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Am 23. Tag des Monats Cheswan im Jahr 3753 (6. November)

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Ich weiß nicht, wie er hereingekommen ist; die Tür hat jedenfalls nicht geknarrt, und das tut sie doch meistens. Jedenfalls stand er plötzlich da, mitten in dem halbdunklen Raum, als ich mich umdrehte. Ich war zu Tode erschrocken: Ein Fremder in unserem Haus, ein Unbekannter, ein Mann, und ich war ganz allein mit ihm! Schon das war höchst unschicklich. Und ausgerechnet in diesem Augenblick. Ich war nämlich gerade dabei, den Wein zu keltern. Mit bloßen Füßen stand ich dort im Bottich, um die Trauben zu zertreten, den Rock hatte ich aufgeschürzt bis zum Knie, und so konnte er mich sehen.

Eigentlich hätte ich jetzt laut schreien müssen, um später meine Unschuld zu beweisen, aber irgendetwas hinderte mich. War es sein offener Blick, sein freundliches Lächeln, seine zum Gruß erhobene Hand? Außerdem war niemand in der Nähe, das wusste ich. Mein Vater und meine Brüder waren draußen im Weinberg, um Trauben zu pflücken, und meine große Schwester war gerade mit dem leeren Korb hinausgegangen, um die nächste Tracht zu holen. Wer hätte mich hören können? Der ganze Ort war mit der Ernte beschäftigt, und Josef im Nachbarhaus erledigte seit Tagen einen Auftrag in einem Nachbardorf. Das hatten die Brüder erzählt.

Es schien, als hätte der Fremde das genau gewusst, als wollte er unbedingt allein mit mir sprechen. Und auch das war ungehörig. Man redete nicht mit einer Frau, unbeobachtet in einem leeren Haus, jedenfalls niemand, der nicht zur Verwandtschaft gehörte. Das ist gegen alle Regeln von Anstand und Sitte. Männer haben im Frauengemach nichts zu suchen, das wusste doch jeder! Er aber grüßte mich, sprach mich einfach an. Auch das verwirrte mich. Allein dieser Gruß! Ich erinnere mich genau an diese Worte, denn noch nie hatte jemand so mit mir geredet, mit diesem dummen kleinen Mädchen, das noch nicht einmal verheiratet war, sondern nur erst einem Mann versprochen.

„Sei gegrüßt, Mirjam,“ sagte er ganz ruhig, mit einer merkwürdig sanft klingenden Stimme, „sei gegrüßt, denn du stehst in der Gnade Gottes.“ Und wieder erschrak ich: Woher kannte er meinen Namen? Und wieso sollte ich in der Gnade des Allerhöchsten stehen, gelobt sei sein unaussprechlich heiliger Name? Ja, ich erschrak, und zugleich durchzog mich ein merkwürdiger Schauer. Ich fühlte mich plötzlich ernst genommen, angenommen. Wie soll ich es ausdrücken? Die kleine Mirjam, dieses unwissende Ding, war es wert, angeredet zu werden. Die Gnade, die Aufmerksamkeit unseres Gottes sollte nicht nur den Männern gelten, sondern auch mir, der Frau. Und so wie sie seine Söhne waren, war auch ich seine Tochter. Alle sind wir Kinder des einen Schöpfers!

Das war so überraschend, so neu, so wunderbar, daß ich kaum wirklich verstand, was er dann weiter zu mir sagte. Damals jedenfalls. Ich sollte ein Kind bekommen. Dabei war doch die versprochene Ehe mit Josef, unserem Nachbarn, noch gar nicht vollzogen. Nun ja, wir sollten in Kürze heiraten, das hatten der Vater mit ihm so vereinbart. Natürlich hat mich niemand gefragt, so etwas war Sache der Männer, und wir Frauen hatten uns zu fügen. So ist das eben bei uns hier in Nazareth, und nicht nur dort. So ist es in unserem Volk. So ist das Gesetz in Israel, und stets galt es als ein Gesetz Gottes. Doch plötzlich war es nicht mehr selbstverständlich für mich. Plötzlich hatte ich meinen eigenen Wert entdeckt, plötzlich war das nicht mehr Gottes Gesetz, sondern eine menschliche Ordnung, von Männern erdacht und für Männer gemacht.

Nie hatte ich darüber nachgedacht, stets hatte ich alle Ordnung einfach hingenommen, mich gefügt. Doch in dieser Stunde, während ich da mit meinen bloßen Beinen im Saft der Trauben stand, während ich noch diesem Gruß nachlauschte, hatte ich es erkannt, ein für alle Mal erkannt: Ich bin Ich selbst, denn ich bin wertvoll vor Gott! Ich, Mirjam, das unwissende kleine Mädchen aus diesem unbedeutenden Dorf in den Bergen von Galiläa. Auch ich lebe in der Gnade, im Glanz unseres Gottes. Welch ein Gruß war das, den dieser Fremde mir da entboten hatte!


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