Читать книгу TODESJAGD - Eberhard Weidner - Страница 7
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ОглавлениеMartina Schreiber war vor fünfzehn Tagen zum letzten Mal gesehen worden. Die 54-Jährige hatte nie geheiratet und war kinderlos geblieben. Sie war Schauspielerin und bewohnte eine kleine Wohnung in München-Schwabing. Ihr Bruder Reinhard meldete sie als vermisst, nachdem sie nicht zu einem vereinbarten Termin gekommen und auch telefonisch nicht zu erreichen gewesen war.
Reinhard Schreiber besaß zwar für derartige Notfälle einen Schlüssel zur Wohnung seiner Schwester, traute sich aber nicht, allein dorthin zu gehen. Er hatte panische Angst, er könnte ihre Leiche finden. Denn Martina Schreiber litt seit vielen Jahren unter Depressionen. Sie hatte in der Vergangenheit mehrmals geäußert, sie würde sich eines Tages das Leben nehmen. Vor anderthalb Jahren hatte sie es sogar versucht, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hatte. Da sie ihrem Bruder unmittelbar davor eine E-Mail geschickt hatte, in dem sie ihren Suizid angekündigt hatte, konnte sie gerettet werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verbrachte sie auf eigenen Wunsch sechs Wochen in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Anschließend besuchte sie bis zu ihrem Verschwinden regelmäßig einen ambulanten Therapeuten.
Sowohl der Bruder als auch der Therapeut hatten bis vor fünfzehn Tagen gedacht, Martina Schreiber wäre nicht mehr akut selbstmordgefährdet. Ihr spurloses Verschwinden hatte sie dann eines Besseren belehrt. Allerdings hatte die Frau dieses Mal keine E-Mail mit der Ankündigung ihres Suizids an ihren Bruder geschickt. Und es war auch kein Abschiedsbrief gefunden worden.
Anja hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, war bei ihren Ermittlungen jedoch auf der Stelle getreten. Martina Schreiber gehörte zu den Vermissten, die im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwanden. Da es weder Spuren noch Hinweise gab, denen die Kriminalbeamtin aktiv nachgehen konnte, hatte sie die Akte nach kurzer Zeit auf den Stapel mit den unerledigten Fällen legen müssen. Seitdem wartete sie darauf, dass sich in dem Fall etwas Neues ergab. Insgeheim war sie allerdings stets davon ausgegangen, dass sie erst dann wieder von der Frau hören würde, wenn man ihren Leichnam fand.
Doch nun war es doch anders gekommen. Statt ihrer Leiche tauchte ihr Bild in der sogenannten Ruhmeshalle eines Selbstmordclubs auf, über den Anja in einem anderen Vermisstenfall gestolpert war.
Nachdem Anja den ersten Schock halbwegs verdaut hatte, sah sie sich die übrigen Fotos noch einmal genauer an. Sie entdeckte jedoch kein weiteres Gesicht, das ihr vertraut vorkam.
Anschließend kehrte sie zur Eingangsseite zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Ich sollte mich selbst in diesem Club anmelden. Mal sehen, was dann passiert.
Sie klickte den ersten Menüpunkt an und gelangte zum Anmeldeformular. Darin wurde neben ihrem vollständigen Namen und dem Geburtsdatum eine Reihe weiterer Angaben verlangt. Anja hatte allerdings nicht vor, ihre wahre Identität preiszugeben. Sie wollte sich stattdessen als fünfzehnjähriges Mädchen ausgeben. Also dachte sie sich kurzerhand einen falschen Namen aus und trug ihn in die dafür vorgesehenen Felder ein. Als Adresse gab sie ein Hochhaus in Moosach an, in dem eine ehemalige Schulfreundin gewohnt hatte. In dem Haus gab es so viele Parteien und ständige Mieterwechsel, dass die Initiatoren des Clubs der toten Gesichter schon persönlich hingehen und alle Briefkästen überprüfen mussten, um den Schwindel zu durchschauen. Bevor sie ihre E-Mail-Adresse eingab, richtete sie bei einem kostenlosen Anbieter einen neuen Account ein. Die Angabe der Telefonnummer war freiwillig. Darüber war Anja froh, denn sonst hätte sie ihre echte Handynummer verwenden müssen, was sie nicht wollte. Am Ende überprüfte sie alles noch einmal gründlich und schickte die Anmeldung dann ab.
Die Wartezeit verkürzte sie sich, indem sie ihre anwesenden Kollegen anrief und bat, sich die Bilder in der Suicidal Hall of Fame anzusehen. Dazu diktierte sie ihnen die Adresse der Seite. Während diese damit beschäftigt waren, sah sie die Aktenstapel auf dem Schreibtisch ihres Bürokollegen durch. Denn da Braun nicht da war, konnte sie ihn nicht fragen, ob ihm eines der Fotos bekannt vorkam. Sie fand jedoch in seinen offenen Fällen keine vermisste Person, die Ähnlichkeit mit einem der Fotos auf der Internetseite hatte.
Dann rief einer ihrer Kollegen zurück.
»Ich habe einen Treffer erzielt«, sagte Josef Fuchsner.
Anja rief erneut die Seite mit der vermeintlichen Ruhmeshalle auf. »Welches Foto ist es denn?«
»Das Zeitungsfoto unten in der Mitte.«
Anja sah es sich an. Es zeigte einen leicht übergewichtigen Mann mit Halbglatze. Anhand des körnigen Zeitungsfotos konnte sie nur schwer einschätzen, wie alt er war; sein Alter konnte durchaus zwischen vierzig und sechzig Jahren liegen.
»Wie heißt er«, fragte Anja, während sie ihr Notizbuch öffnete und den Kugelschreiber in die Hand nahm.
»Sein Name ist Stefan Greinwald. Fünfundfünfzig Jahre alt. Fernfahrer. Geschieden. Eine erwachsene Tochter, zu der er in den letzten Jahren allerdings kaum noch Kontakt hatte.«
Anja notierte sich alles. »Wann ist er verschwunden?«
»Vor zweieinhalb Wochen. Sein Arbeitgeber meldete ihn als vermisst, nachdem er nicht zur Arbeit gekommen war und man zwei Tage lang vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen.«
»Und?«, fragte Anja erwartungsvoll. »Was glaubst du, was mit ihm geschehen ist?«
»Ich ging von Anfang an davon aus, dass er sich möglicherweise etwas angetan hat. Und sein Foto in dieser sogenannten Suicidal Hall of Fame bestätigt mich nur in meiner Vermutung.«
»Gibt es weitere Anhaltspunkte für eine Suizidversion?« Anja dachte dabei vor allem an einen Abschiedsbrief. Manchmal legten Personen, die sich umbringen wollten, aber auch ihre Testamente oder andere wichtige Unterlagen bereit, damit die Angehörigen nicht danach suchen mussten.
»Der Mann war schwerkrank. Nachdem er vier Jahrzehnte lang jeden Tag ein bis zwei Schachteln Zigaretten geraucht hatte, bekam er vor einem halben Jahr bei einem Arztbesuch die Quittung, als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wurde.«
Anja dachte nach. Bislang waren drei der Personen in der Suicidal Hall of Fame des Clubs der toten Gesichter identifiziert worden. Alle wurden vermisst. Und bei allen stand aus unterschiedlichen Gründen der begründete Verdacht im Raum, sie könnten sich etwas angetan haben.
Fuchsner versprach, ihr demnächst die Akte vorbeizubringen, damit sie sich selbst ein Bild des Vermisstenfalls machen konnte. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Kaum hatte Anja den Hörer aus der Hand gelegt, bekam sie den nächsten Anruf. Dieses Mal von einer Kollegin namens Sarah Neuner, die nur drei Jahre älter als sie war.
»Du glaubst es nicht, aber ich habe einen der Vermissten wiedererkannt«, sagte sie, als könnte sie es selbst noch nicht fassen. »Es handelt sich um das Zeitungsfoto ein Stück links vom Zentrum der Seite.«
Anja sah sich das Bild an. Es zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann mit lockigen dunklen Haaren und einem Vollbart. »Name?«
»Erhard Bader, neununddreißig Jahre alt. Er ist Musiker, hat aber seit Jahren keine feste Anstellung und hält sich deshalb mit Gelegenheitsjobs und Straßenmusik über Wasser. Seine Mutter meldete ihn vor zehn Tagen als vermisst. Sie hatte ihn zum Essen zu sich nach Hause eingeladen, was sie regelmäßig tut. Als er nicht kam, rief sie bei ihm an, doch er ging nicht an den Apparat. Sie fuhr anschließend zu seiner Wohnung, für die sie einen Schlüssel hat. Doch er war nicht da. Als er auch am nächsten Tag noch immer unauffindbar blieb, wandte sie sich an die Polizei.«
»Hattest du schon eine Vermutung, was ihm widerfahren sein könnte?«, fragte Anja, hatte aber bereits eine Ahnung, was sie zu hören bekommen würde.
»Ehrlich gesagt, tippte ich von Beginn an auf Suizid. Deshalb hat es mich auch nicht wirklich überrascht, sein Foto auf der Seite dieses komischen Selbstmordvereins zu finden. Nach Angaben seiner Mutter war er schon seit Jahren seines Lebens überdrüssig, wie sie es ausdrückte. Die große Musikerkarriere war ihm verwehrt geblieben. Außerdem gelang es ihm immer seltener, als Musiker genug Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war auf ihre Unterstützung angewiesen, verachtete sich aber gleichzeitig dafür. Andererseits war er aber auch zu stolz, öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen. Im Grunde rechnete die Mutter ständig damit, dass er sich irgendwann einmal umbringt, weshalb sie sein Verschwinden auch nicht überrascht hat. Wenn man jahrelang fest mit einem Ereignis rechnet, dann ist es vermutlich sogar eine Erleichterung, wenn es schließlich eintritt, auch wenn es im Grunde furchtbar ist.«
Während Anja noch mit Sarah Neuner sprach, klopfte es an der Tür. Lukas Brandstetter, ein zehn Jahre älterer Kollege, der im Nebenzimmer arbeitete, kam herein. Er hatte eine Vermisstenakte bei sich, sodass Anja sofort wusste, aus welchem Grund er gekommen war.
»Ich muss Schluss machen«, sagte Anja. Sie bedeutete Brandstetter, Platz zu nehmen. »Ich komme nachher vorbei und hol mir die Akte, Sarah. Danke für den Anruf.«
Sie legte auf und sah Brandstetter, einen etwas korpulenten Mann mit kurzen vorzeitig ergrauten Haaren und einem Schnauzbart, erwartungsvoll an. »Lass mich raten. Du hast eine der Personen in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs erkannt.«
Er nickte lächelnd. »Da bin ich wohl offenbar nicht der Einzige.« Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete er auf das Telefon.
»Ja.« Anja erzählte ihm von den anderen Fällen und zeigte ihm auf dem Monitor die entsprechenden Zeitungsfotos. »Und was hast du für mich?«
Er legte die Akte vor ihr auf den Schreibtisch, sodass sie den Namen darauf lesen konnte, und sagte: »Markus Lehner, 57 Jahre alt, war bis zu seiner Frühpensionierung Finanzbeamter. Vor drei Jahren ist er an Knochenkrebs erkrankt. Keine Aussicht auf Heilung. Seine Lebenserwartung beträgt nach Aussage seines Arztes voraussichtlich nur noch wenige Monate. Die Wohnungsnachbarin erzählte mir, dass er in letzter Zeit oft von Selbstmord gesprochen habe. Im Nachhinein meinte sie, dass es in letzter Zeit durchaus so klang, als habe er sogar schon konkrete Pläne gehabt. Sie hat aber nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er auch den Mumm hätte, es zu tun. Nachdem sie ihn ein paar Tage lang nicht gesehen hatte, begann sie sich Sorgen um ihn zu machen und rief die Polizei. In der Wohnung fand man jedoch keine Spur von ihm. Da er als suizidgefährdet gilt, wurde Vermisstenanzeige erstattet, und der Fall landete bei uns.«
Während Brandstetter sie über die wichtigsten Details in Kenntnis gesetzt hatte, hatte Anja die Akte aufgeschlagen und sich die Fotos des vermissten Mannes angesehen. Dann hatte sie in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs nach seinem Konterfei gesucht und es auch rasch gefunden. Es handelte sich ebenfalls um das körnige Schwarzweißfoto aus einer Tageszeitung, das vermutlich zu einer öffentlichen Fahndung nach dem Vermissten gehört hatte.
»Seit wann ist er verschwunden?«
»Er wurde vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen.«
»Angehörige?«
»Einen Bruder, der in Norddeutschland lebt. Die beiden hatten in den letzten Jahren aber keinen Kontakt mehr. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und der einzige Sohn kam vor fast dreißig Jahren bei einem Badeunfall ums Leben.«
»Tragisch!«
Brandstetter nickte. »Wie bist du überhaupt auf diesen ominösen Selbstmordclub gestoßen?«
Sie erzählte es ihm.
»Du solltest zum Chef gehen«, sagte Brandstetter anschließend. Der Chef war Polizeirat Alexander Zumbruch, der Leiter der Vermisstenstelle und damit ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. »Da die Fotos der Vermissten auf dieser Seite auftauchen und diese Leute eindeutig alle suizidgefährdet waren, besteht meiner Meinung nach ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Fällen. Da ist es vermutlich vorteilhafter, wenn die Bearbeitung all dieser Fälle in einer Hand liegt.«
»Und wenn du von einer Hand redest, meinst du vermutlich meine Hand.« Anja winkte ab. »Ich habe mit meinen eigenen Fällen schon mehr als genug zu tun.«
»Wer hat das nicht?« Brandstetter grinste. »Und ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen, einen offenen Vermisstenfall auf diese Weise elegant loszuwerden. Aber darum geht es mir gar nicht.«
Anja nickte. »Du hast ja recht. Ich werde gleich zum Chef gehen und ihn bitten, die drei anderen Fälle an mich zu übertragen. Sobald ich das erledigt habe, hole ich mir die übrigen Akten von den Kollegen.«
»Dann viel Glück bei den Ermittlungen.« Brandstetter stand auf. »Ich hoffe, du bekommst den Kerl zu fassen, der hinter dieser Seite steckt. Sag Bescheid, wenn du dabei Hilfe benötigst.«
Sobald der Kollege ihr Büro verlassen hatte, machte sich Anja auf den Weg zu Polizeirat Zumbruch. Sie schilderte ihm mit knappen Worten die Vermisstenfälle. Anschließend zeigte sie ihm die Webseite des Clubs der toten Gesichter. Er stimmte mit ihr darin überein, dass es aufgrund der Fotos in der vermeintlichen Ruhmeshalle einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Fällen gab. Aus diesem Grund übertrug er ihr die Verantwortung für die Ermittlungen. Sollte sie Hilfe benötigen, versprach er ihr Unterstützung durch einen der Kollegen.
Auf dem Weg zurück in ihr Büro holte sie die beiden restlichen Vermisstenakten bei Sarah Neuner und Josef Fuchsner ab.