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5. Kislew des Jahres 3753 (18. November)

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Heute ist Josef beim Vater gewesen. Sie haben einen Termin abgesprochen für die Hochzeit. Vater hat es mir nachher gesagt, und er hat mich dabei in den Arm genommen. Das hat er lange nicht mehr getan, ja, eigentlich nicht mehr, seitdem ich kein kleines Mädchen mehr bin. Aber er hat mich auf die Stirn geküsst und mir alles Gute gewünscht. Und es war auch etwas Wehmut in seiner Stimme, da bin ich ganz sicher. Nein, nicht, weil ihm nun eine Arbeitskraft im Hause fehlt, nachdem die Mutter so früh gestorben ist, sondern weil er etwas fortgeben muß, was ihm lieb ist. Und ich habe auch ein wenig geweint. Doch ich werde ja bei Josef wohnen, gleich nebenan, und er wird es sicher erlauben, daß ich meinen Vater und meine Geschwister besuche.

Manchmal frage ich mich, ob ich alles nur geträumt habe – den Fremden in unserem Hause, seinen Gruß, seine Botschaft. Aber ich habe jetzt so viele neue Gedanken, die mir vorher nie in den Sinn gekommen sind, ich empfinde so sehr meine Freiheit, und ich weiß mich seitdem so geborgen in der Liebe Gottes - das muß schließlich seinen Grund haben. Ich war bislang nicht besonders fromm, nein, das kann ich nicht behaupten. Sicher, ich lebte ganz in den vielen Traditionen unseres Volkes, ich habe die Gebete in der Synagoge stets in meinem Herzen mitgesprochen. Doch das war eigentlich selbstverständlich, und es gehörte zu meinem Leben wie all das Alltägliche um mich herum, es hat mich nicht besonders berührt, und ich habe auch selten darüber nachgedacht.

Schließlich habe ich keinen Unterricht bekommen beim Rabbi wie meine Brüder, musste nicht die Tora vorlesen lernen und damit sicher auch besser verstehen. Ich habe nichts gelernt außer dem, was eine Frau wissen muß, um den Haushalt zu führen, um Ehefrau und Mutter zu sein. Solange die Mutter lebte, bin ich bei ihr in die Lehre gegangen, und danach war es die große Schwester, die mich unterwiesen hat. Doch nun ist das anders geworden. Ich werde einen Sohn bekommen, und er wird eine große Aufgabe zu erfüllen haben. Darauf muß ich ihn vorbereiten. Sicher, der Fremde hat gesagt, daß Gottes Geist auf ihm ruhen wird. Aber hat er nicht auch gesagt, daß eben dieser Geist auch mich überschattet?

Manchmal macht mir das alles Angst, aber dann fühle ich auch wieder, wie stark schon jetzt Gottes Nähe ist. Ja, das hatte ich doch empfunden, an jenem Tage, als der Bote zu mir kam: Daß dieser unbegreiflich erhabene, unendlich ferne Schöpfer mir ganz nahe gekommen ist, daß diese unbegreiflich lebendige Kraft plötzlich auch mein kleines Leben erfüllt. Das hat mich mit Schrecken erfüllt, wie früher auch die Propheten zu Tode erschrocken waren, als sie berufen wurden. Aber es hat mich zugleich mit einer wunderbaren Freude erfüllt, die ich kaum beschreiben kann. Ich glaube, ich habe es damals laut gerufen: „Ja, ich will! Ich will dir dienen, Gott!“ Und der Fremde hat gelächelt, daran erinnere ich mich genau.


Mirjam - Tagebuch

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