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Nach dem Mittagessen war sie allein in ihrem Büro in der Vermisstenstelle, die sich im zweiten Stock des Dienstgebäudes in der Hansastraße befand. Daniel Braun war in einem seiner Vermisstenfälle unterwegs.

Anja hatte sich auf der Rückfahrt von der Studenten-WG ein Grill-Sandwich und eine kleine Flasche Cola besorgt. Anschließend war sie zu ihrer Wohnung gefahren, um Yin, den sechsjährigen schwarzen Kater, den sie seit einem halben Jahr besaß, zu füttern und ihm für eine Weile Gesellschaft zu leisten.

Nun hatte sie den Laptop des vermissten Studenten vor sich stehen und durchsuchte die Festplatte nach wichtigen Dokumenten.

Sie fand auf Anhieb ein paar Briefe, die der junge Mann an seinem Computer geschrieben hatte, doch die waren zum größten Teil schon älteren Datums und hatten nicht das Geringste mit seinem Verschwinden zu tun. Mangels Passwörtern und PINs konnte sie darüber hinaus weder auf seinen E-Mail-Account noch auf sein Online-Bankkonto zugreifen. Es frustrierte sie, dass sie nichts fand und offenkundig ihre Zeit verschwendete. Doch da sie niemand war, der schnell aufgab, blieb sie hartnäckig und suchte weiter.

Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte momentan nicht die geringsten Anhaltspunkte, was geschehen war. Mithilfe von Stumpfs Bankdaten, die sie sich notiert hatte, würde sie seine letzten Kontobewegungen überprüfen können. Vielleicht hatte er unmittelbar vor oder nach seinem Verschwinden einen größeren Bargeldbetrag abgehoben. Das würde darauf schließen lassen, dass er freiwillig verschwunden war, um sich möglicherweise eine Auszeit zu gönnen, nachdem seine Freundin ihm vor wenigen Tagen so überraschend den Laufpass gegeben hatte. Falls es andererseits keine verdächtigen Geldabhebungen gab und auch nach seinem Verschwinden nicht mehr auf das Konto zugegriffen worden war, konnte das wiederum ein Indiz dafür sein, dass er sich womöglich aus Liebeskummer etwas angetan hatte.

Die einzig andere vielversprechende Spur, der Anja im Moment nachgehen konnte, war die Ex-Freundin Susanne Winkler. Anja wollte wissen, aus welchem Grund sie die Beziehung dermaßen abrupt beendet hatte. Außerdem interessierte es sie, ob die junge Frau unmittelbar vor oder nach Stumpfs Verschwinden Kontakt mit ihm gehabt hatte. Gegebenenfalls kannte sie auch das Passwort für Stumpf E-Mail-Account.

Doch zunächst wollte Anja sicherstellen, dass sie die Festplatte des Laptops gründlich durchsucht und dabei nichts übersehen hatte. Sie würde das Gerät anschließend zwar ohnehin an die IT-Spezialisten der Kripo weiterleiten, damit diese es auf Herz und Nieren überprüften; doch je früher sie etwaige Hinweise fand, desto eher konnte sie ihnen nachgehen. Und in einem Vermisstenfall wie diesem, in dem zu befürchten stand, dass die vermisste Person sich etwas antat, konnten schon ein paar Stunden über Leben und Tod entscheiden.

Die Kriminalbeamtin wollte bereits aufgeben und Susanne Winkler anrufen, um mit ihr ein Treffen zu vereinbaren. Doch da fand sie in einem Verzeichnis mit dem kryptischen Titel CdtG eine Datei, die den unmissverständlichen Namen Abschiedsbrief.docx trug. Sie stammte von dem Tag, an dem der Student verschwunden war.

Sofort war sie wie elektrifiziert. Sie klickte die Datei hastig an, um sich ihren Inhalt anzusehen. Obwohl das Programm und das Dokument zügig geöffnet wurden, kam es ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Doch dann war es endlich soweit.

Anjas Lippen bewegten sich unwillkürlich, als sie die Sätze las, die vermutlich das Letzte waren, was Christian Stumpf auf diesem Computer geschrieben hatte.

An all diejenigen, die das hier lesen und die es überhaupt interessiert.

ICH BIN TOT!

Vielleicht wurde meine Leiche ja schon gefunden. Wenn nicht, dann wird das womöglich bald der Fall sein. Aber das ist ohnehin egal, denn mein lebloser Körper ist nicht mehr wichtig.

NICHTS AUF DIESER WELT IST NOCH WICHTIG!

WARUM?, fragt ihr, die ihr das lest, euch vielleicht.

Nun, ich werde es euch sagen: Susanne, die LIEBE MEINES LEBENS, hat mich verlassen. Und ohne sie kann ich nicht weiterleben. Ich habe es in den letzten Tagen versucht. Doch dabei habe ich feststellen müssen, dass es einfach nicht geht.

DESHALB HABE ICH BESCHLOSSEN, MEINEM LEBEN EIN ENDE SETZEN!

Allein hätte ich diesen Schritt vermutlich nie gewagt. Es ist viel schwerer, als man zunächst denkt. Doch dann stieß ich zufällig auf den CLUB DER TOTEN GESICHTER. Dank der SUICIDE-CHALLENGE des Clubs wurde ich innerhalb von 23 Stunden durch 23 Aufgaben auf die finale Herausforderung vorbereitet, nämlich auf meinen eigenen selbst herbeigeführten Tod.

JETZT BIN ICH ENDLICH BEREIT UND WERDE ES TATSÄCHLICH TUN.

Die 23. und vorletzte Aufgabe bestand darin, diesen Abschiedsbrief zu verfassen. Nachdem ich ihn zum Beweis an NEMESIS, meinen TODESENGEL und dunklen Begleiter, geschickt habe, der mich bis zum Ende und schließlich ins Licht geleitet, wird er mir mitteilen, wo und wie ich mich umbringen soll.

Ich bedanke mich hiermit bei NEMESIS und auch beim Administrator des CLUBS DER TOTEN GESICHTER. Ohne euch hätte ich es nie geschafft!

Lebt wohl und seid nicht traurig über meinen Tod, denn es war meine eigene freiwillige Entscheidung.

Euer CHRISTIAN

Anja ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und dachte über das soeben Gelesene nach.

Es sah wahrhaftig so aus, als hätte Stumpf vorgehabt, sich aufgrund seines Liebeskummers das Leben zu nehmen. Fragte sich nur, ob er es bereits getan hatte und letzten Endes auch erfolgreich gewesen war. Denn offensichtlich wollte er längst tot sein, wenn dieser Brief gefunden wurde.

Doch was hatte es mit dem Club der toten Gesichter, der ominösen Suicide-Challenge und dem erwähnten Todesengel und dunklen Begleiter namens Nemesis auf sich?

Anja erinnerte sich, vor einigen Monaten einen Artikel über ein sogenanntes Selbstmordspiel aus Russland gelesen zu haben, das sich Blue Whale nannte. Durch dieses vorgebliche Social-Media-Spiel wurden Jugendliche, die an Depressionen litten, zum Suizid verleitet. Allein in Russland sollte das Selbstmordspiel nach offiziellen Angaben mehr als 90 Jugendliche das Leben gekostet haben. Weitere Fälle waren zunächst aus Kirgisien und Kasachstan, später aus Polen und den baltischen Staaten und schließlich auch aus Ungarn, Bulgarien und Frankreich bekannt geworden. Dann war es den Behörden gelungen, den Administrator der Seite zu verhaften.

Das Selbstmordspiel Blue Whale funktionierte folgendermaßen: Sobald die Jugendlichen sich angemeldet hatten, stellte ihnen ein selbsternannter Vormund fünfzig Aufgaben; jeden Tag eine neue. Die Teilnehmer wurden beispielsweise aufgefordert, um 4:20 Uhr aufzustehen und aufs Dach des Hauses zu steigen. Oder sie sollten sich einen Tag lang Horrorfilme ansehen oder etwas in den Arm ritzen. Die Jugendlichen mussten die Erfüllung jeder Aufgabe durch Fotos oder Videos an ihren Vormund nachweisen. Erst dann ging es ins nächste Level des Spiels. Die Herausforderungen wurden mit jeder Stufe härter, um sie auf das Ziel, den Selbstmord nach fünfzig Tagen, vorzubereiten. Gewinner des Spiels war, wer alle Aufgaben absolvierte und sich schließlich das Leben nahm.

Aus dem, was Stumpf in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, ging Anja davon aus, dass es sich bei dem obskuren Club der toten Gesichter um etwas ganz Ähnliches handeln musste. Doch anstelle eines Vormunds gab es hier einen Todesengel namens Nemesis. Und die Suicide-Challenge dauerte auch nicht fünfzig Tage, sondern nur 24 Stunden. Allerdings schien es auch das Ziel dieses Clubs oder Spiels zu sein, dass der Spieler sich am Ende das Leben nahm.

Da Anja es in ihrem Aufgabenbereich immer wieder mit selbstmordgefährdeten Menschen zu tun hatte – nicht nur junge Leute, sondern auch Erwachsene –, wusste sie, dass die allermeisten suizidalen Jugendlichen nicht wirklich sterben wollten. Allerdings konnten sie durch sogenannte Selbstmordspiele manipuliert werden. Zunächst wurden sie willkommen geheißen und umgarnt. Düstere Texte, traurige Musik und furchtbare Bilder vermittelten ihnen die Botschaft, dass es sich nicht lohnte, am Leben zu bleiben. Und wer das Spiel dennoch vorzeitig beenden wollte, erhielt Drohnachrichten und wurde nach und nach in Angst und Panik versetzt.

Anja öffnete an ihrem Dienstcomputer den Browser und gab Club der toten Gesichter in die Suchmaschine ein. Sie erhielt jedoch keinen direkten Treffer und runzelte daher irritiert die Stirn. Wenn es diesen Selbstmordclub tatsächlich gab, dann musste er auch zu finden sein, denn wie sollte er sonst Mitglieder bekommen. Andererseits wollten die Betreiber oder Hintermänner möglicherweise gar nicht so leicht gefunden werden, weil sie nicht ins Blickfeld der Öffentlichkeit oder ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten wollten. In dem Fall wurde die Adresse womöglich nur unter der Hand weitergegeben, sodass nur vertrauenswürdige Personen und potentielle Mitglieder sie in die Finger bekamen.

Die Kriminalbeamtin öffnete daher am Laptop den Browser, den der vermisste Student bevorzugt hatte, und sah in der Chronik nach. Sie hoffte, dass Stumpf sie nicht gelöscht hatte. Und ausnahmsweise hatte sie sogar Glück. In der Chronik war eine Reihe von Webseiten aufgeführt, die Stumpf vor seinem Verschwinden besucht hatte. Die meisten waren uninteressant und brachten Anja nicht weiter. Doch dann entdeckte sie am unteren Ende der Liste einen Eintrag, der genau wie das Verzeichnis, in dem sie den Abschiedsbrief gefunden hatte, CdtG hieß. Wie sie inzwischen wusste, war das die Abkürzung für Club der toten Gesichter. Offenbar legten die Betreiber des Clubs viel Wert auf Diskretion und wollten keine unnötige Aufmerksamkeit bei den falschen Leuten erregen. Kein Wunder, schließlich wollten sie depressive Menschen mit einer Suicide-Challenge zum Selbstmord anspornen und anleiten.

Anja gab die Adresse der Webseite in den Browser ihres Dienstcomputers ein.

Bingo!, dachte sie, als sie im oberen Teil der Seite in bluttriefender Schrift die Worte Club der toten Gesichter las. Der Internetauftritt war düster aufgemacht und hauptsächlich in den Farben Schwarz, Dunkelgrau und Rot gehalten. Auf beiden Seiten der Überschrift flackerten animierte Kerzen. Darunter war ein Sarg abgebildet, den ein Kreuz schmückte.

Subtil sieht anders aus!

Alles – die Farben, die Bilder und die Animationen – war übertrieben, kitschig und geschmacklos. Anja hatte zwar keine Lautsprecher, konnte sich aber vorstellen, dass darüber hinaus im Hintergrund schwermütige Musik gespielt wurde. Oder Lieder, die vom Selbstmord handelten oder diesen glorifizierten. Wenn dieser ominöse Club der toten Gesichter nicht ausgerechnet im Abschiedsbrief eines Mannes Erwähnung gefunden hätte, der seit vorgestern vermisst wurde, und damit bitterernst zu nehmen war, dann hätte Anja darüber lachen können. Doch unter den gegebenen Umständen war ihr nicht danach.

Anja scrollte die Seite nach unten und entdeckte unterhalb des Sarges mit dem Kreuz einen Begrüßungstext:

Willkommen, Suchender, auf der Internetseite des »Clubs der toten Gesichter«.

Bist du des Lebens überdrüssig? Siehst du keinen Sinn mehr in deinem trostlosen irdischen Dasein? Bist du auf der Suche nach Hilfestellung für deinen selbstbestimmten Freitod?

Wenn du auch nur eine einzige dieser Fragen mit Ja beantwortet hast, dann bist du hier bei uns goldrichtig. Mit unserer »Suicide-Challenge« bereiten wir dich Schritt für Schritt geradezu spielerisch auf den Selbstmord vor. In 23 Stufen innerhalb von ebenso vielen Stunden erhältst du von unseren Todesengeln das nötige Rüstzeug, um anschließend erfolgreich dein todtrauriges Leben zu beenden.

Alles, was du dafür tun musst, besteht darin, dich anzumelden. Mehr ist nicht nötig! Zögere also nicht länger, denn je früher du aktiv wirst und an unserer »Suicide-Challenge« teilnimmst, desto eher wirst du diese erbärmliche Existenz aus Schmerzen und Leid hinter dir lassen können und ins Licht aufsteigen.

Umgehend nach deiner Anmeldung wird sich einer unserer erfahrenen Todesengel mit dir in Verbindung setzen, um dich unter seine Fittiche zu nehmen. Er wird dir dann auch die Spielregeln der »Suicide-Challenge« erläutern.

Bist du dir noch nicht sicher, ob du wirklich unserem Selbstmordclub beitreten willst?

Dann sieh doch einfach mal in unserer »Suicidal Hall of Fame« nach. Dort findest du die Bilder sämtlicher Mitglieder, die die Challenge bislang erfolgreich absolviert haben.

Melde dich sofort an – schon nach 24 Stunden kannst auch du Teil unserer »Suicidal Hall of Fame« sein und damit gewissermaßen unsterblich werden.

Anja schüttelte den Kopf über diesen Blödsinn. Aber anscheinend gab es tatsächlich Leute, die darauf hereinfielen. Unter Umständen würde sie anders darüber denken, wenn sie depressiv wäre oder im Moment in einem Stimmungstief stecken würde.

Sie suchte nach einem Impressum, fand jedoch keins. Damit hatte sie auch nicht unbedingt gerechnet, und alles andere hätte sie auch verwundert.

Außer der Hauptseite gab es nur noch zwei weitere Seiten. Eine beinhaltete ein Formular für die Anmeldung, die andere war die erwähnte Ruhmeshalle. Anja entschied sich zunächst für die zweite Alternative.

Die »Suicidal Hall of Fame« bestand aus einem guten Dutzend Fotos. Die eine Hälfte der Aufnahmen war schwarzweiß und stammte aus Zeitungen; die übrigen waren Farbfotos. Unter keinem der Bilder, die keine bestimmte Reihenfolge oder Ordnung aufwiesen, sondern kreuz und quer auf der Seite verteilt waren, stand ein Name.

Anja entdeckte rechts oben sofort ein Bild von Christian Stumpf. Es zeigte ihn von der Seite; er schien in ein Gespräch mit einer anderen Person verwickelt zu sein, die man aber nicht sehen konnte.

Sie seufzte tief. Wenn man der Webseite und Stumpfs Abschiedsbrief glauben konnte, die sich auf makabre Weise ergänzten, hatte der Student die Suicide-Challenge mittlerweile erfolgreich absolviert. Das bedeutete, dass er längst tot war. Anjas Bemühungen, ihn lebend zu finden, waren daher aller Voraussicht nach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch solange seine Leiche nicht gefunden worden war, wollte Anja nicht einfach aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Stattdessen würde sie ihren Job erledigen und nach ihm suchen.

Die Kriminalbeamtin sah sich die anderen Fotos der Reihe nach an. Beim vorletzten stutzte sie, denn die Person, die auf dem Zeitungsfoto zu sehen war, war ebenfalls eine ihrer Vermissten.

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