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Sobald der Schnee auf dem Amenosgebirge weitgehend abgeschmolzen war, rüsteten Androklus und Junia zum Aufbruch. Marcius, ein ehemaliger Sklave aus dem Hause des Lucius würde sie begleiten. Er war ein getauftes Mitglied der Christengemeinde, ein Mann, der aus Kappadokien stammte und dort in Schuldhaft gekommen war, den Lucius des gemeinsamen Glaubens wegen gekauft hatte und den er nun für diesen Dienst freigelassen hatte. Er würde vor allem beim Transport des notwendigen Gepäcks helfen, außerdem könnte er auch als Dolmetscher dienen, denn nicht in allen abgelegenen Bergregionen wurde griechisch gesprochen und verstanden.

Andronikus hatte in mehreren Briefen Abschied genommen von seinem Geschäftspartner in Jerusalem, der ihn nur mit großem Bedauern ziehen ließ. Doch Andronikus hatte einen Bruder in der Gemeinde gefunden, der gerne bereit war, in seiner Vertretung gegen einen angemessenen Lohn die laufenden Geschäfte weiterzuführen, die Oliven- und Weizenlieferungen zu kontrollieren und weiterzuleiten. Auch wenn er keine neuen Kunden werben sollte, so wollte Andronikus seinem Gönner und Auftraggeber doch die bisherigen Einkünfte sichern.

Die letzte Versammlung der Gemeinde kam heran, das letzte gemeinsame Mahl, um das die beiden so gestritten hatten. Nun beteten alle für die drei Reisenden, die Lehrer und Ältesten legten ihnen die Hände auf, damit sie mit dem Segen des Herrn loswandern könnten. Am nächsten Morgen begleiteten sie dann noch viele aus der Gemeinde aus der Stadt hinaus und über den Orontes, ehe man sie endgültig ziehen ließ. Von nun an waren die drei ganz auf sich selbst gestellt. Sie hatten sich zunächst einer Handelskarawane angeschlossen, die am Fuße des Amenosgebirges nach Norden zog mit der Absicht, ins syrische Nikopolis zu gelangen. Androklus und Junia hatten sich für eine Reise in Richtung Kappadokien entschieden, da Barnabas und Paulus nach Kilikien und Pamphylien aufgebrochen waren. Ein festes Ziel gab es nicht, Junia vertraute auf den Geist des Herrn, der ihnen den Weg weisen würde.

Noch zog sich die Straße durch die Ebene dahin, von weitläufigen Olivenhainen gesäumt, dazwischen frisch bestellte Weizenfelder und Gruppen von Dattelpalmen. Das meiste Land gehörte hier Großgrundbesitzern, deren Landhäuser abseits von der Straße im Schatten der Palmen lagen. Nachts rasteten sie in den Karawanenherbergen, die in den Dörfern zu finden waren. Das stundenlange Wandern war allen drei ungewohnt, und auch wenn vor allem Junia die Füße schmerzten, so hielt sie doch Schritt mit den Männern und den Maultieren der Karawane, die das Tempo vorgaben. Noch war die Luft mild, die Nächte eher kühl, der Frühling ließ sich Zeit. Für die Reisenden war dieses Wetter von Vorteil, und die Bäche, die den geschmolzenen Schnee von den Berghängen ins Tal brachten, boten ihnen klares, kühles Wasser zur Erfrischung.

Dennoch blieben sie einige Tage in Nikopolis, um sich zu erholen, denn der weitere Weg würde sie hinauf in die Berge führen. Nikopolis hatte weder eine jüdische noch eine christliche Gemeinde, also nahmen sie in einer Herberge Zuflucht. Marcius, ihr Begleiter und Freund, erkundete inzwischen, welche Händler in der Stadt waren und welchen Weg sie nehmen würden. Es war ihnen klar, daß sie keinesfalls alleine aufbrechen könnten, zu unwegsam war das Gelände, zu gefährlich wäre es auch, ohne den Schutz einer größeren Gruppe zu reisen. Am vierten Tag kam Marcius mit einer guten Nachricht in die Herberge zurück: Eine große Karawane mit mehreren Kaufleuten und ihrer Begleitung würde in Kürze nach Melitene aufbrechen, das die Römer Melatia nannten. Die Stadt lag ganz im Osten der Provinz Kappadokien, nahe der Grenze des Imperiums und war nicht nur Sitz einer römischen Besatzung, sondern auch ein wichtiger Handelsstützpunkt. Dort hofften sie zugleich eine jüdische Gemeinde zu finden als Ausgangspunkt für die Verkündigung der Botschaft. „Es ist der Geist des Herrn, der uns führt,“ sagte Junia mit Nachdruck. „Wir sollten uns der Karawane anschließen.“ Und die beiden Männer stimmten zu.

Doch der Weg dorthin sollte für sie alle beschwerlich werden, denn bald führte er sie ins Gebirge hinauf, wo die letzten Schneefelder zwischen steilen Felswänden und weiten Geröllhalden in der Sonne glänzten, so daß die Augen zu schmerzen begannen. Die Kleider verfingen sich in dem zwar niedrigen, aber oft dichten Gestrüpp, und bald blies ihnen auch ein eisig kalter Wind ins Gesicht, während die Füße mühsam nach einem festen Halt auf dem Pfad suchten. Allein die Maulesel schritten gleichmütig voran, trotz der schweren Lasten, die man ihnen aufgeladen hatte. Marcius sorgte dafür, daß nun auch das Gepäck der drei einem der Tiere aufgepackt wurde, und Andronikus zahlte bereitwillig dafür, daß ihre Füße nur noch sie selbst zu tragen hatten.

Nicht immer fand sich eine Herberge an diesem Weg, oft mussten sie unter dem Sternenhimmel nächtigen, fest eingehüllt in den Kapuzenmantel, den sie nun über dem Obergewand trugen. Als sie am fünften Tag gerade noch rechtzeitig vor dem Einbruch der Nacht in einer kleinen Karawanserei einkehren konnten, war Andronikus froh, wenigsten eine kleine Kammer mit einer Liege mieten zu können. Junia war todmüde von den Anstrengungen des Tages, erschöpft sank sie auf die Liege, und Andronikus legte sich vorsichtig neben seine Frau. Sie hatte sich im Schlaf zur Seite gedreht, er spürte ihren warmen Körper neben dem seinen, ihr Kopf war an seine Schulter gelehnt. Ganz still lag er da, um sie nicht zu wecken. Noch nie war sie ihm so nahe gewesen, noch nie hatte er so stark die Zuneigung gespürt, die er für Junia empfand. Sie war seine Frau und war doch nur seine Schwester im Herrn. Niemals würde er sie berühren, wie er es gelobt hatte, solange sie ihn nicht selbst von diesem Versprechen lösen würde. Aber sie lieben und beschützen, ob nun als Weib oder als Schwester, das würde er, und Gott würde ihm beistehen.

Am nächsten Morgen trat Marcius auf die beiden zu: „Ich habe mit den Sklaven hier gesprochen. Sie alle sagen, daß die kommende Wegstrecke über den Kamm des Gebirges führt, daß der Pfad oft nur sehr schmal ist und an Abgründen entlang führt. Es wird also eine beschwerliche und auch gefährliche Wanderung sein. Das sagt auch der Wirt, und er hat mir angeboten, uns für dich, Schwester Junia, ein Maultier mit einem erfahrenen Führer für diesen Tag zu vermieten. Er könnte dann morgen zurückkehren, wenn wir die Höhe überwunden haben. Ich weiß, liebe Junia, es widerstrebt dir, besondere Rechte in Anspruch zu nehmen, aber ich bitte dich, dieses Angebot nicht auszuschlagen.“

Junia zögerte, er hatte recht: Sie wollte sich nicht von den anderen unterscheiden. Aber sie wusste auch, daß ihr ein schmaler Weg entlang von steil abfallenden Felswänden Schwindel bereiten würde. Durfte sie sich allein aus Stolz in Gefahr bringen? Sie blickte Androklus fragend an. „Du solltest das Angebot annehmen, Junia,“ sagte dieser, und als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte er leise hinzu: „Wir sollten den Herrn nicht versuchen.“ Da willigte sie ein, und Marcius eilte fort, um die Angelegenheit mit dem Wirt zu regeln. „Aber ich werde erst aufsteigen, wenn die Vernunft es verlangt,“ sagte sie mit fester Stimme. „Solange mag das Tier all das tragen, was uns jetzt noch belastet.“

Nach etwa zwei Stunden hatten sie die Höhe des Gebirges erreicht, und nun sahen alle drei, daß die Warnungen berechtigt waren. Selbst die Tiere gingen jetzt langsam und achtsam, setzten die Hufe vorsichtig auf und drängten sich an die Felswand, wenn der Pfad schmal wurde und seitlich die Tiefe gähnte. Junia ritt nun auf ihrem Maultier, manchmal klammerte sie sich an dessen Mähne fest, vor allem aber vermied sie es, in den Abgrund zu blicken. Aber das Reittier war diesen Weg gewöhnt, und der Führer ging mit festem Schritt voraus. Dennoch sandte Junia ein stilles Dankgebet zum Himmel, als der Weg sich wieder weitete und eine Senke zwischen zwei Höhen durchquerte. Der Führer wandte sich um und lachte freundlich: „Wir haben den Paß erreicht, jetzt geht es bequemer abwärts.“

Junia schaute nach Androklus. Er war die ganze Zeit dicht hinter ihr gewesen, sie hatte seinen schwer gehenden Atem gehört. Und sie erblickte auch die Schweißtropfen, die von seiner Stirn herabperlten. Aber er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Der schlimmste Teil des Weges lag jetzt offensichtlich hinter ihnen. Schon wollte sie absteigen und das Tier mit seinem Führer zurückschicken, doch Marcius mahnte: „Schone deine Kräfte, Junia, es wird noch Tage dauern, bis wir Melitene erreichen. Du kannst deine Füße noch genug gebrauchen.“ Und er sollte recht behalten. Nun quälten sie nicht so sehr die Gefahren des Weges, sondern die Sonne, die immer mehr Kraft gewann, ohne daß Felswände oder gar Bäume Schatten spendeten.

Die Vergessenen

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