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1. Kislew des Jahres 3753 (13. November)

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Nun ist bereits eine Woche vergangen seit dieser merkwürdigen Begegnung. Der Fremde war an jenem Tage rasch wieder gegangen, hatte die Tür hinter sich zugezogen, und diesmal hatte sie ihr üblichen Ächzen von sich gegeben. Aber ich war zu verwirrt, um das überhaupt zu bemerken. Ich habe ihn übrigens nie wieder gesehen hier in unserem Dorf, auf dem Weg zum Brunnen oder zu den Feldern; auch nicht in der Synagoge am Sabbat, obwohl ich aufmerksam, fast schon unschicklich, hinter dem dünnen Vorhang, der die Frauenempore abtrennte, die Männer dort unten betrachtete. Und fragen konnte ich auch niemand, weder den Vater noch die Brüder – wie sollte ich ihnen erklären, daß ich mit einem Fremden in unserem Haus gesprochen hatte.

Doch es war eigentlich ja auch unwichtig, denn je länger ich darüber nachdachte, desto gewisser wurde ich, daß er ein Bote war. Und Boten bedeuten nichts, bedeutsam ist ja nur ihre Botschaft. Vielleicht war er ein Prophet, ein Seher wie in jenen alten Zeiten, als Gott durch solche Männer zu seinem Volk sprach. Vielleicht war er auch ein Engel, der diese Menschengestalt angenommen hatte, so wie einmal drei Männer der Sarah ein Kind verheißen hatten. Ja, das ist eben die eigentliche Botschaft auch für mich gewesen: Ich sollte ein Kind bekommen. Nun, Sarah damals war ja bereits alt, und da war es schon wunderbar, daß sie noch gebären sollte. Aber ich würde in Kürze dem Josef übergeben werden, und war es nicht meine Aufgabe, ihm dann auch Kinder zu schenken?

Nie hatte ich daran gezweifelt, und obwohl ich nicht wusste, wie das im einzelnen vor sich gehen würde - seitdem ich eine Frau geworden war, hatte ich mich darauf gefreut. Deshalb musste mir niemand einen Boten schicken. Aber es war ja etwas anderes, was der Fremde mir anvertraut hatte: Mein Kind würde etwas besonderes sein, das sagte schon der Name, den ich ihm geben sollte: Jeschuah – Gott kommt zur Hilfe. Den Namen bestimmen die Väter, so ist es Brauch. Ich aber sollte ihn selber nennen, so sagte es der Bote. Ob es deswegen Streit geben würde mit Josef? Ich kenne ihn ja so wenig. Sicher, er ist unser Nachbar, und manchmal spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, wenn er aus der Tür seiner Werkstatt trat. Und es schien, als würde er mir verstohlen zulächeln, aber die Sitte verlangte ja, daß ich die Augen niederschlug. So war ich mir nie ganz sicher.

Dennoch: Er wird bestimmt ein guter Ehemann. Mein Vater liebt seine Töchter, das weiß ich. Nie würde er uns an einen groben, jähzornigen Mann verkaufen, auch wenn die Morgengabe noch so reichlich ausfallen würde. Manchmal habe ich Josef singen hören bei seiner Arbeit, das ist bestimmt ein gutes Zeichen. Und auch in der Synagoge hat er öfter schon als Vorsänger gedient; er hat eine angenehme Stimme.

Nein, ich hätte sicher zugestimmt, wenn mich der Vater gefragt hätte. Doch warum sollte er die Tochter fragen, wenn es um ihre Ehe ging? Erst jetzt weiß ich es ja: Ich bin ich selbst, ich bin frei, über mich selbst zu bestimmen, über meinen Lebensweg zu entscheiden. Aber ich werde dem Vater nicht widersprechen, er hat sein Wort gegeben, das will ich achten. Und – wenn ich ehrlich bin – ich mag Josef. Ich wüsste niemand unter den jungen Männern in Nazareth, den ich mir lieber als Ehemann wünschen würde. Soll es also dabei bleiben, soll er der Vater meines Kindes werden. Aber um den Namen werde ich mit ihm streiten, wenn er einen anderen vorschlägt. Doch vielleicht hat Gott ihm ja ebenfalls ein Zeichen gegeben, einen Boten geschickt, oder einen Traum, oder ihm einfach diesen Namen ins Herz gegeben – Jeschuah, Gott hilft. Wie schön das klingt! Und es wird mehr als ein Name sein, es wird seine Aufgabe sein, sein Leben bestimmen. Ich weiß es.


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