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Andronikus war noch ein junger Mann, vielleicht vier Jahre älter als Junia. Er war hochgewachsen, mit langem, nur leicht gewelltem Haar, sein Bart war kurz gehalten, und da er sich auch nach Art der Griechen kleidete, wirkte er keinesfalls wie ein Jude, obwohl er einst beschnitten worden war und aus dem Stamm Benjamin stammte.

Andronikus hatte sich vor Jahren von den Predigten des Stephanus überzeugen lassen, und der hatte ihn auch getauft, kurz bevor er verhaftet wurde. Als nach dem Tod des Stephanus die meisten seiner Anhänger vor der Verfolgung durch den Hohen Rat aus Jerusalem flüchteten, war er zunächst untergetaucht. Er war damals ja noch ein Jüngling, kaum bekannt in der Gemeinde und wohl auch bei ihren Gegnern, und seine Eltern waren biedere Jerusalemer Bürger. Sie hatten ihn bei einem der vielen Schreiber in die Lehre gegeben, der für die Ungeschickten – und das waren die meisten – Verträge oder auch Gesuche an die Behörden aufsetzte. Letzteres geschah oft auch auf Griechisch, und so lernte Andronikus bald diese Sprache genauer.

Allerdings vermisste er die Gemeinschaft der Stephanusgemeinde, denn die Männer, die sich um Petrus und Johannes sammelten, forderten von allen, sich auch weiterhin den Gesetzen Israels zu unterwerfen. Eine Weile hielt er sich dennoch zu ihnen, schließlich war er in jüdischer Tradition aufgewachsen, und die Gebete im Tempel waren ihm seit seiner Kindheit vertraut. Aber Stephanus hatte ihn doch einen weiteren Blick gelehrt, das alles machte ihn unsicher.

Da kam ihm ein günstiges Geschick zu Hilfe: Als er für seinen Lehrmeister gerade einen Vertrag anfertigte, betrat ein Mann das Ladenlokal, dem man seinen Reichtum auf den ersten Blick ansah: Er trug nicht nur mehrere Ringe, sein lederner Gürtel war mit Silberplättchen beschlagen, ein großes Siegel hing ihm an einer Goldkette um den Hals. Der Fremde schaute dem jungen Mann neugierig über die Schulter, dann sagte er: „Du hast eine schöne Handschrift, mein Junge!“ Andronikus sah verwundert auf, Lob bekam er nur selten. Doch der Mann fuhr fort: „Kopierst du diesen Text, oder hast du ihn selbst entworfen?“ „Ich schreibe nur, was der Auftraggeber verlangt,“ sagte der Junge vorsichtig, doch dann ergänzte er: „Aber ich bemühe mich, es so zu formulieren, daß es zu seinen Gunsten ist.“

Inzwischen war der Schreiber selbst hinzugetreten, und Andronikus wandte sich wieder seiner Arbeit zu, während der Fremde mit dem Meister verhandelte. Doch dann rief er den Jungen und sagte: „Dieser Herr hier wünscht, daß du seine Verträge niederschreibst. Du sollst ihm in sein Haus folgen, dort liegt alles Material und auch Pergament und Feder. Zeig also, was du bei mir gelernt hast, und beschäme deinen Meister nicht!“

So kam Andronikus in das Haus eines Getreidehändlers. Er hatte mehrere Güter in Samaria und Galiläa unter Vertrag, die ihm die gesamte Weizenernte abgetreten hatten, und er belieferte damit drei oder vier römischen Garnisonen im Land – ein einträgliches Geschäft, wie der Junge rasch bemerkte, denn es ging dem Händler nicht nur um ein paar Verträge, sondern bald vertraute er Andronikus seinen gesamten Schriftverkehr an. Er hatte gesehen, daß der junge Mann verschwiegen und ehrlich war und niemals versuchte, für sich selbst etwas zu erreichen. So wurde er mit dem Lehrmeister des Jungen handelseinig und zahlte ihm eine entsprechende Summe, damit er ihm seinen Gesellen ganz überließ.

Andronikus wohnte jetzt im Hause seines Herrn, aber er diente ihm als freier Mann, erhielt auch einen guten Lohn. Der Getreidehändler merkte, daß sein neuer Sekretär nicht nur schön und geschickt zu schreiben verstand, sondern auch durchaus redegewandt war. So übertrug er ihm ab und an eine Verhandlung mit einem Kunden, wenn er selber unabkömmlich war und das Gespräch irgendwo in der Provinz stattfinden sollte. Es mochten etwa sechs Jahre vergangen sein, seitdem Andronikus für ihn arbeitete, da rief der Herr ihn in sein Arbeitszimmer.

„Ich habe inzwischen mancherlei Kontakte nach Syrien, wie du ja weißt,“ begann er. „Jerusalem ist schließlich nicht der Nabel der Welt, Antiochia ist da eine ganz andere Klasse. Aber die Stadt am Orontes ist weit, es braucht Tage, bis ein Schreiben dort eintrifft. Doch die Konkurrenz vor Ort ist groß, wenn ich in Antiochia Fuß fassen will, brauche ich einen Agenten, der in der Stadt lebt und dem ich vertrauen kann.“ Er machte eine Pause, dann fragte er ganz direkt: „Würdest du dir zutrauen, mich in Antiochia zu vertreten? Ich weiß, daß du mich nicht betrügen wirst, sondern redlich bist. Ich werde dir einen guten Lohn zahlen, damit du dort auch angemessen wohnen und dich kleiden kannst.“

Andronikus mußte wohl recht erstaunt und auch unsicher ausgesehen haben, deshalb legte der Patron ihm die Hand auf die Schulter und blickte ihn offen an: „Du musst jetzt nicht antworten, ein solcher Schritt will schließlich wohl bedacht sein. Laß dir also Zeit, und wenn du dich entschieden hast, dann sag es mir.“ Aber Andronikus hatte sich bereits entschieden. Waren nicht die meisten aus der Gemeinde des Stephanus nach Syrien geflohen; gab es nicht eine große Gemeinde gerade in Antiochia, dieser Metropole des Ostens? Was er kaum zu träumen gewagt hatte, jetzt könnte es Wirklichkeit werden: Er würde die Geschwister von einst dort wiedertreffen, er könnte wieder das Mahl mit ihnen feiern und endlich auch den Lehrern lauschen, die er solange vermisst hatte. Dennoch ließ er sich einen Tag Zeit, ehe er seinem Herrn zusagte.

Bald darauf schon kam der junge Jude Andronikus nach Antochia und nahm in einer Herberge Quartier. Noch ehe er sich eine Wohnung suchte, forschte er nach den Stephanusjüngern, die man hier in der Stadt allgemein „die Christen“ nannte. Barnabas und Lucius kannte er noch von früher, sie waren jetzt die Leiter der Gemeinde. So fragte er sich nach Lucius durch, der inzwischen auch im Rat des Stadtteils saß. Als er dessen Haus betrat, sah er zum ersten Mal jene junge Frau mit Namen Junia, ohne zu wissen, daß sie für viele Jahre miteinander leben und arbeiten würden. Junia war hoch aufgeschossen, fast noch größer als Andronikus, sie hatte ein schmales Gesicht, auch ihre Gestalt war schlank, fast konnte man sie mager nennen. Ihr dunkles Haar war unter einem Schleier verborgen.

Erst glaubte er, eine Sklavin vor sich zu haben, und bat sie, ihn ihrem Herrn zu melden. Sie lächelte ihn an: „Melden will ich dich gerne, Fremder, aber wenn du Lucius meinst – er ist nicht mein Herr und auch nicht mein Patron.“ Sie führte ihn in einen kleinen Raum, das Haus des Lucius besaß zwar ein Peristyl, doch der Hof war eng und ohne Säulen, nur zum Triclinium hin wurde die Öffnung von einer schmalen Säule geteilt. „Warte hier, bitte,“ sagte die junge Frau und zeigte auf eine Kline an der Wand. „Sagst du mir auch deinen Namen, damit ich dich Bruder Lucius melden kann?“ Andronicus blickte sie an: „Du nennst ihn Bruder? Dann bist du eine Schwester, nicht wahr, getauft auf den Namen unseres Herrn?“

Junia nickte, dann antwortete sie mit einem Anflug von Ironie: „Wenn du mir schon deinen verschweigst, will ich dir doch meinen Namen nennen: Ja, ich bin getauft. Ich heiße Junia, und ich bin die Tochter des Chusa und der Johanna aus Magdala.“ Andronikus errötete ein wenig. „Entschuldige, ich war nur so froh, endlich wieder Brüder und Schwestern zu treffen. Ich bin Andronikus, und ich komme aus Jerusalem. Allerdings nicht von den Brüdern um Petrus und den Söhnen des Zebedäus geschickt, sondern in einer geschäftlichen Angelegenheit für meinen Patron. Aber ich werde wohl einige Zeit hier in Antiochia bleiben, und ich freue mich, die Geschwister wieder zu treffen, die damals Jerusalem verlassen mussten. Denn auch ich bin getauft – von Stephanus, der für den Herrn gestorben ist.“

„Ja“, sagte Junia, „wir haben davon gehört. Es war eine schreckliche Nachricht für uns alle. Ich war damals noch ein Kind, da hatte ich kaum begriffen, was mit ihm geschehen war. Aber ich bin ihm ein oder zweimal in Jerusalem begegnet, daran erinnere ich mich noch gut. Und du hast Stephanus näher gekannt?“ Der junge Mann nickte zustimmend: „Er hat mir die Augen geöffnet für den Glauben,“ sagte er. „Aber auch ich war noch sehr jung damals und habe vieles nicht verstanden. Doch hier bei euch werde ich sicher gute Lehrer finden.“ „Bruder Lucius ist einer von ihnen,“ gab Junia zurück, um dann die Hand zu heben: „Entschuldige, Bruder... Andronikus, nicht wahr? Wir schwatzen hier miteinander, und dabei sollte ich ihm endlich deine Ankunft mitteilen.“ Sie wandte sich um und lief aus dem Raum, während der junge Mann sich auf der Kline niederließ.

Einen Augenblick später brachte ein Sklave – oder auch ein Freigelassener – ein Tischchen mit einem Becher Wein und einer Schale mit Früchten. „Der Herr wird gleich zu dir kommen,“ sagte er. „Junia bittet dich, du mögest dich erst einmal stärken. Du wirst hungrig und durstig sein.“

Die Vergessenen

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