Читать книгу GRABESDUNKEL STEHT DER WALD - Eberhard Weidner - Страница 4
ERSTES KAPITEL
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Als Cora Eichholz nach dem schnurlosen Telefon griff, um den Anruf entgegenzunehmen, hatte sie ein merkwürdiges Gefühl, so als ahnte sie bereits, dass dieser Anruf ihr Leben auf dramatische Weise verändern würde. Und das nicht unbedingt zum Besseren.
»Ja«, meldete sie sich deshalb in aller Knappheit und Vorsicht, ohne ihren Namen preiszugeben, und lauschte dann mit angehaltenem Atem, dass der Anrufer sprach und ihr mitteilte, wer er war und was er von ihr wollte.
»Spreche ich mit Frau Eichholz?« Es handelte sich um die Stimme einer Frau, die Cora zwar bekannt vorkam, der sie aber trotz intensiven Nachdenkens nicht sofort ein Gesicht zuordnen konnte.
»Ja. Und … und wer sind Sie?«
»Hier ist Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München.«
Schon beim dritten Wort, dem Dienstgrad der Anruferin, bekam die Stimme in Coras Bewusstsein endlich ein Gesicht, denn auch wenn sie die Stimme nicht gleich erkannt hatte, so blieb ihr die Frau, der sie gehörte, gleichwohl unvergesslich.
Anja Spangenberg war Ermittlerin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle, und – wie der Name ihrer Abteilung sofort deutlich machte – für vermisste Personen zuständig. Cora schätzte sie altersmäßig auf Mitte bis Ende dreißig und größenmäßig auf ein Meter siebzig. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit hohen, markanten Wangenknochen und grünen Augen. Dazu eine schmale gerade Nase und einen um eine Winzigkeit zu breiten Mund mit schmalen Lippen. Ihr dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und zerzaust. Als sie Cora vor drei Monaten besucht hatte, hatte sie eine enge, graue Jeans, ein langärmliges, weißes Shirt und schwarze Stiefeletten mit neun Zentimeter hohen, schmalen Absätzen getragen. Dazu eine Blousonjacke aus schwarzer Seide, um die Tatsache zu verbergen, dass sie darunter in einem Schulterholster eine Waffe trug.
Doch nicht deshalb war die Kriminalhauptkommissarin Cora so deutlich in Erinnerung geblieben, obwohl sie sich nur ein einziges Mal begegnet waren, sondern in erster Linie aus dem Grund, weil Anja Spangenberg nach Coras Ehemann Markus suchte, der beinahe auf den Tag genau vor drei Monaten von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.
»Frau Eichholz? Sind Sie noch dran?«
Cora stieß die Luft aus, die sie erneut angehalten hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. »Natürlich bin ich noch dran!«, versetzte sie dann in einem aggressiveren Tonfall, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
Die Polizistin erwiderte nichts darauf und hüllte sich in Schweigen. Nicht einmal das Geräusch ihres Atmens war durch die Telefonverbindung zu hören. Zweifellos hatte sie von den Angehörigen der Vermissten, nach denen sie tagtäglich suchte, schon so manches zu hören bekommen und wusste daher auch damit umzugehen, ohne es den Leuten übelzunehmen, die oft unter enormem emotionalen Stress standen und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen konnten.
»Entschuldigen Sie«, sagte Cora nach einem Moment des Schweigens und Nachdenkens. »Ich habe nur …« Sie verstummte, weil sie selbst nicht wusste, was sie eigentlich sagen wollte.
»… nicht mehr mit einem Anruf von der Vermisstenstelle gerechnet?«, vollendete Anja Spangenberg den Satz an ihrer Stelle.
Cora nickte. »Ja. Das wird es wohl sein.« Sie seufzte tief, bevor sie schließlich die alles entscheidenden Fragen stellte. »Weswegen rufen Sie an? Gibt es etwa … Neuigkeiten über meinen Mann?«
»Genau deswegen rufe ich Sie an. Es gibt tatsächlich Neuigkeiten.«
»Und um welche Neuigkeiten handelt es sich?«, fragte Cora zaghaft.
Entweder hatte die Polizistin die Angst in ihrer Stimme gehört, oder sie wusste aus Erfahrung, wie Angehörige in solchen Fällen reagierten, denn sie sagte: »Keine Angst, Frau Eichholz! Es handelt sich um gute Neuigkeiten.«
»G…g…gute Neuigkeiten?« Coras Stimme stotterte und zitterte, während sie die Worte ungläubig wiederholte.
»Ja. Eigentlich sind es sogar sehr gute Neuigkeiten, denn …« Die Ermittlerin machte eine kleine Pause, als wollte sie die Spannung steigern, bevor sie schließlich weitersprach: »… wir haben Ihren Mann gefunden.«
Cora glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als hätte sich von einer Sekunde zur anderen eine Falltür unter ihr geöffnet. Das Gefühl, ins Leere zu stürzen, wurde geradezu übermächtig, noch dazu, weil ihre Knie gleichzeitig weich wurden, als bestünden sie aus Gummi. Sie musste sich an der Kommode festhalten, auf der das Ladegerät des schnurlosen Telefons stand, um nicht umzukippen und auf den Dielen aus gebürsteter Eiche zu landen, die den Boden des Hausflurs im Erdgeschoss bildeten.
»Gefunden?«, echote sie tonlos, um nach einer kurzen Pause, in der sie so vehement nach Luft schnappte, als wäre sie am Ersticken, hinzuzufügen: »Sie meinen, er ist … tot?«
Anja Spangenberg antwortete nicht sofort, als wäre sie von Coras Reaktion enttäuscht. »Ich sagte doch, dass es sehr gute Neuigkeiten sind«, erwiderte sie dann. »Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt!«
2
Cora hatte nicht länger das Gefühl, jemand zöge ihr den Boden unter den Füßen weg und sie würde in einen tiefen Abgrund stürzen. Stattdessen drehte sich plötzlich alles um sie herum im Kreis, als säße sie in einem Karussell. Außerdem klopfte das Herz in ihrer Brust so schnell und heftig, als mobilisierte es noch einmal seine letzten Kräfte, bevor es für immer seinen Dienst einstellte. Der Schweiß brach ihr aus und ihre Sicht verschwamm, während sie gegen heftigen Schwindel ankämpfen musste und hinter ihrer Stirn ein stechender Schmerz heranwuchs.
Das ist entweder ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall … oder beides zugleich, durchfuhr es sie panisch, während die letzten Worte der Polizistin noch immer wie das Läuten einer Totenglocke durch ihren Verstand hallten.
Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Er lebt! Er lebt! Er …
Hör sofort damit auf!, gellte ihre innere Stimme durch ihren Verstand und übertönte mühelos die Litanei. Doch sie meinte damit nicht nur die sinnlose Wiederholung dessen, was die Kriminalhauptkommissarin gesagt hatte, sondern auch ihre körperlichen Reaktionen darauf.
Und tatsächlich, ihr Körper gehorchte dem mentalen Befehl. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihre Sicht klärte sich, und das heftige Schwindelgefühl verschwand. Nur der Kopfschmerz widersetzte sich hartnäckig ihrer Anweisung und wurde sogar jeden Augenblick stärker.
Als ihr bewusst wurde, dass sie nicht an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben würde, zumindest nicht an Ort und Stelle, wich auch ihre Angst, und sie bemühte sich, mehrmals tief und gleichmäßig durchzuatmen und ihre Gedanken zu ordnen.
Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt!
Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass Anja Spangenberg diese Worte tatsächlich ausgesprochen hatte. Doch da sie sich gewissermaßen in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, musste es tatsächlich so gewesen sein. Dennoch konnte sie es nicht fassen.
Vielleicht ist das alles nur ein Irrtum.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen von dem Schock erholt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer im Flur stand. Die Fingernägel ihrer linken Hand hatten sich in die Oberfläche der Kommode gebohrt und kleine Halbmonde im Holz hinterlassen, so fest hatte sie sich dort festgekrallt, um nicht umzufallen. Und ihre andere Hand hielt noch immer das Telefon umklammert – so fest, dass das Plastikgehäuse bereits unter der Belastung knirschte – und presste es gegen ihr Ohr, das sich so heiß anfühlte, als hätte sie eine Serie heftiger Ohrfeigen verpasst bekommen. Sie nahm ihre Hand von der Kommode und lockerte den Griff ums Telefon, bevor sie bemerkte, dass eine Stimme aus dem handlichen Gerät kam und zu ihr sprach.
»Warten Sie«, sagte sie und unterbrach die Stimme mitten in einem Satz, den sie weder bewusst gehört noch verstanden hatte. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen. Ich … Tut mir leid, aber ich habe nicht zugehört.«
Die Polizistin am anderen Ende der Leitung seufzte, allerdings nicht aus Verärgerung, sondern aus Mitgefühl. »Kein Problem, Frau Eichholz. Ich verstehe ja, dass diese Nachricht ein Schock für Sie sein muss. Ein positiver Schock zwar, aber dennoch eine schockierende Nachricht, weil Sie sich vermutlich mittlerweile zwangsläufig auch mit dem Gedanken beschäftigt haben, dass Ihr Mann tot sein könnte. Immerhin war er drei Monate lang spurlos verschwunden, und wir alle mussten mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Ja. Genauso ist es.« Cora wusste nicht, was sie sonst darauf erwidern sollte, spürte allerdings aufgrund der erwartungsvollen Stille in der Leitung, dass die Beamtin eine bestimmte Reaktion von ihr erwartete. Sie durchstöberte ihr Gehirn, das plötzlich wie leer gefegt war, nach den passenden Worten, und wurde endlich fündig. »Wo … wo haben Sie … ihn eigentlich gefunden?«
»In Regensburg.«
»In Regensburg?« Wenn die Kommissarin gesagt hätte, Markus wäre auf dem Mond wieder aufgetaucht, hätte Cora vermutlich weniger verblüfft reagiert, denn Regensburg war gerade einmal 125 Kilometer von München und damit nur anderthalb Stunden entfernt.
»Ja. Er wurde in einem Discounter beim Diebstahl erwischt. Da er keine Angaben zu seiner Person machen wollte, wurde er der dortigen Polizei übergeben. Die Kollegen bemühten sich, herauszufinden, wer er ist, und stießen im Zuge ihrer Ermittlungen auf die Vermisstenanzeige.«
»Und wie geht es ihm?«
»Er ist gesund und unverletzt. Allerdings etwas verwahrlost, als hätte er die letzten drei Monate auf der Straße gelebt.«
»Aber …« Cora stockte und schluckte, bevor sie weitersprach: »Aber wieso ist er nicht nach Hause gekommen?«
»Er sagt, dass er sich an nichts erinnern könne, was vor dem Zeitpunkt liege, als er drei Monate zuvor mitten im Wald zu sich kam.«
»Er kann sich an nichts erinnern?«
»Anscheinend hat er seine komplette Erinnerung verloren und kann sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.«
»Und Sie sind sich dennoch hundertprozentig sicher, dass es sich um meinen Mann handelt?«, fragte Cora voller Argwohn. »Vielleicht ist es ja nur ein Betrüger, der sich für meinen Mann ausgibt.«
»Wieso sollte jemand so etwas tun?«, fragte Anja Spangenberg. »Im Übrigen hat er sich gar nicht als Ihr Mann ausgegeben. Als man ihm mitteilte, dass sein Name Markus Eichholz sein könnte, hat er nur mit der Schulter gezuckt und gesagt, das könne durchaus sein, er erinnere sich aber nicht daran.«
»Und wie kamen die Polizisten in Regensburg dann auf den Gedanken, dass es sich um meinen Mann handeln könnte?«
»Weil er, abgesehen von seinem verwahrlosten Äußeren, exakt der Beschreibung aus der Vermisstenmeldung entspricht. Sogar der größte Teil seiner Kleidung besteht aus Sachen, die Sie mir bei unserem ersten Gespräch beschrieben haben. Nachdem die Regensburger Kollegen dies festgestellt hatten, setzten sie sich umgehend mit mir in Verbindung. Natürlich war auch ich anfangs skeptisch, denn ich erlebe es oft genug, dass vermeintlich plötzlich wieder aufgetauchte Personen nur eine vage Ähnlichkeit mit den Vermissten besitzen und es sich bei ihnen in Wahrheit um jemand anderen handelt. Deshalb warte ich immer, bevor ich den Angehörigen die freudige Botschaft übermittle, bis ich mich selbst davon überzeugt habe und mir auch wirklich hundertprozentig sicher bin. Und in diesem Fall bin ich mir hundertprozentig sicher, denn die Kollegen schickten mir per E-Mail ein Foto des Mannes, das wir mit der Aufnahme verglichen, die ich von Ihnen erhalten habe. Und dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass die beiden Fotos ein und denselben Mann zeigen. Ich kann Ihnen die Aufnahme aus Regensburg per Mail schicken, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«
Cora musste nicht lange darüber nachdenken. Schließlich kannte niemand Markus besser als sie. Und falls es sich um einen Betrüger handelte, dann würde sie das sofort erkennen und der Polizistin mitteilen, noch ehe der Mann auch nur einen Fuß in ihr Haus setzen konnte.
Sie erklärte sich einverstanden und diktierte ihrer Gesprächspartnerin ihre E-Mail-Adresse, während sie mit dem Telefon am Ohr in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock ging. Sie war noch immer etwas wacklig auf den Beinen, als hätte sie einen anstrengenden Marathonlauf hinter sich, fühlte sich ansonsten aber, abgesehen von den Kopfschmerzen, wieder gut. Den ersten Schock, der sie mit der Wucht eines Faustschlags getroffen hatte, hatte sie mittlerweile überwunden. Sie hatte nun wieder das Gefühl, sicher im Sattel zu sitzen und die Zügel in der Hand zu halten.
In ihrem Arbeitszimmer setzte sie sich hinter den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und schaltete ihn an.
»Die E-Mail mit dem Foto als Anhang ist jetzt an Sie unterwegs«, meldete sich die Polizistin. »Es müsste jeden Moment bei Ihnen ankommen. Sehen Sie es sich genau und in aller Ruhe an und sagen Sie mir dann, ob es sich bei der abgebildeten Person Ihrer Ansicht nach um Ihren vermissten Mann handelt. Lassen Sie sich jedoch nicht von seinem verwahrlosten Äußeren irritieren.«
»Okay«, sagte Cora und starrte ungeduldig auf den schwarzen Bildschirm, weil der blöde Computer immer eine Ewigkeit brauchte, bis er hochgefahren war. Wurde allmählich Zeit, dass sie sich ein neueres und schnelleres Gerät zulegte. »Ich sehe es mir an und rufe Sie dann zurück.«
Sie achtete nicht auf das, was Anja Spangenberg noch sagte, sondern unterbrach die Verbindung kurzerhand und legte das Telefon neben dem Laptop auf den Schreibtisch. Sie wollte ungestört sein, wenn sie sich das Foto ansah und herauszufinden versuchte, ob es tatsächlich Markus war. Und auch wenn die Polizistin nicht körperlich, sondern nur als körperlose Stimme anwesend gewesen wäre, hätte sie das irritiert und abgelenkt.
Nachdem der Computer endlich hochgefahren war und die gewohnte Windows-7-Oberfläche zeigte, rief Cora ihr E-Mail-Programm auf, das nach Eingabe des korrekten Passwortes automatisch ihre Mails herunterlud. Sie sah, dass sie seit gestern mehrere Mails bekommen hatte; bei den meisten handelte es sich allerdings nur um unerwünschte Werbung. Dann entdeckte sie am Ende der Liste als Absendereintrag den Namen der Ermittlerin von der Vermisstenstelle.
Sie bewegte ihren Zeigefinger auf dem Touchpad und klicke die Mail an, die allerdings keinen Text, sondern nur eine Bilddatei als Anhang enthielt.
Coras Finger bewegte den Mauszeiger auf den Namen der angehängten Datei, verharrte dann jedoch regungslos.
Sollte sie sich das Bild tatsächlich ansehen? Vermutlich handelte es sich ohnehin nur um jemanden, der ihrem Ehemann halbwegs ähnlich sah und zufällig ähnliche Kleidung trug. Wieso ersparte sie es sich dann nicht gleich, einen Blick auf die Aufnahme zu werfen, rief die Polizistin an und teilte ihr mit, dass es sich nicht um ihren Mann, sondern um einen Betrüger handelte. Gleichzeitig verspürte sie jedoch auch den Zwang, sich vergewissern zu wollen, dass es tatsächlich nicht Markus war.
Also atmete sie noch einmal tief ein, bevor sie sich einen Ruck gab und die Datei anklickte.
Zuerst geschah ein paar Sekunden lang gar nichts, und Cora dachte schon, die Datei wäre fehlerhaft und könnte nicht geöffnet werden. Dann öffnete sich jedoch ein Bildbetrachtungsprogramm und begann damit, die Bilddatei zu laden und auf dem Bildschirm darzustellen.
Cora hielt unwillkürlich den Atem an, während sich die Aufnahme rasch Reihe für Reihe vor ihren Augen aufbaute, als würde sich ein Gespenst nach Beginn der Geisterstunde vor den Augen eines schreckhaften Schlossbesuchers materialisieren.
3
»Großer Gott, er ist es tatsächlich!«, flüsterte Cora, als hätte sie Angst, es laut und deutlich auszusprechen, noch ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, das Foto genauer in Augenschein zu nehmen. Dennoch war sie sich absolut sicher, schließlich war sie mit diesem Mann seit über dreiundzwanzig Jahren – in guten wie in schlechten Zeiten – verheiratet.
Die Aufnahme zeigte einen Mann, der vor einer weißen Wand stand und mit ausdruckslosem Blick in die Kamera starrte. Er sah mindestens um fünf Jahre älter aus als die 51 Jahre, die er tatsächlich war, und um mehrere Zentimeter kleiner als die ein Meter achtzig, die er maß, als wäre er in den letzten drei Monaten nicht nur über alle Maßen gealtert, sondern auch geschrumpft. Außerdem schien er abgenommen zu haben und ein halbes Dutzend Kilo weniger zu wiegen als die 85 Kilo Körpergewicht, die er in den letzten Jahren permanent auf die Waage gebracht hatte. Aber das alles war im Grunde auch kein Wunder, wenn er die letzten neunzig Tage tatsächlich auf der Straße verbracht und von Almosen, Diebstählen und der Hand in den Mund gelebt hatte.
Denn trotz all dieser offensichtlichen Veränderungen war der Rest seiner äußeren Erscheinung unverkennbar, auch wenn der Schädel, den er sich schon seit vielen Jahren täglich rasierte, jetzt von einem Kranz kurzer rotblonder Haare umgeben war. Der kahl geschorene Schädel war immer sein Markenzeichen gewesen, neben dem breiten, jetzt unrasierten Kinn mit der ausgeprägten Kinnspalte und den grünen Augen, die einen in einem Moment so warm und liebevoll, im anderen aber auch so dominant und kalt ansehen konnten.
Er trug sogar noch immer dieselbe Kleidung, die er bei seinem Verschwinden angehabt haben musste: eine hellblaue Jeans, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover und an den Füßen braune Boots-Schuhe von Timberland.
Cora fühlte sich unbehaglich unter seinem Blick, obwohl sie sich nur einem Foto gegenübersah und nicht dem wirklichen Menschen, und rutschte unruhig auf der Sitzfläche ihres Drehstuhls hin und her. Sie fragte sich, was diese Augen in den letzten drei Monaten gesehen hatten. Und ob das Gehirn ihres Mannes tatsächlich alles vergessen hatte, was vor seinem Verschwinden passiert war. Aber was hätte er davon, allen einen Gedächtnisverlust vorzuspielen? Und wieso hätte jemand wie er drei Monate lang auf der Straße leben sollen, wenn er nicht dazu gezwungen gewesen war.
Nein, Cora war überzeugt, dass der Verlust seiner Erinnerungen echt sein musste. Und zum ersten Mal, seit die Polizistin ihr mitgeteilt hatte, dass Markus noch lebte, erlaubte sie es sich, zu lächeln.
Vielleicht, so dachte sie, wird doch noch alles gut.
Der Gedanke an Anja Spangenberg erinnerte sie daran, dass sie der Ermittlerin versprochen hatte, sie zurückzurufen und ihr mitzuteilen, ob es sich bei dem in Regensburg aufgetauchten Mann tatsächlich um ihren Ehemann handelte. Cora warf einen Blick auf die Wanduhr und sah, dass sie geschlagene zwanzig Minuten vor dem Laptop gehockt und das Bild angestarrt haben musste. Es war ihr gar nicht so lang vorgekommen.
Sie nahm das Telefon und ließ es die Nummer des zuletzt eingegangenen Anrufs wählen.
»Spangenberg.«
»Er ist es!« Es waren nur drei kurze und einfache Worte, dennoch spürte Cora ihre enorme Tragweite und Bedeutung, als wögen sie Tonnen und würden wie Mühlsteine an ihr hängen und sie herunterziehen.
»Sind Sie sich auch wirklich hundertprozentig sicher?«, fragte die Polizistin nach, obwohl sie selbst bereits davon gesprochen hatte, dass sie davon überzeugt war, dass es sich tatsächlich um Coras Mann handelte.
»Ja, das bin ich. Es ist Markus, ohne jeden Zweifel.«
»Wie schön.« Cora konnte die Erleichterung und Freude der Ermittlerin aus diesen beiden Worten heraushören. »Es freut mich für Sie und natürlich auch für Ihren Mann, dass er nach all der Zeit doch noch unversehrt aufgetaucht ist.«
»Nun, nicht völlig unversehrt«, schränkte Cora ein. »Immerhin hat er das Gedächtnis verloren und erinnert sich vermutlich weder an sein früheres Leben noch an mich.«
»Das stimmt. Aber körperlich ist er zumindest unversehrt. Und Erinnerungen können unter Umständen irgendwann – mal früher, mal später – wieder zurückkommen.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Es dürfte vor allem davon abhängen, ob die Amnesie Ihres Mannes körperliche Ursachen hat – zum Beispiel aufgrund einer Schädigung des Gehirns – oder auf psychologische Gründe zurückzuführen ist – beispielsweise ein traumatisches Erlebnis. Sie sollten daher unbedingt einen Facharzt mit ihm aufsuchen. Aber auf jeden Fall dürfen Sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass er irgendwann wieder Zugang zu seinen Erinnerungen bekommt und wieder ganz der Alte wird.«
Cora erschauderte bei diesem Gedanken und schloss die Augen. Nicht auszudenken, wenn Anja Spangenberg recht behalten sollte. Sie war froh, dass die Beamtin sie in diesem Moment nicht sehen konnte. Dann seufzte sie, bevor sie sagte: »Sie haben recht, Frau Spangenberg. Ich darf die Hoffnung nicht aufgeben. Und wie geht es jetzt weiter?«
»Was meinen Sie damit?«
»Damit meine ich vor allem eins: Wann kommt mein Mann wieder nach Hause?«
»Ach so. Nun, im Augenblick ist er noch in Regensburg. Ich wollte erst mit Ihnen Rücksprache halten und auf Nummer sicher gehen, bevor ich seine Überstellung nach München veranlasse. Aber da es nun ja geklärt ist, dass es sich um Ihren Mann handelt, steht dem natürlich nichts mehr im Wege. Ich werde sofort bei den Kollegen anrufen und den Transport organisieren. Freuen Sie sich also, Frau Eichholz, denn spätestens heute Abend können Sie Ihren Mann wieder in die Arme schließen.«
4
Doch Cora war nicht danach, sich zu freuen.
Im Gegenteil! Sobald sie das Gespräch mit der Polizistin nach ein paar abschließenden belanglosen Worten und den formelhaften Abschiedsgrüßen beendet hatte, wurde ihr furchtbar schlecht.
Sie warf das Telefon achtlos auf die Schreibtischplatte und rannte ins Bad, das zum Glück direkt neben ihrem Arbeitszimmer lag, denn eine weitere Strecke hätte sie vermutlich nicht geschafft, ohne eine Sauerei zu verursachen. Sie konnte gerade noch den Klodeckel nach oben reißen, bevor sie sich laut würgend übergeben musste.
Da in ihrem Kopf ein ebenso heilloses Durcheinander herrschte wie in ihrem aufgewühlten Magen, wusste sie nicht mehr, was sie heute gefrühstückt hatte. Doch egal, was es auch gewesen war, sie gab alles in einem einzigen heißen und übel riechenden Schwall von sich, den sie sich lieber nicht genauer ansah, sondern rasch beseitigte, indem sie auf den Spülknopf drückte.
Anschließend ließ sie sich erschöpft neben der Toilettenschüssel zu Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Badewanne. Ihre Übelkeit war verschwunden. Und auch das Chaos in ihrem Verstand lichtete sich allmählich, sodass sie wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Cora bewegte behutsam den Kopf hin und her, hinter dessen Stirn noch immer der Schmerz wütete, als die Gewissheit, dass Markus in wenigen Stunden nach Hause zurückkehren würde, allmählich in ihr Bewusstsein einsickerte und dort Wurzeln schlug. Obwohl es eine Tatsache war, konnte sie noch immer nicht glauben, dass er tatsächlich wieder aufgetaucht war, nachdem er vor drei Monaten von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden war, als hätte sich der Erdboden aufgetan und ihn verschluckt.
Und in der Tat sollte das, was gerade geschah, eigentlich absolut unmöglich sein, da ihr Mann tatsächlich vom Erdboden verschlungen worden war. Er sollte nämlich mausetot sein und in einem Grab mitten im Wald verrotten. Wie konnte er also unversehens drei Monate nach seinem Tod wieder auftauchen und bis auf den Komplettausfall seines Gedächtnisses wohlauf sein?