Читать книгу TODESJAGD - Eberhard Weidner - Страница 9
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ОглавлениеNachdem sie in ihrem weißen MINI Cooper die Tiefgarage des Dienstgebäudes verlassen hatte, fuhr sie ohne Umwege zu dem Hochhaus im Stadtteil Moosach, dessen Adresse sie bei ihrer Anmeldung im Club der toten Gesichter angegeben hatte.
Anfangs hatte sie für ihre nächste Challenge noch an eines der höchsten Gebäude der Stadt gedacht; schließlich hatte Nemesis geschrieben: je höher, desto besser. Doch bei vielen dieser Häuser waren die Dächer nicht oder nur schwer zugänglich. Beispielsweise beim Hochhaus Uptown, das ebenfalls in Moosach stand und mit 146 Metern das höchste Gebäude der Stadt war. Oder bei den Highlight Towers in Schwabing-Freimann, die mit 126 und 113 Metern die Plätze zwei und vier belegten.
Abgesehen davon fand sie es passend, ausgerechnet das Dach des Wohnhauses aufzusuchen, in dem sie angeblich wohnte. Falls es den Leuten, die hinter dem Selbstmordclub steckten, aufgrund ihres Fotos gelang, das Gebäude zu identifizieren, würden sie wenigstens nicht stutzig werden. Schließlich war es für ein vierzehnjähriges Mädchen naheliegend und am einfachsten, das Dach des Hauses aufzusuchen, in dem es wohnte.
Von früheren Besuchen bei ihrer ehemaligen Schulfreundin, die mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in der 18. Etage gewohnt hatte, wusste sie noch genau, in welcher der Erdgeschosswohnungen sie den Hausmeister finden konnte. Der gedrungen wirkende, glatzköpfige Mann, der ihr die Tür öffnete, war nicht erfreut, dass sie ihn um diese Uhrzeit störte, denn er saß mit seiner Frau und seinen drei Kindern beim Abendessen. Doch mithilfe ihres Dienstausweises und einer kleinen Notlüge, vor allem aber dank eines diskret angebotenen Geldscheins, um ihn für seine Mühe zu entschädigen, gelang es ihr erstaunlich leicht und rasch, den Hausmeister zu besänftigen. Außerdem konnte sie ihn auf diese Weise auch dazu überreden, ihr den Schlüssel zu geben, der ihr Zutritt zum Dach des über 70 Meter hohen Gebäudes gewährte.
Als sie das Treppenhaus verließ und aufs Dach trat, gönnte sie sich zunächst einen ausgiebigen Rundumblick, denn allzu oft sah sie die Stadt nicht aus dieser Perspektive. Die Aussicht von hier oben war eindrucksvoll. Es wehte zwar ein leichter Wind, der in Anjas ohnehin arg zerzaustem Haar wühlte und an ihrer Kleidung zerrte, doch er war nicht so kräftig, dass sie Gefahr lief, vom Dach geweht zu werden.
Schließlich ging sie über den moosbedeckten, leicht rutschigen Kiesbelag, der den größten Teil des Daches bedeckte, zum Rand. Ein hüfthohes Geländer sollte vermutlich verhindern, dass jemand versehentlich vom Gebäude fiel. Unmittelbar davor blieb sie stehen und legte die rechte Hand darauf. Erst dann senkte sie den Blick und sah in die Tiefe. Wie bereits auf der Fahrt hierher ging ihr dabei wie ein besonders nervtötender Ohrwurm die Melodie von »Gloomy Sunday« durch den Kopf.
Von hier oben wirkte das Gebäude sogar noch höher als zuvor von unten. Die Autos und Fußgänger sahen aus wie Bestandteile einer Modelleisenbahn.
Anja wollte nur schnell das Beweisfoto für Nemesis machen und sofort wieder verschwinden. Doch dann zog sie der Anblick in seinen Bann, sodass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen oder einen Muskel zu rühren.
Sie erschauderte sosehr, dass sie am ganzen Körper erzitterte.
Zunächst hatte der Abgrund vor ihr beängstigend und gefährlich auf sie gewirkt. Doch je länger sie in die Tiefe starrte, desto vertrauter und harmloser wurde der Anblick für sie. Beinahe erschien es ihr, als wollte der Abgrund sie zu sich locken. Es war ein ganz ähnliches Gefühl wie das, das sie bis vor ein paar Monaten immer gehabt hatte. Damals hatte sie nach ihren ständig wiederkehrenden Albträumen im Badezimmer ihrer Wohnung wie hypnotisiert auf die Schachtel mit den Schlaftabletten gestarrt, die ihr einen einfachen und schnellen Ausweg aus ihrer Misere versprochen hatten. Auch jetzt vermeinte sie wieder, den Lockruf des Abgrunds zu spüren, nur dass es diesmal nicht nur der sinnbildliche Abgrund jenseits des Todes, sondern die sehr reale und tödliche Tiefe rund um ein Hochhausdach war.
Während in ihrem Kopf wie der Soundtrack zu einem Film weiterhin »Gloomy Sunday« gespielt wurde, und zwar dermaßen laut, dass sie sich kaum denken hören konnte, kletterte sie über das Geländer, bis sie auf dem schmalen Absatz balancierte, der die Brüstung vom Abgrund trennte. Anschließend ließ sie das Geländer los, senkte den Kopf und sah in die Tiefe vor ihren Füßen, die ihr finster entgegenblickte. Der Wind zerrte hier, unmittelbar am Rand, noch heftiger an ihr. Es kam ihr beinahe so vor, als griffe er mit gierigen Händen nach ihr, um sie vom Gebäude herunterzureißen und anschließend auf ihrem Weg nach unten zu begleiten. Doch sie hielt dem Zerren stand. Dann schloss sie die Augen, ließ sich nach vorn fallen und …
Anja schwankte und bekam einen Schreck. Ihr Herz klopfte erschreckend schnell. Eilig riss sie die Augen auf und erkannte mit Erleichterung, dass sie gar nicht über das Geländer geklettert war und vom Dach stürzte, sondern es sich nur besonders lebhaft vorgestellt hatte. Sie stand noch immer auf der sicheren Seite der Brüstung. Und ihre rechte Hand klammerte sich weiterhin daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Außerdem hatte sie weiche Knie.
Als sie erneut in die Tiefe blickte, wurde ihr umgehend schwindelig. Sie vermeinte noch immer, einen leichten Sog zu verspüren, so als flüsterte ihr die Tiefe zu, es endlich hinter sich zu bringen und zu ihr zu kommen. Doch Anja schüttelte verneinend den Kopf und widerstand der Versuchung.
Ich muss schleunigst von hier weg!
Sie löste ihre Finger widerstrebend vom Geländer. Anschließend trat sie rasch ein paar Schritte zurück, bis die endlich wieder das Gefühl hatte, festen Boden unter den Füßen zu haben. Das Schwindelgefühl legte sich allmählich.
Eilig holte sie ihr Telefon heraus und machte die Aufnahme, die Nemesis verlangt hatte. Normalerweise war sie schwindelfrei und litt auch nicht unter Höhenangst. Sie hatte aber dennoch keine Lust, zehn Minuten lang hier herumzustehen und nach unten zu starren, wie es der Todesengel verlangt hatte, während ihr gleichzeitig ständig das sogenannte Lied der Selbstmörder durch den Kopf ging und der Abgrund sie flüsternd zu sich locken wollte.
Anja hatte gedacht, sie wäre seit dem Tod des Apokalypse-Killers nicht mehr suizidgefährdet. Aber offenkundig hatte sie sich getäuscht. In manchen Situationen, beispielsweise am Rand eines Hochhausdaches, konnte sie den Lockruf des Todes noch immer vernehmen und seinen Sog deutlich spüren.
Sie erschauderte erneut und erzitterte dabei.
Womöglich war es doch keine so brillante Idee, diese Selbstmord-Challenge anzufangen.
Dennoch wollte sie die Challenge jetzt nicht abbrechen. Außer dem Kontakt zu Nemesis hatte sie momentan nichts in der Hand, um den Hinterleuten des Clubs auf die Spur zu kommen. Schon deshalb musste sie mit der Challenge unbedingt weitermachen.
Anja gab sich innerlich einen Ruck und drehte sich schließlich um, damit sie nicht länger in die verlockende Tiefe schauen musste. Nachdem sie beim Anblick des Abgrunds soeben das Gefühl gehabt hatte, sie wäre in Trance gefallen, traute sie sich hier oben selbst nicht länger.
Besser, ich verschwinde so schnell wie möglich!
Schließlich hatte sie, was sie wollte. Und sobald sie Nemesis das Foto geschickt hatte, wäre damit auch die vierte Aufgabe erledigt.
Sie ging, noch immer auf wackligen Beinen, zu dem Aufbau in der Mitte des Daches, der neben dem Schachtkopf des Aufzugs eine Tür zum Treppenhaus enthielt. Als sich die Tür hinter ihr schloss und sie sicher im Inneren des Hauses war, atmete sie erleichtert auf. Auch die Melodie von »Gloomy Sunday« in ihrem Kopf wurde augenblicklich leiser. Sie lief die Stufen bis ins oberste Stockwerk hinunter. Anschließend fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Nachdem sie dem Hausmeister den Schlüssel zurückgebracht und sich noch einmal bedankt hatte, verließ sie das Gebäude, setzte sich in ihren Wagen und fuhr nach Hause.
Anjas 3-Zimmer-Wohnung lag in der Hansapark-Wohnsiedlung nördlich des Westparks. Von ihrem verstorbenen Mann Fabian hatte sie ein Haus geerbt. Es lag in der Nähe des Waldfriedhofs, auf dem sowohl ihr Mann als auch ihr Vater begraben waren. Dennoch hatte sie sich bislang nicht dazu durchringen können, die Wohnung aufzugeben und in das Haus zu ziehen. Dabei wäre das vom rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt her viel sinnvoller gewesen. Doch abgesehen davon, dass sie in Fabians Haus zu viel an ihn erinnerte und die Trauer und der Schmerz über seinen Tod dort allgegenwärtig waren, lag die Wohnung erheblich näher an ihrer Dienststelle. Wenn sie ihr Auto nicht benötigte, konnte sie innerhalb weniger Minuten zu Fuß zur Arbeit gehen. Außerdem lag der Westpark, in dem sie bevorzugt ihre Runden drehte, unmittelbar vor der Haustür.
Sobald sie die Wohnung betreten hatte, sah sie sich Yin gegenüber. Er saß im Flur und sah sie erwartungsvoll an. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn der Kater hatte bis vor einem halben Jahr auf einem Bauernhof gelebt und dort jede Menge Auslauf und Freiraum gehabt. Ermittlungen im Fall einer verschwunden Psychologiestudentin, an die Anja an diesem Tag schon einmal erinnert worden war, hatten sie damals dorthin geführt und in eine lebensgefährliche Situation gebracht. Yin hatte ihr gleich zweimal das Leben gerettet. Zum Dank hatte Anja ihn bei sich aufgenommen, denn nachdem die beiden Bewohner des Bauernhofs gestorben waren, hatte es niemanden gegeben, der sich um ihn gekümmert hätte. Seitdem lebte Yin bei Anja und war eine reine Wohnungskatze. Er beklagte sich zwar nie darüber, dass er nicht mehr wie früher nach Belieben in der Gegend herumstreunen und auf Mäusejagd gehen konnte, wie es Katzen ihrer räuberischen Natur gemäß eigentlich tun sollten. Dennoch war Anja davon überzeugt, dass er es insgeheim vermisste. Vor allem, da sie einen Großteil des Tages nicht da und er in dieser Zeit sich selbst überlassen war. Anja stellte sich dann immer vor, dass er auf dem Fensterbrett saß, nach draußen sah und seiner verlorenen Freiheit nachtrauerte. Das war natürlich Blödsinn, und wie viele Tierbesitzer vermenschlichte sie das Tier damit allzu sehr. Dennoch beschloss Anja in diesem Moment spontan, sich schon um des Katers willen endlich darum zu kümmern, dass sie diese Wohnung trotz ihrer unbestreitbaren Vorteile aufgab und in das leerstehende Haus neben dem Waldfriedhof zog.
»Gute Neuigkeiten, Yin«, sagte Anja daher zur Begrüßung. »Wir beide ziehen bald in ein Haus mit einem großen Garten.«
Yin ließ sich nicht anmerken, ob er sie verstanden hatte und, wenn ja, was er darüber dachte. Er wartete geduldig, bis sie endlich Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, bevor er zu ihr kam, sich an ihren Beinen rieb und leise miaute.
»Hunger?«, fragte Anja.
Dieses Wort schien der Kater hingegen sehr wohl verstanden zu haben. Er löste sich augenblicklich von ihr und lief leichtfüßig in die Küche.
Anja folgte ihm.
Als sie die Küche betrat, saß er bereits auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Sein Schwanz peitschte ungeduldig hin und her.
»Ich mach ja schon«, sagte Anja und schüttelte den Kopf. Am Anfang ihres Zusammenlebens hatte sie ihm noch beibringen wollen, nicht auf die Tische und die Arbeitsplatten in der Küche zu springen. Doch da er ihre dementsprechenden Anweisungen schlichtweg ignoriert hatte, hatte sie es irgendwann aufgeben, ihn erziehen zu wollen. Stattdessen hatte sie immer öfter das unbestimmte Gefühl, die Katze würde sie dressieren und wäre damit sogar ausnehmend erfolgreich.
»Und? Wie war dein Nachmittag?« Sie öffnete den Oberschrank, unter dem Yin saß, und holte eine Dose Katzenfutter mit Kaninchen- und Entenfleisch heraus. Sie glaubte, dass es sich dabei um Yins Lieblingssorte handelte, denn keine andere Geschmacksrichtung aß er rascher auf. Während sie einen frischen Futternapf füllte und die Katze gleichzeitig mit dem Ellenbogen davon abhielt, sich schon jetzt darüber herzumachen, redete sie weiter, als hätte Yin ihr geantwortet. »Bei mir war’s überhaupt nicht langweilig. Ich hab mich bei einer Suicide-Challenge angemeldet und musste jede Menge dämlicher Aufgaben erledigen.« Sie stellte den Napf auf den Boden. Yin sprang herunter und stürzte sich darauf, als hätte er Angst, jemand könnte es ihm vor der Nase wegschnappen. »Guten Appetit«, wünschte Anja. Anschließend leerte sie den Wassernapf, spülte ihn kurz aus, füllte ihn dann erneut und stellte ihn neben den dritten Napf, der Trockenfutter enthielt, auf das Yin jedoch nur im äußersten Notfall zurückgriff.
Erst als sie den Kater versorgt hatte, kam sie dazu, an sich selbst zu denken und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Dank der Suicide-Challenge würde es vermutlich eine lange Nacht ohne allzu viel Schlaf werden, denn Nemesis würde ihr jede Stunde eine weitere Aufgabe stellen.
Während die Maschine lief, erzählte sie Yin von den Aufgaben, die sie bereits absolviert hatte. Sie hatte festgestellt, dass es ihr guttat, zu Hause jemanden zu haben, mit dem sie nach Feierabend über ihre Arbeit und die Fälle reden konnte. Auch wenn es sich nur um eine Katze handelte und die Gespräche verständlicherweise einseitig verliefen. Dennoch hatte sie oftmals das Gefühl, Yin verstünde sie auf einer speziellen Ebene sehr gut. Immerhin hatten sie ein paar Dinge gemeinsam. Sie waren beide Überlebende und hatten ihre Partner verloren. Anja ihren Ehemann Fabian, den sie, obwohl sie ihn sechs Monate vorher verlassen hatte, zum Zeitpunkt seines Todes noch immer sehr geliebt hatte. Und Yin seine Gefährtin Yang, eine ebenfalls sechsjährige weiße Katze, die ein Opfer des Mannes geworden war, der auch Yin und Anja hatte töten wollen.
Als der Kaffee fertig war, setzte sie sich mit einem randvollen Jumbobecher an den Küchentisch vor ihren Laptop, den sie bereits aufgeklappt und eingeschaltet hatte.
Yin hatte seine Mahlzeit beendet, saß neben dem saubergeleckten Napf und unterzog sich einer gründlichen Katzenwäsche. Anja hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit etwas fülliger geworden war. Womöglich sollte sie ihn auf Diät setzen. Aber unter Umständen lag es nicht in erster Linie daran, sondern kam eher daher, dass er zu wenig Bewegung hatte. Doch das würde sich jetzt ohnehin bald ändern, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Sie hatte nur noch ein paar Minuten Zeit, Nemesis eine Nachricht mit dem Foto vom Hochhausdach zu schicken.
Bereits bei dem Gedanken daran, was ihr dort oben widerfahren war, überlief sie ein eisiger Schauder, der sie erzittern ließ. Sie verdrängte die Erinnerungen, die von der nervigen Melodie des Selbstmordliedes begleitet wurden, und versuchte stattdessen, sich auf ihr Tun zu konzentrieren.
Anja wusste nicht, was passieren würde, wenn sie Nemesis das Foto nicht rechtzeitig schickte. Sie verspürte zwar gute Lust, die Probe aufs Exempel zu machen und es herauszufinden, sparte sich das aber für eine spätere Gelegenheit auf und beeilte sich daher, damit ihr Todesengel die Mail zur rechten Zeit bekam.
Wenige Minuten danach erhielt sie eine Antwortmail von Nemesis.
Gut gemacht, Laura! Hattest du Angst?
Anja schrieb zurück:
Ein bisschen schon. Aber nur am Anfang. Während ich nach unten sah, ging mir ständig die Melodie von »Gloomy Sunday« durch den Kopf, und meine Angst legte sich. Außerdem spürte ich einen merkwürdigen Sog, den der Abgrund auf mich ausübte. Beinahe kam es mir so vor, als würde mich die Tiefe zu sich rufen oder locken. Ich konnte nur schwer widerstehen. Das war natürlich komisch. Andererseits aber auch cool.
Yin hatte seine Fellpflege beendet und offenbar beschlossen, dass es Zeit für den Austausch von Zärtlichkeiten war. Schließlich hatte Anja eine kleine Belohnung dafür verdient, dass sie ihn so gut versorgte. Er sprang auf Anjas Schoss, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen ihren Oberkörper und rieb seinen Kopf an ihrem Kinn. Anja kraulte ihn am Hals und hinter den Ohren, sodass er alsbald zufrieden schnurrte.
Als Nemesis’ Antwort kam, öffnete sie die Mail und konzentrierte sich auf den Text.
Genau so soll es auch sein. Oberstes Ziel der ersten 23 Aufgaben ist es, dir die Angst zu nehmen. Die Angst vor der 24. Challenge und natürlich die Angst vor dem Tod. Denn der Tod ist im Grunde nichts, vor dem du dich fürchten musst! Das Leben ist es, vor dem du Angst haben solltest.
Deshalb lautet deine 6. Aufgabe wie folgt:
Sieh dir die Videos an, die ich dir geschickt habe. Am besten mehrmals hintereinander. Berichte mir hinterher, was du dabei empfunden hast.
»Da sind wir beide ja mal gespannt, was das Miststück mir geschickt hat, nicht wahr?«, sagte Anja, und Yin maunzte zustimmend.
Anja öffnete die erste von einem halben Dutzend Dateien, bei denen es sich durchweg um kurze Filme von wenigen Minuten Dauer handelte, und sah sich das Video an. Es bestand aus einer Aneinanderreihung von Bildern und Szenen der Not und des Elends, begleitet von schwermütiger Klaviermusik, die Anja an die Untermalung von Stummfilmklassikern erinnerte. Sie sah hungernde Menschen, Opfer von Kriegen und Katastrophen, Szenen der Gewalt und des Terrors. Nach dem ersten Film hatte sie bereits mehr als genug gesehen und keine Lust, die anderen auch noch abzuspielen. Doch da Nemesis einen Bericht über ihre Empfindungen erwartete und ihr unter Umständen eine Falle gestellt hatte, um zu überprüfen, ob sie sich tatsächlich alle Videos angesehen hatte, musste sie da durch, ob sie wollte oder nicht.
Also nahm sie Yin kurz hoch und schenkte sich einen zweiten Kaffeebecher ein. Dann setzte sie sich wieder und ließ den Kater auf ihren Schoß sinken. Während sie die anderen Videos über sich ergehen ließ, die allesamt ähnliche Szenen zeigten wie das erste, drehte sich die Katze mehrmals im Kreis. Erst als sie die ideale Position gefunden hatte, legte sie sich hin und schnurrte anschließend mit der Gleichmäßigkeit eines gut geölten Uhrwerks.
Anja war froh, als sie die Videos endlich geschafft hatte. Doch die Bilder, die sie gesehen hatte, ließen sie auch danach nicht los. Sie waren ihr noch immer so präsent, als wären sie mit Reißzwecken in ihr Gedächtnis geheftet worden wie Urlaubsschnappschüsse an eine Pinnwand. Und dazu spielte im Hintergrund ihres Verstandes fortwährend die bedrückende Melodie des Selbstmörderliedes.
»Prima!«, sagte Anja und seufzte tief. »Wer sich danach nicht umbringt, muss ein gefühlloser Eisklotz sein.«
Yins Schnurren pausierte kurz, als würde er über ihre Worte nachdenken. Doch er hielt es offensichtlich für unter seiner Würde, einen Kommentar abzugeben.
Durch das Ansehen der schrecklichen Bilder und Szenen fühlte sich Anja irgendwie beschmutzt. Sie trank rasch ihren Kaffee aus, deponierte Yin, der protestierend miaute, auf dem Küchenstuhl und ging schnurstracks unter die Dusche. Obwohl sie keine gute Sängerin war, sang sie lautstark aktuelle Hits, die sie im Autoradio gehört hatte. Dabei dachte sie krampfhaft an schöne und angenehme Dinge. Doch all das funktionierte nicht! Die furchtbaren Bilder standen ihr auch danach noch immer deutlich vor Augen. Und in ihrem Hinterkopf spielte ihr Musikgedächtnis in einer nervtötenden Endlosschleife die Melodie von »Gloomy Sunday« ab.
Genau so war es von Nemesis vermutlich auch beabsichtigt gewesen. Und wenn es sich auf Anja, die momentan keine akuten, sondern allenfalls latente Selbsttötungsabsichten hegte, schon derart heftig auswirkte, wie musste die Wirkung dann erst bei jemandem sein, der hochgradig depressiv oder akut selbstmordgefährdet war?
Nachdem sie sich geduscht und frische Sachen angezogen hatte, schickte sie Nemesis eine kurze Mail, in der sie ihr schilderte, was sie beim Anblick der Videos empfunden hatte. Sie musste sich nicht einmal etwas aus den Fingern saugen, sondern nur ihre eigenen Gefühle schildern und etwas ausschmücken.
Yin lag auf der Couch im Wohnzimmer. Er drehte ihr demonstrativ den Rücken zu und schmollte anscheinend.
Soll er ruhig!, dachte Anja. Es dreht sich eben nicht immer alles nur um ihn.
Da sie um neunzehn Uhr zum Essen verabredet war, verabschiedete sie sich von der beleidigten Katze, die sich allerdings nicht rührte, und verließ anschließend die Wohnung. Die nächste Nachricht des Todesengels wollte sie sich unterwegs auf ihrem Smartphone ansehen.
Als sie ihr Auto auf dem Parkplatz des Lokals abstellte, war es drei Minuten vor sieben und sie damit überpünktlich. Doch sie blieb im Wagen sitzen und überprüfte mit ihrem Mobiltelefon, ob die imaginäre Laura eine weitere Mail erhalten hatte. Das war nicht der Fall, deshalb wartete sie noch etwas länger.
Drei Minuten später war es dann soweit.
Herzlichen Glückwunsch, Laura, denn du hast auch die 5. Aufgabe erfolgreich absolviert.
Deine momentane Gefühlslage ist exakt so, wie sie sein soll. Du bist somit auf einem guten Weg. Und ich bin fest davon überzeugt, dass du alle 24 Aufgaben und damit die komplette »Suicide-Challenge« schaffen wirst.
Doch noch sind wir nicht soweit. Erst einmal kommt hier die 6. Aufgabe.
Hör dir in der nächsten Stunde ununterbrochen folgende Songs an, die du in der Anlage findest:
1. »Suicide is Painless« von Kassandra Manson.
2. »Suicidal Dream« von Silverchair.
3. »Commit Suicide« von GG Allin.
4. »Tourniquet« von Evanescence.
5. Und last, but noch least »Gloomy Sunday«.
Berichte mir hinterher abermals, wie du dich dabei gefühlt hast.
Anja war erleichtert, dass es wieder eine vergleichsweise harmlose Aufgabe war. Sie hatte natürlich nicht vor, sich die Songs eine Stunde lang ununterbrochen anzuhören. Danach wäre sie vermutlich tatsächlich so weit, wie Nemesis sie haben wollte, und damit eine potenzielle Selbstmordkandidatin. Im Gegenteil: Sie würde die Lieder überhaupt nicht anhören, da sie dafür momentan keine Zeit hatte. Später würde sie ihrem Todesengel einen Bericht schreiben, der dem ähnelte, den sie ihm bereits nach den Videos zugeschickt hatte.