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Junia blieb überrascht stehen, fast hätte sie einen kleinen Schrei ausgestoßen: Zu ihren Füßen erstreckte sich ein weites Feld, übersäht mit weißen Margeriten. Nun lag das Gebirge endgültig hinter ihnen, und vor ihnen die Ebene von Melitene. „Schaut nur,“ sagte sie bewegt zu ihren beiden Begleitern, „der Herr hat uns einen kostbaren Teppich zum Empfang ausgebreitet. Ist er nicht wunderschön? Laßt ihn uns zum Zeichen nehmen, daß wir und unsere Botschaft hier willkommen sind.“ Androklus war hinter sie getreten und hatte ihr die Rechte auf die Schulter gelegt: „Ja, Junia, es ist ein prächtigen Anblick, nach all den Felsen und dem Schnee dort oben vom Frühling begrüßt zu werden. Wie wird es erst sein, wenn unser Herr wiederkommt und diese Welt verwandelt in den Garten Gottes, den wir einst verloren haben!“

Auch die Händler und ihre Maultiertreiber und Diener waren stehengeblieben. Wie oft waren sie diesen Weg schon gezogen, doch stets war dies ein besonderer Augenblick auf ihren Reisen. Dann aber hieß es, sich zu beeilen, um noch vor Sonnenuntergang die Stadt zu erreichen. Auch die drei Antiochener nahmen zunächst einmal Quartier in der Herberge, und Marcius erkundete dort, ob und wo es eine Synagoge oder eine Versammlungsstätte von Juden in der Stadt gäbe. Bald kam er mit der Auskunft zurück, Miletene hätte eine durchaus zahlreiche Judenschaft mit einer eigenen Synagoge. Es seien überwiegend griechisch sprechende Männer, meist Handwerker im Basar und durchaus auch angesehen unter den anderen Bewohnern. Sonst gäbe es die üblichen Tempel; vor allem die Soldaten aus dem Legionslager würden den Jupiter Dolichenus verehren, der aber eigentlich der syrische Baal wäre.

In zwei Tagen würde der Sabbat sein, so beschlossen die drei, dann die jüdische Feier aufzusuchen. Auch Barnabas und Paulus hätten auf diese Weise ihre Mission begonnen. Während Androklus und Marcius sich in den Versammlungssaal begaben, stieg Junia die Treppe zur Frauenempore hinauf. Kein Vorhang trennte diesen Raum vom Saal dort unten, alle hatten freie Sicht auf das Geschehen vor dem Thoraschrein. Junia war erstaunt über die große Zahl der Frauen, ein paar vorsichtige Fragen ergaben, daß viele von ihnen zu den Legionären gehörten. Den Soldaten war zwar die Heirat während ihrer Dienstzeit untersagt, doch die meisten hatten durchaus Frauen und auch Kinder, und da Teile der Legion nun schon vor einigen Jahren aus Syrien hierher verlegt waren, lebten auch die Familien in der Nähe des Castrums. Und es waren oft jüdische Frauen, oder doch solche, die dem jüdischen Glauben nahestanden, die es nach Miletene verschlagen hatte.

Wie es in den meisten Gemeinden Sitte war, wurde es Gästen eingeräumt, eine der Lesungen zu übernehmen und dazu auch etwas zu sagen. So hatte Androklus Gelegenheit, sich vorzustellen. Dabei betonte er seine Herkunft aus Jerusalem, was allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Nur mit wenigen Sätzen deutete er an, daß dort Wichtiges geschehen sei, was die Hoffnung des Volkes auf den verheißenen Retter betraf. Den Namen des Jesus von Nazareth und seine Kreuzigung erwähnte er jedoch noch nicht - römische Soldaten kannten die Verbrechen, die mit dem Tod am Kreuz geahndet wurden, und hier in Miletene dann sicher auch die anderen Bewohner. Jedenfalls bat man ihn, doch später Näheres zu berichten, und Androklus versprach es.

Zurück in der Herberge, beratschlagten die drei, wie sie nun weiter verfahren sollten. „Es könnte viel Zeit vergehen, ehe wir eine Gemeinde gründen können und auch jemand finden, der sie beherbergt,“ meinte Androklus. „Wir sollten unser Geld dafür nutzen, ein Haus mit einem Saal zu mieten, in den wir alle einladen könnten, die für die Botschaft aufgeschlossen sind.“ Junia stimmte zu: „Es wird kaum möglich sein, daß ich in der Synagoge zu den Frauen oder gar den Männern reden kann,“ meinte sie nachdenklich, „da wäre ein anderer Ort sicher besser geeignet. Und dort könnten wir auch das Mahl feiern. Ich vermisse es sehr, daß wir drei nun schon so viele Tage miteinander unterwegs sind und zwar miteinander gebetet haben, doch noch nie das Brot gebrochen und den Kelch geteilt haben.

So machte Marcius sich auf, nach einem passenden Haus zu suchen. Auch wenn hier in der Stadt alle griechisch sprachen, war es doch ein Vorteil, auch die Landessprache zu gebrauchen; das schuf Vertrauen gegenüber diesen Fremden aus dem fernen Antiochia. Nach einigen Tagen hatte er etwas passendes gefunden, und die drei konnten die Herberge verlassen und dort Wohnung nehmen.

Die nächsten Sabbatfeiern nutzte Androklus, langsam und behutsam mehr von dem Christus zu erzählen, den Gott zur Rettung nicht nur seines erwählten Volkes, sondern auch aller Gläubigen aus den anderen Völkern gesandt hatte. Viele hörten ihm aufmerksam zu, und nach vier Wochen schien ihm die Zeit reif, in sein Haus einzuladen, damit sie Näheres erfahren könnten. Es war durchaus eine große Zahl, die sich zur vereinbarten Stunde einfand. So konnte er die Botschaft ausführlicher entfalten und begründen, warum jener Jesus der verheißene Christus Gottes ist. Dann aber kam endlich Junias Stunde. Zu lange schon hatte sie schweigen müssen, nun war die Zeit gekommen zu reden:

„Liebe Freunde, Andronikus hat euch verkündet, daß Jesus der Christus ist, den Gott der Welt zur Rettung gesandt hat. Darum lasst mich euch von diesem Jesus erzählen, denn ich habe ihn gekannt, als Kind zwar, aber ich bin ihm begegnet und er hat mich gesegnet. Ja, er hat uns Kinder lieb gehabt und die Hände aufgelegt, denn Kinder, so hat er einmal gesagt, sind allen ein Vorbild, weil sie Vertrauen haben, weil sie noch keine große Taten der Frömmigkeit vorweisen können und dennoch geliebt werden. Nicht nur von ihren Eltern, sondern von unserem Vater im Himmel. So hat er uns die Barmherzigkeit Gottes verkündet, die jedem gilt, der sich ihr anvertraut. Einmal, so haben die Großen mir damals erzählt, sei eine Frau aus Tyrus zu ihm gekommen, ein Heidin also, und hat ihn um Hilfe gebeten für ihre kranke Tochter. Und er hat sich von ihrem Glauben überwinden lassen. Ja, der Herr war ein frommer Jude, und doch hat er das Gesetz gebrochen, wann immer die Barmherzigkeit es ihm befahl. Denn nicht der Sabbat oder die Speisen entscheiden darüber, wer in das himmlische Reich unseres Gottes eingehen wird, sondern allein unser Vertrauen auf diese Barmherzigkeit. Deshalb ist die Liebe das eigentliche Gesetz, das Gesetz des Christus Jesus. Und diese Liebe verkündige ich euch. Denn darum ist Jesus auch gestorben und von Gott von den Toten auferweckt worden, damit wir das glauben, ob wir nun aus dem Volk der Juden stammen oder aus einem anderen Volk.“

Junia hielt inne, sie sah, wie groß die Bewegung unter ihren Zuhörern war. „Ich sehe,“ sagte sie, „daß viele von euch Fragen haben, und gerne wollen wir, Andronikus und auch ich, darauf antworten.“ Sie blickte in die Runde, doch es dauerte seine Zeit, bis die ersten sich zu Wort meldeten. Schließlich war niemand daran gewöhnt, solche Dinge offen auszusprechen, eigene Gefühle zu bekennen, Ratlosigkeit zu äußern oder gar Kritik vorzubringen. All das war Sache des Rabbis, und der war nicht erschienen. Und Pharisäer wie in der jüdischen Heimat oder den großen Städten gab es hier im fernen Miletene nicht, um über die Auslegung all der vielen Vorschriften der Thora zu diskutieren.

Nach und nach aber kam doch ein Gespräch zustande, und es war vor allem Junia, die hinter den verschiedenen Fragen auch manche seelische Not erkannte und versuchte, zu helfen und zu trösten. Plötzlich hielt sie inne und fragte in die Runde: „Es sind hier doch weit mehr Frauen als Männer versammelt; aber keine von ihnen hat sich bisher zu Wort gemeldet. Warum schweigt ihr eigentlich, liebe Schwestern? Seht, unser Herr hat mit den Frauen ebenso ernsthaft geredet wie mit den Männern, Frauen haben ihn auf seinem Weg begleitet – ich weiß es, denn meine eigene Mutter ist manchmal wochenlang mit ihm gezogen, und sie war es auch, die mit anderen Frauen als erste die Botschaft von seiner Auferweckung erhielt und den Jüngern davon berichtete. Und ich bin gewiß, auch ihr habt Fragen, habt eine Meinung.“

Da war endlich das Eis gebrochen, und die Sonne war längst untergegangen, als die letzten Gäste das Haus verließen. Andronikus umarmte seine Frau: „Du hast heute mehr erreicht als ich in all den vergangenen Wochen in der Synagoge!“ Junia mußte lachen: „Es war aber auch leichter hier, mein Lieber. Wo ich offen reden konnte, musstest du geschickt deine Worte wählen. Und das kannst du besser als ich.“

Als sich ihre Gäste zum nächsten Mal in ihrem Hause versammelten, bemerkten sie, wie sehr ihre Worte diese Menschen bewegt hatten. Und wie gut sie darüber nachgedacht hatten. Gleich zu Beginn fragte ein älterer grauhaariger Mann: „Ihr habt gesagt, wenn jemand sich zu dem Christus bekennt, dann solle er sich taufen lassen. Das sei das Zeichen für seine Rettung. Habe ich das richtig verstanden?“ Und als Andronikus bejahte, fuhr er fort: „Wir alle sind doch nach dem Gebot des Allmächtigen beschnitten worden. Ist das nicht seit alters das Zeichen dafür, daß wir zum erwählten Volk gehören? Wo ist da der Unterschied zu dieser Taufe, von der ihr redet?“

Andronikus blickte Junia an, doch sie nickte ihm zu, er solle antworten. So sagte er dann: „Auch ich bin einmal beschnitten worden, bin ein Jude wie du. Doch da sind zwei Unterschiede, und die sind von großer Bedeutung: Einer ist ganz offensichtlich: Beschnitten werden kann nur, wer männlich ist. Auf Christus taufen wir beide, Frauen wie Männer. Damit wird allen sichtbar, daß beide vor Gott gleich gelten, so wie es Junia von unserem Herrn, von Jesus berichtet hat. Der zweite Unterschied ist schwieriger zu erklären, aber ich will es versuchen. Du wirst mir darin zustimmen, daß unsere Beschneidung uns verpflichtet, nach dem Gesetz Gottes zu leben – und zwar nach dem ganzen Gesetz. Nur der, dem das gelingt, wäre ein Gerechter in den Augen Gottes. Aber hat es das jemals gegeben? Ich will es mit einem Beispiel sagen. Wir schauen gerne in einen Spiegel, um zu sehen, ob wir uns unter die Leute wagen können. Aber wenn Gott uns mit seinem Gesetz den Spiegel vorhält, was können wir anderes tun als vor Scham zu erröten? Wer könnte sich rühmen, alle Vorschriften erfüllt zu haben? Dann aber kann uns die Thora auch nicht retten vor dem Zorn Gottes. Retten kann uns nur die Barmherzigkeit des Allmächtigen, der seine Kinder liebt und ihnen nachgeht wie ein guter Hirte einem verlorengegangenen Schaf nachgeht, um es vor dem Verdursten zu retten. So hat es einmal Jesus selbst gesagt. Denn er hat uns diese Barmherzigkeit Gottes verkündet, und er ist für sie gestorben am Kreuz. Das ist die gute Nachricht, die wir euch weitersagen wollen: Wer ihr vertraut, wer dem Christus Gottes vertraut, ihm sich anvertraut, der ist gerettet. Und die Taufe bestätigt das: Du gehörst zum Christus Jesus, dir gilt nun die Barmherzigkeit, die Liebe Gottes, du bist gerettet!“

Es war nun ganz still in dem kleinen Saal. Andronikus hatte das Entscheidende gesagt, und jeder mußte sich fragen: Will ich das für mich selber annehmen? Junia spürte, wie viele mit sich selber rangen. Jetzt war der Augenblick, sie für die Wahrheit zu gewinnen. Jetzt mußte sie reden: „Seht, liebe Schwestern und Brüder,“ begann sie, „es gibt noch ein anderes Zeichen dafür, daß wir gerettet sind. Als unser Herr noch mit seinen Freunden und Schülern durch Galiläa zog, da hat er oft mit ihnen, aber auch mit vielen anderen das abendliche Mahl gefeiert. Und am Tisch saßen nicht nur fromme und ehrbare Menschen, er lud alle ein – selbst die Zöllner, die die gesetzestreuen Juden verachten, selbst eine Hure oder sonst sündige Menschen. Er wollte sie ja alle zum Vater zurückbringen, weil der Vater sie alle liebhat – nicht ihre Sünde, aber sie selbst. Und darum hat er mit ihnen so gefeiert, als wäre das schon das himmlische Mahl in der Vollendung der Herrschaft Gottes. Und ehe er in den Tod ging, hat er seine Freunde aufgefordert, dieses Mahl auch weiter zu feiern im Gedenken an ihn und an seinen Tod, weil das auch dann noch gilt: Es ist das Zeichen für jenes Mahl am Tisch unseres Gottes. Wenn wir es feiern in seinem Namen, dann bleibt es dieses Zeichen. Dann nimmt es uns hinein in die Barmherzigkeit Gottes. Wer immer sich taufen lässt, kann dieses Mahl feiern, kann das Brot brechen, das ihn an den Tod des Herrn erinnert, der für ihn gestorben ist, kann aus dem Kelch trinken, der uns alle in der Liebe zu Gott und zueinander verbindet. In diesem Mahl ist der Herr, der Christus Gottes, selbst gegenwärtig.“

Da stand der Grauhaarige auf und trat nach vorn: „Ich glaube, daß ihr recht habt, daß der Christus wirklich gekommen ist und uns retten will. Darum möchte ich getauft werden. Das werdet ihr doch tun, nicht wahr?“ Nun meldeten sich auch noch drei, vier andere Männer, und nach einer Weile trat auch eine Frau vor: „Ich bin nur eine Freigelassene, werdet ihr mich dennoch taufen?“ Junia fasste sie an beiden Händen: „Gott macht keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen seinem erwählten Volk und den anderen Völkern. Wie sollte er da Unterschiede machen, ob jemand frei ist oder Sklave, von hohem Ansehen oder niederem Stand? Wenn du dich dem Herrn anvertraust, Schwester, wird dir niemand die Taufe verweigern.“

Die vielen anderen Zuhörer zögerten noch, und die drei Antiochener bedrängten sie nicht. „Ihr seid alle herzlich eingeladen, wiederzukommen,“ sagte Andronikus, „es ist in Ordnung, wenn ihr erst bedenken wollt, was wir euch gesagt haben, und wenn ihr noch manche Fragen habt. Wir werden euch antworten, so gut wir können, damit ihr euch vielleicht später entscheiden könnt. Unser Haus steht euch jedenfalls offen.“

Die Vergessenen

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