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Es war sechs Minuten nach der verabredeten Zeit, als Anja das italienische Lokal in der Landsberger Straße betrat. Sie mochte es im Grunde nicht, wenn jemand unpünktlich war. Vermutlich, weil sie sich selbst stets bemühte, zur vereinbarten Zeit da zu sein, damit niemand auf sie warten musste. Dass sie sich dennoch ausnahmsweise verspätet hatte, daran waren natürlich nur die Suicide-Challenge und Nemesis schuld.

Ihre Verabredung wartete bereits auf sie und hob bei ihrem Eintreten die Hand, um Anja auf sich aufmerksam zu machen.

Das Lokal war gut besucht; nahezu alle Tische waren besetzt.

Anja ging zu einem Tisch für zwei Personen im hinteren Teil des Raums, an dem bereits ein Mann saß, und begrüßte ihn.

»Hallo, Anja«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand mehrere Male auf seine Armbanduhr. »Du hast dich verspätet.«

»Tut mir leid.« Anja zog ihre Lederjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. »Eigentlich war ich sogar schon früher da, musste im Wagen aber noch auf eine wichtige E-Mail warten.«

»Du verzeihst mir hoffentlich, dass ich nicht aufstehe«, sagte Hans Baumgartner und grinste frech.

»Sehr witzig.« Anja bedachte den Mann im Rollstuhl mit einem gespielt strengen Blick und nahm Platz.

Baumgartner war früher ebenfalls Kriminalbeamter bei der Vermisstenstelle und darüber hinaus ein enger Kollege und guter Freund ihres verstorbenen Vaters gewesen. Doch kurz nach der Beerdigung ihres Vaters hatte er einen schweren Verkehrsunfall gehabt. Er war seitdem an den Rollstuhl gefesselt und aus dem Dienst ausgeschieden. Mittlerweile war er 61 Jahre alt, geschieden und hatte einen erwachsenen Sohn, zu dem er kaum noch Kontakt hatte.

»Was für eine E-Mail?«, fragte er. »Irgendetwas, das ich wissen muss.«

Anja schüttelte den Kopf. »Es hat nichts mit Onkel Christian zu tun, wenn du das meinst.«

»Sondern …?«

Sie seufzte. »Ein neuer Fall.«

»Interessant?«

»Ja. Aber auch rätselhaft.«

»Ausgezeichnet. Ich liebe interessante und rätselhafte Fälle. Willst du mir davon erzählen?«

Anja nickte. Baumgartner fragte sie bei jedem ihrer regelmäßigen Treffen nach ihren laufenden Fällen. Trotz seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst vor beinahe einem Vierteljahrhundert interessierte er sich noch immer für die Arbeit in seiner ehemaligen Dienststelle. Doch noch ehe sie dazu kam, ihm etwas zu erzählen, erschien wie aus dem Nichts der Kellner an ihrem Tisch und fragte sie, was sie zu trinken haben wollten.

Anja bestellte eine Apfelsaftschorle. Bis vor sechzehn Monaten hatte sie ein ernsthaftes Alkoholproblem gehabt. Aus purer Verzweiflung darüber, dass ihr Mann sie ständig mit immer neuen Frauen betrog, hatte sie, die sich auch noch die Schuld für seine Untreue gab, zur Flasche gegriffen und versucht, ihren Frust im Alkohol zu ertränken. Das war ihr natürlich nicht gelungen. Doch dann hatte ihre Cousine Tanja ihr Beweisfotos für die Untreue ihres Ehemannes präsentiert, wodurch das erträgliche Maß für Anja überschritten worden war. Sie hatte daraufhin ihren Mann verlassen und von einem Tag auf den anderen mit dem Trinken aufgehört. Doch davon einmal abgesehen wollte sie auch wegen der Suicide-Challenge heute Nacht einen klaren Kopf behalten.

Baumgartner hat in dieser Hinsicht weniger Skrupel und bestellte einen halben Liter Rotwein. »Ich bin nicht selbst gefahren, sondern mit dem Taxi gekommen«, erklärte er auf Anjas fragenden Blick, nachdem der Kellner gegangen war, um ihre Getränke zu holen. Sein Auto, ein weißer Škoda, war speziell für Rollstuhlfahrer umgebaut worden. Er enthielt beispielsweise eine Einstieghilfe, von Hand bedienbare Pedale und einen Verlader, der seinen Rollstuhl automatisch hinter dem Fahrersitz verstaute. »Was ist jetzt mit diesem neuen Fall, an dem du arbeitest?«

Anja erzählte ihm alles, angefangen beim Verschwinden von Christian Stumpf bis hin zur zuletzt gestellten Aufgabe der Suicide-Challenge. Nur als der Kellner ihre Getränke brachte und sie ihr Essen bestellten, unterbrach sie ihren Bericht. Anja nahm Spaghetti alla Diva mit Krabben und Knoblauch in Aurorasauce und dazu einen gemischten Salat. Baumgartner wählte ironischerweise und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht eine Pizza Mafiosa mit Salami und Peperoni.

Baumgartner hörte ihr aufmerksam zu und nickte ab und zu. Er hatte sein schulterlanges Haar, das noch voll, aber schneeweiß war, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Vollbart war ebenfalls weiß. Er hatte ein schmales, längliches Gesicht, das stets etwas bleich, hager und eingefallen wirkte, und sah aus, als bestünde er nur aus Haut und Knochen. Dabei musste er über kräftige Armmuskeln verfügen, denn mit dem Rollstuhl, in dem er saß, konnte er erstaunliche Kunststücke vollführen, die Anja nicht für möglich gehalten hätte.

»In der Tat ein ungewöhnlicher Fall«, kommentierte er, nachdem Anja ihren Vortrag beendet hatte. »Was hast du jetzt vor?«

»Was bleibt mir anderes übrig, als die Challenge weiterzumachen und die Aufgaben zu erfüllen, die Nemesis mir stellt? Natürlich nur, solange ich dabei weder mir selbst noch jemand anderem Schaden zufügen muss. In dem Fall müsste ich ernsthafte Überlegungen anstellen, wie ich meinen Todesengel überlisten kann.« Bei dem Gedanken an Nemesis warf sie einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr; doch es war noch genügend Zeit, bis sie ihren Bericht abschicken musste.

»Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte Baumgartner mit besorgtem Blick.

Anja zuckte mit den Schultern. »Was soll mir schon passieren? Ich bin schließlich weder akut suizidgefährdet noch depressiv.«

»Trotzdem. Was du mir über deine Gefühle erzählt hast, als du auf dem Hochhaus warst, klang für mich nicht so, als hätten diese Aufgaben überhaupt keinen Einfluss auf dich. Und dann noch dieses alte Lied der Selbstmörder, das dir ständig im Kopf herumgeistert. Unter Umständen solltest du lieber die Finger von dieser Challenge und dem Selbstmörder-Club lassen.«

»Mach dir keine Sorgen, Hans«, sagte Anja, obwohl sie deutlich weniger zuversichtlich war, als sie vorzugeben versuchte. Sie hatte ihm nichts davon erzählt, dass sie in der Vergangenheit gelegentlich mit dem Sensenmann in Gestalt einer Überdosis Schlaftabletten geflirtet hatte, weil sie den Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes vernommen hatte. Dennoch schien der ehemalige Kriminalist instinktiv zu spüren, dass Anja für derartige Dinge empfänglicher und anfälliger war, als sie zugeben wollte. »Ich hab die Sache völlig im Griff.«

»Sicher?«

Sie nickte mit entschlossener Miene, um seine Sorgen zu zerstreuen.

Er schien allerdings nicht völlig überzeugt zu sein, denn er sah sie weiterhin skeptisch an. »Diese Nemesis wird dir womöglich ohnehin nichts sagen, was dich auf ihre Spur führen könnte«, wandte er ein. »Deshalb ist es vermutlich reine Zeitverschwendung, sich auf ihr Spiel einzulassen. Das ist nämlich kein harmloser Zeitvertreib, sondern todernst. Du hast es ja selbst gespürt. Und wie du sagtest, bist du nicht selbstmordgefährdet.«

»Ich weiß.« Anja winkte ab. Sie wollte sich nicht rechtfertigen müssen. Baumgartner gebärdete sich in letzter Zeit immer öfter, als wäre er ihr Ersatzvater, und das ging ihr allmählich gewaltig auf die Nerven. Andererseits meinte er es nur gut. Deshalb wollte sie ihn auch nicht vor den Kopf stoßen, was sie bei jedem anderen in einer derartigen Situation vermutlich längst getan hätte, da sie jede Art von Bevormundung hasste. »Trotzdem muss ich es versuchen. Gegebenenfalls schaffe ich es, sie davon zu überzeugen, dass ich niemandem etwas verrate und fest entschlossen bin, mich zu töten. Dann vertraut sie mir womöglich etwas an, das mir bei meinen Ermittlungen weiterhilft. Es ist natürlich nur ein Strohhalm, an den ich mich klammere, das ist mir klar. Aber mehr habe ich momentan nicht in der Hand.«

»Befrag die Ex-Freundin des Studenten«, schlug Baumgartner vor. »Unter Umständen hat sie unmittelbar vor seinem Verschwinden noch mit ihm gesprochen. Und was diesen Mitbewohner angeht, der kommt mir auch nicht ganz koscher vor. Du solltest ihm noch einmal auf den Zahn fühlen und dabei die Samthandschuhe ausziehen.«

Anja nickte. »All das habe ich mir ohnehin für morgen vorgenommen. Aber bis dahin werde ich mich weiterhin bemühen, alle Aufgaben zu erfüllen, die Nemesis mir stellt. Kann gut sein, dass ich damit nur meine Zeit verschwende, aber schlimmer als eine schlaflose Nacht kann es schließlich nicht werden.«

»Warum teilst du ihr nicht einfach mit, dass du keine Lust mehr hast und aussteigst«, schlug Baumgartner vor. »Immerhin hat sie dir geschrieben, sie würde die Dinge dann selbst in die Hand nehmen. Das war meiner Meinung nach eine eindeutige Drohung. Und wenn sie dich dann wirklich umbringen will, muss sie sich dazu in deine Nähe wagen. Warum lässt du sie also nicht einfach zu dir kommen, anstatt dich auf die Suche nach einem Phantom zu machen?«

»Die Idee hatte ich auch schon. Nur funktioniert sie leider nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Nemesis einen ausgedachten Namen und eine falsche Adresse genannt habe. Wenn ich aussteige und sie ihre Drohung wahrmachen will, wird sie meine Angaben genauer überprüfen. Und dabei wird sie feststellen, dass die Person, mit der sie in den letzten knapp sechs Stunden Kontakt hatte, überhaupt nicht existiert.«

»Teile ihr doch einfach mit, dass du dich nicht getraut hättest, bei der Anmeldung deinen echten Namen zu verwenden. Schließlich wusstest du nicht, wer hinter diesem merkwürdigen Club steckt.«

»Und warum sollte ich ihr dann meine echten Daten mitteilen, wenn ich die Challenge ohnehin abbrechen will und nachdem sie mir gedroht hat.« Anja schüttelte den Kopf. »In dem Fall wird sie erst recht misstrauisch werden, die Zugbrücke hochziehen und den Kontakt komplett abbrechen. Dann habe ich gar nichts erreicht und in der Tat nur meine Zeit verschwendet.«

Baumgartner seufzte. »Ich sehe schon, dass ich hier auf verlorenem Posten kämpfe. Versprich mir wenigstens, dass du vorsichtig bist.«

»Natürlich«, sagte Anja und nickte nachdrücklich. »Das bin ich doch immer.«

Er sah sie mit skeptischem Blick und gerunzelter Stirn an. »Für die Scherze bin hier immer noch ich zuständig. Aber Spaß beiseite. Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst. Egal, zu welcher Uhrzeit. Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst und ich immer für dich da bin. Das bin ich Frank schuldig. Er würde es mir nie verzeihen und mich vermutlich als Geist heimsuchen, wenn ich es zulasse, dass seinem kleinen Sonnenschein etwas zustößt.«

»Ich weiß. Und ich bin dir für dein Angebot dankbar. Aber du hast schon so viel für mich getan. Allein die Überwachung meines …«

Er vollführte eine entschiedene Handbewegung, als wollte er ihre Argumente vom Tisch wischen, woraufhin Anja verstummte. »Das ist doch kein Thema. Außerdem hab ich sonst nichts zu tun. Und solange ich dir helfen kann, fühle ich mich nicht mehr ganz so nutzlos, sondern endlich wieder lebendig. Bis du vor ein paar Monaten an meiner Tür geklingelt hast, hatte ich mich schon viel zu lange in der Wohnung vergraben und Trübsal geblasen. Also muss ich dir im Grunde dankbar sein, dass du mich da herausgeholt hast.«

Anja wollte widersprechen, doch Baumgartner ließ es nicht zu. »Da kommt unser Essen. Lass uns über etwas anderes sprechen.«

Während sie aßen, redeten sie über eine Reihe wesentlich unverfänglicherer Themen. Dann erkundigte sich Baumgartner nach ihrer Mutter und ihrer Cousine Tanja.

Anja hatte erst vorgestern mit ihrer Mutter telefoniert. Dagmar Fröhlich, wie sie seit ihrer zweiten Eheschließung hieß, war siebenundfünfzig Jahre alt und wohnte mit ihrem Mann Josef und ihrem Stiefsohn Sebastian in einem Haus im Stadtteil Sendling-Westpark. Josef Fröhlich besaß eine Druckerei, in der seine Frau noch immer als Sekretärin arbeitete.

Nach dem Tod des Vaters und Ehemannes hatten Anja und ihre Mutter unzählige Auseinandersetzungen gehabt. Das hatte allerdings, wie Anja unumwunden zugegeben hätte, wäre sie danach gefragt worden, nicht nur an ihrer Mutter gelegen. Vor allem in den letzten drei Jahren vor Anjas achtzehnten Geburtstag war es besonders schlimm gewesen. Zwischen den beiden Frauen hatte damals ein regelrechter Krieg mit bis aufs Äußerste geführten heftigen Wortgefechten geherrscht. Dabei hatte es auf beiden Seiten zahlreiche Verletzungen gegeben. Nahezu jedes Thema war damals kontrovers beurteilt und diskutiert worden. Und dass Anja ihren Stiefbruder von Anfang an absolut nicht ausstehen konnte und mit ihren Gefühle nicht hinter dem Berg hielt, war nur einer der Tropfen gewesen, die das Fass oft zum Überlaufen gebracht hatten. Erst seit Anjas langersehntem Auszug, sobald sie volljährig geworden war, hatte sich ihr Verhältnis allmählich gebessert. Sie waren sich immer noch in vielen Dingen uneins. Doch beide Seiten bemühten sich, den mühsam errungenen, oftmals fragil wirkenden Waffenstillstand nicht zu brechen. Wenn sie miteinander sprachen – meistens am Telefon, denn Dagmar bestand darauf, dass ihre Tochter sie regelmäßig anrief, und weitaus seltener von Angesicht zu Angesicht – war sich jede der beiden Frauen des brüchigen Friedens bewusst. Aus diesem Grund bewegte sich jede von ihnen so vorsichtig an der unsichtbaren Demarkationslinie entlang, als liefen sie auf Eiern. Eins der Themen, die sie unterschiedlich beurteilten und daher meistens vermieden, war Anjas Beruf. Obwohl es durchaus Aspekte gab, die sie daran nicht mochte – dazu gehörte vor allem die gelegentliche Konfrontation mit den Leichen vermisster Personen –, liebte Anja ihre Arbeit. Sie konnte ihr viele positive Aspekte abgewinnen, denn oftmals gelang es ihr, Menschen aufzuspüren, die in einer Notlage waren. Dagmar hingegen sah im Beruf des Polizisten nur das Schlechte, was womöglich vor allem daran lag, dass sie früher mit einem verheiratet gewesen war.

Als Anja vor zwei Tagen mit ihrer Mutter telefoniert hatte, hatten sie auch über Tanja, die Tochter ihrer Tante Mia, gesprochen. Die beiden Cousinen waren zusammen aufgewachsen und standen sich mangels Geschwistern so nahe, als wären sie leibliche Schwestern. Vor einigen Monaten war bei Tanja Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie war daraufhin ins Visier des Apokalypse-Killers geraten, der es auf todkranke Frauen abgesehen hatte, und von ihm entführt worden. Am Ende war es Anja jedoch gelungen, ihre Cousine zu retten. Tanja hatte inzwischen eine Chemotherapie hinter sich, und es sah ganz danach aus, als wäre der Krebs besiegt worden. Ob es tatsächlich so war, würde erst die Zukunft zeigen; doch alle waren optimistisch und freuten sich riesig darüber.

Während sie Baumgartner davon erzählte, machte Anja sich gedanklich eine Notiz, Tanja anzurufen, sobald die Selbstmord-Challenge abgeschlossen war. Sie wollte sich mit ihrer Cousine wieder einmal zum Essen verabreden, was längst überfällig war.

Beim Gedanken an die Challenge sah sie auf die Uhr und stellte fest, dass es kurz vor acht und somit höchste Zeit war, Nemesis einen erfundenen Bericht über die Songs zu schicken.

Baumgartner runzelte missbilligend die Stirn, als sie ihr Smartphone herausholte.

»Tut mir leid, aber ich muss Nemesis eine Mail schreiben«, erklärte Anja.

Er nickte. »Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.« Er schien ihre Entscheidung, die Sache nicht abzubrechen, sondern auch die nächsten Aufgaben zu erledigen, inzwischen akzeptiert zu haben, denn er unternahm keinen weiteren Versuch, es ihr auszureden.

Anja schrieb eine Nachricht, die ihrem Bericht nach dem Ausflug auf das Hochhausdach ähnelte. Darin schilderte sie ihre angeblichen Gefühle beim Anhören der fünf Lieder, die sich alle mit Tod und teilweise sogar in aller Deutlichkeit mit Selbstmord befassten. Insgeheim war sie froh, dass sie sich die Songs nicht angehört hatte; das hätte sie nur noch tiefer in diesen selbstmörderischen Strudel hineingezogen, den Nemesis mit ihren Aufgaben erzeugen wollte. Dennoch kam ihr auch jetzt wieder unvermittelt und ungewollt die Melodie von »Gloomy Sunday« in den Sinn.

»Erledigt«, sagte Anja und sah erneut auf die Uhr. »Gerade noch rechtzeitig.«

»Würde mich interessieren, was passiert, wenn du nicht fristgerecht an deinen Todesengel schreibst«, meinte Baumgartner.

»Mich auch. Aller Voraussicht nach würden die Drohungen massiver werden. Schließlich glaubt Nemesis, sie hätte es mit einem 14-jährigen Mädchen zu tun, das sich gerade in einer akut depressiven Phase befindet und leicht zu beeinflussen und einzuschüchtern ist.«

Sie blickte wieder auf ihr Telefon und sah, dass ihr persönlicher Todesengel bereits geantwortet hatte.

Gut gemacht, Laura. Wenn ich mir diese Lieder anhöre, was ich oft tue, empfinde ich ähnlich wie du. Du bist jetzt in der richtigen Grundstimmung, um die nächsten Aufgaben anzugehen und erfolgreich zu absolvieren.

Deine 7. Aufgabe lautet:

Geh auf eine Brücke, klettere über die Brüstung und sieh nach unten. Stell dir vor, du würdest springen. Überwinde dabei deine Angst vor dem Fallen und dem Tod. Nach zehn Minuten kletterst du wieder zurück. Mach ein Foto und schick es mir.

Anja zeigte Baumgartner die Nachricht, sodass er sie lesen konnte.

Er hob die Augenbrauen. »Eine Brücke diesmal«, meinte er anschließend. »Ich hätte ja eine andere Reihenfolge gewählt. Zuerst die Brücke und dann erst das Hochhaus, sodass es eine Steigerung in der Höhe gibt.«

»Hast du eine Idee, welche Brücke ich nehmen soll?«

Er zuckte mit den Schultern. »In München gibt es über tausend Brücken. Da sind zum einen natürlich die Brücken über die Isar.« Er zählte ein paar davon auf: »Wittelsbacherbrücke, Reichenbachbrücke, Corneliusbrücke, Ludwigsbrücke, Maximiliansbrücke, Luitpoldbrücke, Max-Josef-Brücke. Außerdem die Brücken über die breiten Gleisanlagen zwischen Hauptbahnhof und Pasing. Im Grunde ist es egal, welche du nimmst. Du musst ja nicht über die Brüstung steigen. Warum entscheidest du dich nicht einfach für diejenige, die am nächsten liegt? Dann sparst du dir Zeit.«

Anja überlegte. »Das müsste dann die Donnersbergerbrücke über die Eisenbahntrasse sein.«

»Ja. Da kannst du schnell hinfahren, sobald wir hier fertig sind, dein Foto machen und bist danach ruckzuck zu Hause.«

»Du hast recht«, sagte Anja. »Genauso mache ich es auch. Vorher will ich Nemesis aber noch ein paar Fragen stellen. Nicht ausgeschlossen, dass sie inzwischen etwas gesprächiger ist.« Sie schrieb eine Nachricht an den Todesengel.

Du hast geschrieben, dass du ähnlich wie ich empfindest, wenn du dir diese Lieder anhörst. Heißt das, dass du ebenfalls vorhast, deinem Leben ein Ende zu bereiten?

Anja schickte die Mail ab und zeigte Baumgartner, was sie geschrieben hatte. Sie wollte ihm die Texte nicht laut vorlesen. Ein älteres Paar am Nebentisch hatte schon ein paarmal irritiert zu ihnen herübergeschaut, als sie Baumgartner von ihrem aktuellen Fall erzählt hatte.

Als sie erneut auf das Display sah, war Nemesis’ Antwort da.

Ja, in nächster Zukunft werde ich denselben Weg beschreiten, auf dem du im Moment unterwegs bist. Ich bin fest entschlossen, denn ich kann dieses erbärmliche Leben kaum noch ertragen. Aber leider muss ich damit noch etwas warten. Ich werde nämlich hier gebraucht, um Menschen wie dir dabei zu helfen, den rechten Weg zu finden. Aber sobald du alle 24 Aufgaben der Challenge erfolgreich hinter dich gebracht hast, fühle ich mich bereit, selbst die »Suicide-Challenge« in Angriff zu nehmen und dir nachzukommen.

»Was für ein Blödsinn«, sagte Baumgartner, nachdem sie ihm den Text gezeigt hatte. »Wenn das Miststück tatsächlich so fest entschlossen wäre, wie sie schreibt, hätte sie es längst getan. Ich glaube ihr kein Wort. Und das solltest du besser auch nicht tun.«

»Habe ich auch nicht vor. Ich rechne sogar damit, dass Nemesis ein verlogenes Miststück ist. Aber das Ziel dieser Sache besteht nun einmal darin, ihr auf den Zahn zu fühlen. Und ihr dabei nach Möglichkeit auch die eine oder andere Information zu entlocken, die mich auf ihre und die Spur der Hintermänner des Clubs der toten Gesichter bringt.«

Sie schrieb eine weitere Nachricht.

Warum willst du dich umbringen? Ich will es tun, weil mein Freund mich verlassen hat und jetzt mit einem anderen Mädchen zusammen ist. Ohne ihn kann und will ich nicht leben!

Nemesis schrieb postwendend zurück.

Bei mir ist es genau andersherum. Ich habe meinen Freund verlassen. Aber nur, weil er so ein Arschloch ist und mich betrogen hat. Ohne ihn ist mein Leben ebenfalls nicht mehr lebenswert. Deshalb kann ich auch so gut nachempfinden, was du im Augenblick durchmachst und fühlst.

»Wer’s glaubt, wird selig«, kommentierte Baumgartner die Nachricht.

»Wer weiß?« Anja zuckte mit den Schultern. »Auf alle Fälle schadet es nicht, wenn ich ihr ein bisschen Honig ums Maul schmiere. Möglicherweise wird sie dann noch gesprächiger.«

Sie schrieb:

Das mit deinem Ex-Freund tut mir echt leid. Meiner hat mich ebenfalls betrogen, und dann auch noch mit meiner besten Freundin. Jetzt hab ich nicht nur meinen Freund verloren, sondern auch meine beste Freundin. Das Leben ist echt voll für ’n Arsch! Wenn ich könnte, würde ich am liebsten die ganze Welt die Toilette runterspülen. Aber da das nicht geht, gibt es nur einen Ausweg.

Auf jeden Fall bin ich so was von froh, dass ausgerechnet du mein Todesengel bist. Wo wir doch dieselbe bittere Erfahrung machen mussten und damit so etwas wie Seelenschwestern sind.

Für mich ist es jedoch immer noch etwas merkwürdig, dass ich dich nur unter dem Namen »Nemesis« kenne. Ich würde dich so gern mit deinem richtigen Vornamen ansprechen. Ich werde ihn auch niemandem verraten, das verspreche ich dir bei allem, was mir lieb und teuer ist.

»Netter Versuch«, meinte Baumgartner. »Sie wird dir ihren echten Namen trotzdem nicht verraten. Und falls sie doch einen Namen nennt, hat sie sich den vermutlich soeben ausgedacht.«

»Du bist immer ein solcher Pessimist, Hans.«

»Ich bin kein Pessimist, sondern Realist.«

Wie die nächste Nachricht des Todesengels zeigte, hatte er recht.

Tut mir echt leid, Laura, aber ich kann dir meinen Namen nicht verraten. Auch wenn ich es gern tun würde. Aber es verstößt eindeutig gegen die Regeln und würde ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Sie würden mich aus dem Club werfen, und dann könnte ich die »Suicide-Challenge« nicht mitmachen. Das darf ich nicht riskieren.

Mir geht es aber genau wie dir. Auch ich habe das Gefühl, dass wir Seelenschwestern sind. Und ich bin ebenfalls froh, dass ich dein Todesengel sein und dich auf deinem letzten, aber bedeutendsten Weg begleiten darf.

Vergiss die 7. Aufgabe und das Beweisfoto nicht.

»Sagte ich doch«, meinte Baumgartner und bemühte sich, dabei nicht allzu selbstzufrieden zu klingen, was ihm nur unvollständig gelang.

Anja legte ihr Smartphone auf den Tisch. »Ich habe ehrlich gesagt auch nicht damit gerechnet. Aber einen Versuch war’s wert.«

Sie hatten ihre Mahlzeit beendet. Prompt tauchte der Kellner auf und räumte die Teller ab. Kurze Zeit später kam er wieder und fragte, ob sie einen Nachtisch oder einen Cappuccino wollten. Baumgartner bestellte ein Tartufo bianco, Anja einen Doppio Espresso. Sie ging davon aus, dass sie das Koffein – und zwar jede Menge davon – heute Nacht dringend benötigte.

Nachdem der Kellner gegangen war, fand Anja, dass es an der Zeit war, endlich über das zu sprechen, weswegen sie sich hier getroffen hatten. Sie beugte sich nach vorn, sah Baumgartner mit ernster Miene an und sagte so leise, dass die Leute an den Nachbartischen es nicht hören konnten: »Erzähl mir von der Überwachung meines Onkels.«

TODESJAGD

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