelklickte auf die Datei, die den unverfänglichen Namen »Film1« trug, und wartete dann ungeduldig darauf, dass die Aufnahme abgespielt wurde.
3
Schon als Cora damals den Plan zur Ermordung ihres Ehemanns und anschließenden Beseitigung der Leiche gefasst hatte, war ihr bewusst gewesen, dass Sascha früher oder später zum Problembären werden könnte.
Sie konnte sich nämlich partout nicht vorstellen, mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen und alt zu werden. Als Liebhaber und gelegentlicher Sexualpartner war er aufgrund seiner körperlichen Vorzüge unschlagbar, doch als Lebenspartner wegen seiner intellektuellen Defizite vermutlich ein Reinfall.
Die entscheidende Frage hatte also gelautet: Wie sollte sie sicherstellen, dass Sascha sie nicht mit seinem Wissen erpresste, wenn sie seiner irgendwann müde wurde und ihm den Laufpass gab. Schließlich hatte er sie in der Hand, denn er brauchte der Polizei nur einen anonymen Hinweis auf den Ort im Ebersberger Forst zu geben, an dem er Markus verscharrt hatte, und einfach behaupten, Cora hätte ihren Mann umgebracht. Sie hatte zwar ein Alibi für den Tattag, doch wenn der genaue Tatzeitpunkt nach mehreren Monaten in der Erde möglicherweise gar nicht mehr feststellbar war, war dieses Alibi nicht mehr viel wert. Sie wiederum konnte dann im Gegenzug schlecht auf Sascha zeigen und ihn des Mordes bezichtigen, ohne ihre eigene Mittäterschaft zu offenbaren. Denn wie sollte sie sonst den Mörder kennen, wenn sie ihn nicht selbst mit dem Mord beauftragt oder ihm – beispielsweise indem sie ihm einen Ersatzschlüssel gegeben und den Code für die Alarmanlage verraten hatte – sogar dabei geholfen hatte.
Um dem vorzubeugen, hatte sie, bevor sie zu ihren Eltern gefahren war, zwei kabellose Miniatur-Überwachungskameras besorgt und an unauffälligen Stellen in der Wohnung deponiert. Die Kameras schalteten sich zu einem zuvor von ihr einprogrammierten Zeitpunkt ein, filmten alles, was sich in den nächsten Stunden vor ihren Weitwinkel-Objektiven abspielte, in bester HD-Qualität und speicherten die Aufnahmen auf den Micro-SD-Karten.
Von den Kameras und den Aufnahmen hatte sie Sascha natürlich nichts erzählt. Sie wollte ihn erst dann damit konfrontieren, wenn es irgendwann notwendig werden sollte, um ihn davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen. Immerhin würden die Aufnahmen beweisen, dass Sascha in jener Nacht in ihr Haus eingedrungen war und Markus umgebracht hatte. Und Beweise, dass sie ihn dazu angestiftet oder auch nur dazu ermutigt hatte, gab es hingegen nicht.
Doch so, wie es jetzt, nach dem Anruf der Ermittlerin aussah, hatte Sascha überhaupt keinen Mord begangen, sondern allenfalls einen gescheiterten Mordversuch.
Cora hatte sich die Aufnahmen bislang noch gar nicht angesehen. Sie hatte zwar erstaunlicherweise keinerlei Skrupel dabei empfunden, den Mann umbringen zu lassen, mit dem sie seit mehr als zwei Jahrzehnten liiert war, doch bei dem Gedanken, den Mord mitansehen zu müssen, hatte sie ein mulmiges Gefühl.
Doch nun führte aufgrund der neuesten Entwicklungen kein Weg daran vorbei. Sie musste sich die Aufnahmen ansehen, um zu überprüfen, was damals hier im Haus geschehen war und warum Sascha versagt hatte.
Denn ihr gegenüber hatte er behauptet, dass die Sache erledigt und alles nach Plan gelaufen wäre, als sie ihn auf der Rückfahrt von ihren Eltern von einem öffentlichen Fernsprecher ungefähr auf halber Strecke angerufen hatte.
Ohne dass es Cora bewusst wurde, vollführte sie mit ihrem Zeigefinger erneut kleine Kreise auf ihrem Kopf und wickelte ihre Haare um ihren Finger. Dann startete endlich die Aufnahme der ersten Kamera, und Cora hielt die Luft an.
4
Doch schon bald ließ Cora die angehaltene Luft wieder entweichen, denn die ersten Bilder, die sie sah, waren wenig spektakulär. Schließlich hatte sie die Kamera sicherheitshalber so programmiert, dass die Aufnahme bereits um neun Uhr abends startete, also eine Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem Sascha ins Haus kommen und den Mord begehen sollte. Diese Zeit und das Datum wurden auch am unteren linken Bildrand eingeblendet.
Sie hatte die erste Kamera in Augenhöhe an der Garderobe im Eingangsbereich befestigt. Rechts und links hingen Jacken, sodass sie nicht so leicht zu entdecken war. Lediglich in der Bildmitte befand sich ein schmaler vertikaler Streifen, der die Haustür und den Bereich unmittelbar davor zeigte. Die Qualität der Aufnahme war hervorragend, man konnte sogar kleinste Details deutlich erkennen. Auch die Beleuchtung war ausreichend, denn Markus hatte immer überall das Licht brennen lassen und sich wenig um ihre ständigen Bitten gekümmert, die Lichter auszumachen, wenn er das Zimmer verließ, um umweltbewusst zu handeln und Energie zu sparen.
Cora griff nach der Maus und bewegte damit den Schieber der unteren Menüleiste so weit nach rechts, dass die Aufnahme um fünfundfünfzig Minuten vorgespult wurde. Die Szene veränderte sich zwar nicht, als handelte es sich nur um ein Foto, doch die Uhrzeit wechselte und zeigte jetzt 21:55 an.
Cora wartete zwei Minuten, den Blick starr auf das Videobild gerichtet, das allerdings weiterhin unverändert blieb. Allmählich wurde sie ungeduldig. Wieso tauchte Sascha nicht endlich auf? Hatte sie ihm denn nicht eingetrichtert, dass er pünktlich sein sollte? Schließlich hielt sich Markus zum damaligen Zeitpunkt vermutlich in seinem Arbeitszimmer auf, um auf Coras angekündigten Anruf zu warten, der allerdings nicht kommen würde. Doch wenn sich Sascha arg verspätete und der Anruf ausblieb, würde Markus das Arbeitszimmer möglicherweise schon bald wieder verlassen. Und die günstige Gelegenheit für Sascha, unbemerkt ins Haus zu kommen und ihren Mann zu überraschen, wäre wahrscheinlich dahin. Lag hier also die Ursache für Saschas Versagen? Hatte er letztendlich nur versagt, weil er aus irgendeinem Grund zu spät gekommen war?
Es juckte ihr in den Fingern, erneut ein Stück zu überspringen, doch sie hatte Angst, sie könnte dadurch den Moment verpassen, in dem Sascha das Haus betrat. Also ließ sie es bleiben und seufzte nur frustriert.
Und tatsächlich, eine halbe Minute später wurde ihre Geduld belohnt.
Die Haustür öffnete sich weit genug, damit sich eine große breitschultrige Gestalt hindurchschieben konnte. Dann wurde sie sofort wieder geschlossen.
Alles spielte sich in absoluter Lautlosigkeit ab, doch das lag nicht etwa daran, dass sich der Eindringling völlig geräuschlos bewegte, sondern allein daran, dass die Miniatur-Überwachungskameras lediglich Bilder und keinen Ton lieferten.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sah sich der Mann um. Er entdeckte die Funk-Alarmzentrale, die genau dort an der Wand hing, wo Cora es ihm beschrieben hatte. Sollte er nicht innerhalb der nächsten Sekunden den korrekten PIN-Code eintippen, würde die Anlage Alarm auslösen. Doch der Eindringling reagierte endlich, trat an das Gerät und gab den richtigen Code ein, den er anscheinend vom rechten Handgelenk ablas, wo er ihn notiert hatte, um ihn nicht zu vergessen. Dann blieb er für ein paar Sekunden reglos stehen und schien konzentriert zu lauschen.
Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug Lederstiefel, Jeans, dünne Handschuhe und einen Kapuzenpulli. Die Kapuze hatte er allerdings nicht hochgeschoben.
Obwohl Cora das Gesicht des Mannes bislang noch nicht gut genug gesehen hatte, war seine markante Gestalt in ihren Augen dennoch unverkennbar. Trotz der Kleidung konnte sie die trainierten Muskeln erkennen, die sie schon so oft in natura und unverpackt gesehen und bewundert hatte. Dennoch hoffte sie, Sascha würde sich endlich umdrehen, um der Kamera sein Gesicht zu zeigen.
Und als hätte er ihren stummen Wunsch aus der Zukunft gehört, drehte er sich in diesem Moment tatsächlich um und wandte der versteckten Kamera seine Frontseite zu. Das Abbild seines Gesichts auf dem Monitor war gestochen scharf und unverkennbar und würde jeden Kriminalbeamten, Staatsanwalt und Richter davon überzeugen, dass es Sascha gewesen war, der in der Nacht, als Markus verschwand, ins Haus eingedrungen war. Sollte er es dennoch abstreiten wollen, würde er sich angesichts dieser Aufnahme nur der Lächerlichkeit preisgeben. Und falls er behauptete, Cora hätte ihm nicht nur den Code für die Alarmanlage, sondern auch den Hausschlüssel gegeben, dann konnte er das nicht beweisen, denn wie Cora es von ihm verlangt hatte, hatte er den Schlüssel auf der Flurkommode neben dem Telefon deponiert, bevor er wieder verschwunden war.
Cora bemerkte erst jetzt, dass sie breit grinste, denn ihr Plan, mit den heimlichen Videoaufnahmen ein Druckmittel in der Hinterhand zu haben, war aufgegangen. Und sollte die Polizei für den Fall, dass sie es tatsächlich einsetzen musste, fragen, warum sie die Aufnahmen nicht gleich präsentiert hatte, würde sie einfach behaupten, dass sie sie erst jetzt entdeckt hatte, weil Markus die Kameras ohne ihr Wissen angebracht hatte, möglicherweise aus Angst vor genau dem Mann, der nun auf den Aufnahmen zu sehen war.
Doch dann verblasste ihr Grinsen wieder, als ihr erneut bewusst wurde, dass sich durch Markus’ Auftauchen ohnehin alles verändert hatte. Es gab nämlich gar keinen Mord, für den Sascha und sie hinter Gitter kommen konnten. Sascha hatte niemanden ermordet, und sie hatte sich weder der Anstiftung noch der Beihilfe schuldig gemacht. Alles, was geschehen war, war nur ein versuchter Mord, der zwar ebenfalls strafbar war, doch das auch nur dann, wenn Markus seine Erinnerungen daran wiedererlangte.
Doch dazu würde es nicht kommen, wenn Cora dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es anstellen sollte, Markus umzubringen – und dieses Mal wirklich und endgültig –, ohne nach seinem Verschwinden und Wiederauftauchen Verdacht zu erregen, doch irgendetwas würde ihr schon einfallen. Dabei wäre ein Unfall nach allem, was passiert war, vermutlich am besten und effektivsten. Aber nicht sofort, sondern erst in ein paar Wochen, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen war. Und bis dahin konnte Cora nur hoffen, dass Markus seine Erinnerungen nicht zurückbekam.
Doch im Augenblick hatte Cora noch keine Zeit, sich mit der Ausarbeitung eines neuen Plans zu beschäftigen, da die Aufnahmen der verborgenen Überwachungskamera im Eingangsbereich ihre volle Aufmerksamkeit erforderte.
Nachdem Sascha eine Weile an Ort und Stelle ausgeharrt und gelauscht hatte, nickte er nun zufrieden und lächelte dabei.
Cora überlegte, ob sie dieses Bild ausdrucken sollte, um es Sascha für den Fall des Falles als Beweis zu präsentieren, dass sie tatsächlich im Besitz von Videoaufnahmen von ihm am Tatabend war. Doch sie entschied, dass sie darauf momentan noch verzichten konnte. Wozu schlafende Hunde wecken? Außerdem wollte sie vorerst keine Beweise fabrizieren, die in die falschen Hände gelangen und sie beide in Teufels Küche bringen konnten.
Stattdessen beobachtete sie aufmerksam, was weiter geschah. Obwohl sie wusste, wie es ausging, war sie dennoch gespannt und aufgeregt. Es war wie bei diesem Film über die Titanic, denn da hatte sie auch von vornherein gewusst, wie es endete, und die Handlung gleichwohl gebannt verfolgt.
Sascha hob seine riesigen Hände, bei deren Anblick ein wohliger Schauer über ihren ganzen Körper lief, weil sie wusste, wie zärtlich er mit diesen Händen sein konnte, die aussahen, als könnte er damit einen anderen Mann ohne allzu große Mühe entzweibrechen.
Doch trotz all seiner Kraft war es ihm letztendlich nicht gelungen, Markus wie geplant zu ermorden. Und Cora wollte endlich wissen, warum nicht.
Sascha ergriff die Kapuze und schob sie sich über den Kopf, sodass sein Gesicht im Schatten lag und nicht mehr zu erkennen war. Cora war froh, dass er das nicht schon vor dem Haus getan hatte. Doch jetzt war es ihr egal, da sein Gesicht bereits auf der Aufnahme verewigt war.
Dann setzte sich Sascha abrupt in Bewegung und verließ den Bereich, den das Objektiv der Kamera erfasste.
Cora überlegte kurz, ob sie sich das Ende der Aufnahme ansehen sollte, wenn Sascha das Haus wieder verließ, beschloss aber, sich alles in chronologischer Reihenfolge anzuschauen. Erst wollte sie sehen, was die andere Kamera aufgezeichnet hatte. Möglicherweise erfuhr sie auf diese Weise auch eher, was schiefgelaufen war.
Also stoppte sie das Video, merkte sich die angezeigte Uhrzeit und entfernte dann die Speicherkarte, um sie durch die zweite zu ersetzen.
Die zweite Überwachungskamera hatte sie in Markus’ Arbeitszimmer in einem Bücherregal deponiert. Sie hatte dort auf einem der Fachbücher im Schatten gelegen, sodass sie im Grunde nur dann entdeckt worden wäre, wenn jemand zufällig das betreffende Buch herausgenommen oder gezielt danach gesucht hätte. Doch beides war an jenem Abend nicht unbedingt zu befürchten gewesen und auch nicht eingetreten.
Die Aufnahme startete eine halbe Stunde nach der im Eingangsbereich und zeigte durch das Weitwinkel-Objektiv einen großen Ausschnitt des Arbeitszimmers. Markus’ wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz war von der Seite zu sehen und bildete den Mittelpunkt. Das Licht brannte zwar, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, doch Markus war nicht zu sehen. Allerdings war es dafür auch noch zu früh, denn Coras Anruf sollte erst in einer halben Stunde erfolgen.
Cora bewegte mit der Maus den Schieberegler und spulte nach vorn, bis die digitalen Ziffern exakt die Uhrzeit anzeigten, die sie sich von der anderen Aufnahme gemerkt hatte.
Nun war Markus zu sehen, der hinter seinem Schreibtisch saß, sein Handy ans Ohr hielt und mit jemandem telefonierte.
Cora presste verärgert die Lippen aufeinander. Sie hatte damit gerechnet, dass Markus auf ihren Anruf wartete. Doch stattdessen telefonierte er und schien völlig vergessen zu haben, dass sie für diese Uhrzeit ihren zweiten Anruf angekündigt hatte. Mit wem spricht er da bloß? Cora spürte einen unerwarteten Stich der Eifersucht, doch dann entspannte sie sich wieder. Sie kannte ihren Mann nämlich gut genug, um zu sehen, dass er in diesem Moment wütend war und lautstark ins Telefon sprach. Schade, dass sie nicht hören konnte, was er sagte. Doch es sah so aus, als hielte er seinem Gesprächspartner eine gehörige Standpauke.
Ihr Blick wanderte zur Zeitanzeige, die nun zweiundzwanzig Uhr drei anzeigte. Laut Plan sollte Sascha längst vor der Tür stehen, die prinzipiell geschlossen war, wenn Markus telefonierte, und auf einen geeigneten Moment warten, um ihn zu überraschen. Durch das Schlüsselloch konnte er sowohl den Schreibtisch als auch den Mann dahinter sehen.
Cora spürte, dass ihre Hände feucht waren. Das Wissen, dass Sascha in diesem Moment bereits vor der Tür war und darauf lauerte, sie endlich aufreißen und hereinstürmen zu können, um den ahnungslosen Mann hinter dem Schreibtisch zu ermorden, ließ ihr Herz schneller schlagen. Und obwohl sie schon wusste, wie die Sache ausgegangen war, war sie gleichwohl gespannt, was als Nächstes passieren würde.
Markus telefonierte noch immer, hörte jetzt aber aufmerksam zu. Dabei schüttelte er mehrmals den Kopf, als wäre er mit dem, was er hörte, alles andere als einverstanden.
Er stand auf und umrundete den Schreibtisch, als wollte er das Arbeitszimmer verlassen. Doch das tat er nicht, denn sonst wäre er unweigerlich auf Sascha gestoßen. Stattdessen begann er, auf der freien Fläche vor dem Schreibtisch hin und her zu marschieren, wie er es während des Telefonierens manchmal tat. Er hatte nur Platz gebraucht, weil er allem Anschein nach zu erregt und wütend war, um weiterhin auf seinem Chefsessel hinter dem Schreibtisch zu verharren. Noch ein Zeichen, wie aufgewühlt und aufgebracht er war.
Plötzlich blieb er mit dem Rücken zur Tür stehen, gestikulierte mit der freien linken Hand, um seine Worte zu unterstreichen, und sprach in sein Smartphone.
Cora konnte die Tür zum Flur nicht sehen, da sie außerhalb des Bereichs lag, den die Kamera erfasste, spürte es jedoch trotzdem, als sie aufgerissen wurde. Im nächsten Moment tauchte auch schon die große, schwarz gekleidete Gestalt mit der übergestülpten Kapuze im Bild auf und stürzte sich auf Markus, der noch immer mit dem Rücken zur Tür stand und nicht wusste, wie ihm geschah und was mit der Brachialgewalt eines mittelschweren Hurrikans plötzlich über ihn herfiel.
»Jetzt doch noch nicht, du Idiot!«, entfuhr es Cora, denn noch immer bestand die Telefonverbindung zu Markus’ unbekanntem Gesprächspartner, der alles mithören konnte, was geschah.
Sascha packte Markus von hinten, bevor dieser überhaupt in der Lage war, in irgendeiner Form auf den eindringenden Hünen zu reagieren, und legte seine behandschuhten Hände um dessen Hals.
Markus ließ das Handy fallen, hob die Arme und zerrte reflexartig an den Pranken, die ihm Stahlklammern gleich die Luft abschnürten. Doch es ähnelte dem Versuch, mit einer Barriere aus Papier einen Sattelschlepper aufzuhalten, und war daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Markus war zwar lediglich zehn Zentimeter kleiner als Sascha und alles andere als ein Schwächling, da er sich auf dem Crosstrainer fit hielt und Judo betrieb. Doch gegen den muskelbepackten Hünen, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war, hatte er aufgrund seiner ungünstigen Position dennoch keine Chance.
Da Sascha den anderen Mann komplett überrumpelt und von hinten angegriffen hatte, kam Markus gar nicht dazu, seine Judogriffe anzuwenden. Außerdem führte das abrupte Abschneiden der Luftzufuhr vermutlich dazu, dass er in Panik verfiel und keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen konnte.
Cora sah, dass Markus’ Füße gar nicht mehr den Boden berührten, sondern in der Luft hingen, während er damit zappelte wie ein außer Kontrolle geratener, durchgeknallter Hampelmann. Falls die Bewegungen allerdings nicht unkontrolliert, sondern gezielt erfolgten, um seinem heimtückischen Angreifer einen Tritt vors Schienbein oder in den Schritt zu verpassen, so gelang ihm das nicht, da dieser hinter ihm stand, dank seiner langen Arme ausreichend Abstand hielt und somit nahezu unerreichbar war.
Cora hatte es Sascha unzählige Male eingebläut, sich auf keinen Fall auf einen Zweikampf mit Markus einzulassen, sondern ihn hinterrücks anzugreifen und rasch zu töten. Deshalb erfüllte es sie jetzt mit Genugtuung, dass er ihre Anweisungen so genau befolgt hatte.
Sie hatte zwar gedacht, der Anblick, wie ihr Ehemann ermordet wurde, würde ihr etwas ausmachen, doch nun stellte sie erstaunt fest, dass es sie überhaupt nicht berührte. Der Mann, der im Griff des schwarz gekleideten Hünen zappelte, und dessen Bewegungen immer mehr erlahmten, hätte genauso gut ein wildfremder Mensch sein können. Aber vielleicht spielte es ja auch eine Rolle, dass sie wusste, dass Markus gar nicht sterben, sondern wie durch ein Wunder überleben würde.
Das Zappeln der Füße wurde schwächer und erstarb schließlich vollends. Sie zuckten und streckten sich noch ein paarmal, dieses Mal wirklich unkontrolliert, dann erschlaffte der Körper und rührte sich nicht mehr.
Cora beugte sich unwillkürlich nach vorn, als könnte sie die Szene dadurch besser sehen, während sie höchst konzentriert verfolgte, was weiterhin geschah.
Jetzt!, dachte sie. Jetzt ist der Moment, wo Sascha die Sache vergeigt, nachdem er bislang alles richtig gemacht hat.
Dadurch, dass es keinen Ton gab, hatte die Aufnahme etwas Gespenstisches und Unnatürliches an sich. Dennoch hatte sich Cora dank ihrer lebhaften Fantasie das Schnaufen, Grunzen und erfolglose Japsen nach Luft gut hinzudenken können. Doch nun, nachdem Markus’ Körper erschlafft war und leblos wirkte, musste Ruhe eingekehrt sein, die vermutlich lediglich durch Saschas heftiges Schnaufen unterbrochen wurde.
Cora sah Markus’ Handy am Boden liegen und fragte sich, was die Person am anderen Ende der Verbindung von den Geräuschen gehalten hatte. Oder hatte sie schon längst aufgelegt, weil sie gedacht hatte, Markus wollte sie nur verarschen, schließlich hatten sie sich noch kurz zuvor heftig gestritten?
Sascha senkte seine mächtigen, langen Arme und ließ den schlaffen Körper zu Boden sinken, wo er reglos liegenblieb. Cora konnte natürlich nicht erkennen, ob noch immer Leben in Markus’ leblos wirkender Gestalt steckte, doch es musste der Fall sein, schließlich hatte er überlebt. Doch Sascha schien überzeugt zu sein, dass er den Ehemann seiner Geliebten getötet hatte.
Er bückte sich und hob das Handy auf, das Markus aus der Hand gefallen war. Er hob es ans Ohr und lauschte, schien jedoch nichts zu hören, denn er zuckte die Achseln, schaltete das Gerät aus und steckte es ein. Dann sah er sich um.
Cora hatte ihn angewiesen, alles so zu lassen, wie er es vorgefunden hatte. Er sollte lediglich die Lichter löschen, wenn er ging, und anschließend Markus’ Leiche verschwinden lassen. Um alles andere hatte sich Cora nach ihrer Rückkehr gekümmert, um es so aussehen zu lassen, als hätte ihr Mann das Haus aus freien Stücken und auf seinen eigenen Beinen verlassen. So hatte sie seine Schlüssel, seine Brieftasche und ein paar Kleidungsstücke verschwinden lassen. Sie hatte sich zwar gewundert, wo Markus’ Handy geblieben war, war allerdings davon ausgegangen, dass Markus es in der Hosentasche gehabt hatte, als Sascha ihn umgebracht hatte, und es dann mit der Leiche im Wald verscharrt worden war. Nun wusste sie wenigstens, was mit dem Handy geschehen war.
Doch wer war am anderen Ende der Leitung gewesen? Und was hatte der Gesprächspartner von dem, was passiert war, mitbekommen?
Cora nahm sich vor, Sascha nach dem Handy zu fragen. Wenn er klug gewesen war, hatte er es entsorgt oder gemeinsam mit Markus im Wald vergraben. Doch da Sascha ihrer Meinung nach dafür nicht clever genug war und ohne ausdrückliche Anweisung gern das Verkehrte tat, bestand auch die Möglichkeit, dass er das Handy noch immer besaß. Wenn ja, dann wäre das ausnahmsweise ein Glücksfall, weil Cora so unter Umständen feststellen konnte, mit wem Markus zuletzt telefoniert hatte.
Doch das war momentan zweitrangig. Wichtiger war die Frage, warum Sascha versagt hatte und Markus noch immer am Leben war. Cora hatte sich von den Videoaufnahmen die Antwort auf diese Frage erhofft, war aber nicht unbedingt schlauer als zuvor.
Markus’ regloser Körper wirkte auf den Aufnahmen zwar tatsächlich wie tot, doch da er nun in Regensburg aufgetaucht war, musste er zwangsläufig noch immer am Leben gewesen sein. Und Sascha hatte schlichtweg zu früh aufgehört, ihn zu erwürgen, und sich täuschen lassen.
Stümper!
Cora beschloss, ein ernstes Wörtchen mit Sascha zu reden, wenn sie in Kürze mit ihm sprach. Denn durch seinen Fehler hatte er ihren ausgeklügelten Plan torpediert und scheitern lassen. Markus war noch immer da, und mit Ausnahme der Tatsache, dass er das Gedächtnis verloren hatte, hatte sie durch die Aktion rein gar nichts gewonnen.
Sie beobachtete, was damals weiter in Markus’ Arbeitszimmer geschehen war.
Sascha bückte sich, hob den schlaffen Körper ihres Mannes hoch, als handelte es sich um ein Leichtgewicht, und wuchtete ihn sich über die linke Schulter. Dann trat er mit seiner Last aus dem Bild und schaltete wie angewiesen das Licht aus, als er das Arbeitszimmer verließ.
Wenigstens tut er, was ich ihm gesagt habe.
Erneut merkte sich Cora die angezeigte Zeit, stoppte das Video und wechselte die Speicherkarte. Dann startete sie das andere Video um dieselbe Uhrzeit, zu der Sascha das Arbeitszimmer verlassen hatte.
Zuerst geschah nichts. Dann wurde es etwas dunkler, weil Sascha die Lichter im Haus löschte, bis nur noch die Lampe im Eingangsbereich brannte. Schließlich kam Sascha ins Bild, den reglosen Körper noch immer geschultert. Ohne sich noch einmal umzusehen, öffnete er die Tür, löschte das Licht und marschierte aus dem Haus, um den vermeintlichen Leichnam in den Ebersberger Forst zu transportieren.
Nun wusste Cora, was in jener Nacht hier im Haus geschehen war und vermutlich schiefgegangen war. Um noch mehr zu erfahren und zu hören, was danach passiert war, war es unumgänglich, dass sie die Funkstille, die sie selbst angeordnet hatte, brach und mit Sascha Kontakt aufnahm. Schließlich gab es, sofern die Polizei sie nicht hereinlegen wollte, gar keinen Mord und daher auch keinen Grund, dass Sascha und sie sich weiterhin voneinander fernhielten. Ganz im Gegenteil, es bestand nämlich enormer Klärungsbedarf. Dennoch wollte sie weiterhin vorsichtig sein, falls die Polizei sie tatsächlich in die Falle locken wollte, und Sascha nicht von hier oder mit ihrem Handy, sondern von einem öffentlichen Telefon aus anrufen.