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Amors Pfeil

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Amors Pfeil

Es gibt viele Ausdrücke, Wörter oder einfache Buchstaben, die so viel mehr ausdrücken, als unser Verstand auf einmal erfassen kann. Familienbande, Liebe, Seelenverwandtschaft, Gesellschaft, Einsamkeit, Lebensgefühl, veränderbares Schicksal, unabwendbares Schicksal. So viele Wörter, die nichts bedeuten oder ein ganzes Universum enthalten. Begriffe, in denen sowohl ungeahnte Grausamkeiten stecken können, als auch größte Glückseligkeiten. Einsamkeit ist etwas, das sich ein Mensch manchmal nicht aussuchen kann. Sie überkommt ihn schleichend, unbemerkt. Bevor man sich versieht, zieht das Leben an einem vorüber und man fragt sich: 'Was ist passiert?' Doch niemand kann diese Frage zur Genüge beantworten. Die Einsamkeit umgibt einen wie ein Schild. Ein Bollwerk gegen die Gesellschaft, an deren Rand man plötzlich unbemerkt zum Stillstand gekommen ist. Wenn man Sarah-Ann Wailey fragen würde, ob sie einsam sei, wäre ihre Antwort bestimmt, dass sie nur alleine sei. Eigentlich schon immer alleine. Sie kannte es nicht anders. Schon als Kind war sie alleine und auf sich selbst gestellt, irgendwie hatte es sich halt so ergeben. Trotzdem war Annie, wie sie meist genannt wurde, eine starke Frau, die man respektierte und die auch Spaß verstand. Meist sah man sie sogar lachend. Tiefe Lachfältchen zierten ein vertrauensvolles Gesicht, große blaue Augen betrachteten ein Gegenüber voller Aufmerksamkeit und ihre Stimme war sanft und voll. Sie war kompetent in ihrer Arbeit und die Kinder an ihrer Schule sahen zu ihr auf und vertrauten ihr. Wenn es jemanden gab, der einem half, Probleme zu lösen, dann Annie. Auf sie war Verlass. Sie war einfach - nett. Sie gehörte zu den Menschen, die sich für andere aufopfern, und sich selbst dabei vergessen. Wer sich selbst vergisst, wird auch von anderen leicht vergessen. Genau so ist das mit Annie. Wer sie gerade nicht sieht, denkt nicht an sie. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nicht, dass es nur ihr so ginge. Es gibt tausende von Menschen, die vergessen werden, sobald man sie nicht mehr sieht. Es ist nicht so, dass sie nicht wichtig wären in der Gesellschaft, in der sie leben. Im Gegenteil, sie bewegen viel um sich herum. Nur beeindrucken Menschen wie Annie die meisten nicht so sehr, dass sie sich einprägen würden. Sie sind eher wie ein Hauch im Gezeitengefüge des Universums. Nicht immer verträgt man den Ruhmesdonner eines Nelson Mandela oder eines Albert Einstein oder Stürme, die Ludwig van Beethoven oder Johann Sebastian Bach hervorriefen. Meist sind es kleine Dinge im Leben, die einen vorwärts bringen, sogar, wenn man sie nicht bewusst wahrnimmt. Annie wurde von niemand bewusst wahrgenommen. Für alle war sie einfach vorhanden. Am Ende ihres Lebens würde sie nicht in einem bedeutenden Buch stehen, vielleicht in einem Schuljahrbuch, aber das ist nicht wirklich beeindruckend. Jedenfalls nicht in den Büchern, in denen Menschen stehen, die mit großem Getöse auf sich aufmerksam machten. Zumindest noch nicht.

Wie immer stand Annie früh auf, um sich noch ein wenig auf den Unterricht vorzubereiten. Den langen Weg zur Schule ging sie wie immer zu Fuß. Nach der Weihnachtszeit hatte sich das eine oder andere Pölsterchen auf ihrer Hüfte gebildet. Sie wußte, mit zunehmendem Alter würde es schwieriger, diese unerwünschten Polster wieder dahin zu verbannen, wo sie hingehören: ins Unsichtbare. Nicht, dass sich Annie allzu viele Gedanken darum machen musste, aber sicher ist sicher. Beim Bäcker um die Ecke kaufte sie ein ige kleine Müslibrötchen. Als sie aus der Tür trat, rannte sie in ein Hindernis.

„Sachte, sachte“, sprach das Hindernis sie mit sympathischer Stimme an. „Hier ist genug Platz für uns beide!“

Sie bemerkte den spöttelnden Ton sehr wohl, war jedoch ziemlich irritiert, als sie aufschaute, um den Spötter anzusehen. Was sie sah, verschlug ihr glatt die Sprache. Ein Mann, schlaksig, mit rotblondem Haar und seegrünen Augen schaute ihr fröhlich lächelnd ins Gesicht. Seine Mundwinkel gingen nach oben, als er sah,dass sie ganz offensichtlich nicht wusste, was sie sagen sollte. So eine Frechheit, dachte Annie, macht der sich etwa lustig über mich?

„Ja sicher, wenn Sie einen großen Bogen um mich herum machen, dürfte der Platz definitiv reichen!“, gab sie zurück und bemerkte, dass das breite Grinsen auf seinem Gesicht noch breiter wurde.

„Ja, könnte ich machen, aber offen gesagt, bei einem großen Bogen um Sie herum wären wir uns nicht so nahe gekommen und gerade das beginnt mir jetzt Spaß zu machen. Darf ich Ihnen behilflich sein, Ihre Brötchen wieder einzusammeln?“

Entsetzt bemerkte Annie ihr auf dem Boden liegendes Frühstück und spürte gleichzeitig ein Brennen auf ihren Wangen.

„Oh nein, mein Frühstück!“, stammelte sie und hoffte, dass sie nicht so rot geworden sei wie die Lichter der Ampeln an der Straßenecke.

„Die sind sowieso nicht mehr zu retten! Ich kaufe Ihnen als Entschädigung neue Müslibrötchen ja? Kommt sofort!“

Bevor sie auch nur etwas dazu sagen konnte, verschwand der Mann im Geschäft. Da dieses gerade leer war, hatte er im Handumdrehen neue Brötchen und stand so schnell vor ihr, dass eine Flucht nicht mehr möglich war.

„Hier, bitte sehr!“, sagte er höflich und hielt ihr eine Tüte hin.

„Das ist doch nicht nötig!“, war alles, was Annie einfiel. Der Mann lachte sie wieder an. Täuschte sie sich oder war auf einmal alles um sie herum so viel heller? Sie spürte ihr Herz flattern als sei sie ein junges Mädchen. Ihre Wangen brannten und sie hatte das unbezwingbare Bedürfnis, zurück zu lachen.

„Danke!“, fügte sie mit spitzbübischem Lächeln hinzu, „Ich glaube, Sie haben recht!“

Nun war es an ihm, sie erstaunt anzusehen. Konnte es sein, dass sie ihn auf den Arm nahm? Na so was aber auch.

„Bei einem großen Bogen“, sprach sie weiter, „hätten Sie mich nicht getroffen, mein Frühstück wäre nicht zu Boden gegangen und Sie hätten keine Möglichkeit gehabt, den Kavalier zu geben!“

Er schaute sie verblüfft an und bemerkte ein kleines Grübchen neben den kleinen roten Wangenflecken, die sich, je weiter er sie betrachtete, immer stärker in ihrem Gesicht ausbreiteten. Schon schaute sie verlegen auf den Boden, als wäre sie eben zu weit gegangen, doch ein herzliches Lachen ließ sie wieder aufschauen.

„Touché!“, prustete er, „dann erlauben Sie mir doch, mein Kavaliersein zu erweitern, indem ich Sie ein wenig begleite!“

Meinte er das im Ernst? fragte Annie sich stirnrunzelnd.

„Oh nein, nicht runzeln bitte, das vertreibt diese netten Grübchen und ich möchte auf keinen Fall dafür verantwortlich gemacht werden!“

Grübchen? Sagte er gerade Grübchen? Ich hab doch keine Grübchen, schoss es Annie durch den Kopf. Belustigt sah er, wie sich das Rot in ihrem Gesicht vertiefte.

„Ich wette, es hat Ihnen noch nie jemand von diesen Grübchen erzählt, oder?“

Grübchen? Braucht der eine Brille?

„Ich habe das dumme Gefühl, Sie machen sich über mich lustig!“, blaffte Annie den immer noch lachenden Mann an.

„Nein!“, war die kurze Antwort.

Verblüfft starrte Annie den Mann an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. Sie konnte wirklich nicht erkennen, ob er sich über sie lustig machte oder nicht. Also entschied sie, es geflissentlich zu übersehen. In einer Stadt wie New York konnte man nie so genau wissen, was sich in den Köpfen der Leute abspielte.

„Ich kann alleine gehen und brauche keine Begleitung!“

Just in diesem Moment kamen ein paar grölende Jugendliche um die Ecke gebogen, die den Eindruck machten, als hätten sie die Nacht durchgemacht. Einer hielt eine braune Tüte in der Hand, in der sich, so sah es aus, eine Flasche Schnaps befand. Immer wieder blieb er stehen, um sich einen Schluck zu genehmigen. Dann reichte er die Tüte mit der Flasche den anderen, die ebenfalls daraus tranken.

„Ich glaube, jetzt sollte ich Sie erst recht begleiten!“, flüsterte ihr der Unbekannte zu. „Die sehen so aus, als könnten sie Stunk machen!“

Annie sah es genauso, ergriff schnell den angebotenen Arm des Fremden und ließ sich über die Straße geleiten. Da es sich um ein unverhofft wohliges Gefühl handelte, beschützt zu werden, erlaubte sie ihm doch tatsächlich, sie bis zur Schule zu begleiten.

„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre fürsorgliche Begleitung, aber ich bin nun am Ziel und Sie können mich wieder loslassen!“

Der Fremde überlegte.

„Also, offen gesagt, würde ich Sie sehr gerne wiedersehen. Könnten Sie sich mit dem Gedanken anfreunden?“

Annie zögerte kurz, doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, entfuhr ihr:

„Ich glaube, der Gedanke könnte mir gefallen!“

Oh nein, hab' ich das eben gesagt? Ich kenne den Kerl doch gar nicht, schoss es ihr kurz durch den Kopf. Doch nun war es heraus und zu spät, es zurück zu nehmen.

„Das ist wunderbar! Dann hole ich Sie von der Schule ab. Wann sind Sie fertig?“

Heute? Meint er das wirklich? Was mache ich denn jetzt? Trotz der auf sie einstürzenden Bedenken antwortete sie:

„Um 16:00 ist Schulschluss, dann muß ich noch eine kleine Konferenz mitmachen, also wäre ich um ca. 17:00 Uhr fertig.“

„Ich werde hier sein!“, versprach er, drehte sich um und ging. So schnell, wie er in ihrem Leben aufgetaucht war, verschwand er auch wieder.

Ist das gerade wirklich passiert? Habe ich mich gerade mit einem wildfremden Mann verabredet? Ach was Annie, wach auf!

„Wer war denn das?“

„Was, wer?“

„Na der himmlisch gut aussehende Mann, mit dem du gerade hier angekommen bist!“

Oh, doch nicht geträumt! Er war wirklich hier. Annie registrierte nun ihre Kollegin Margaret, die sie immer noch fragend anschaute.

„Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber ich glaube, ich habe mich gerade mit ihm verabredet!“ gab sie zurück.

„Du hast was!?“, rief Margaret aus.

„Na, mich mit ihm verabredet, nun tu doch bitte nicht so, als wäre das ein neuntes Weltwunder!“ gab Annie spröde zurück. „Ich kann mich doch mal mit einem Mann verabreden, oder?“

„Ja klar, wie heißt er denn? Was macht er so? Wo hast du ihn kennengelernt? Wohin geht ihr? Erzähl und lass ja kein Detail aus!“ bestürmte Margaret sie.

„Ich weiß nicht. Vorm Bäcker. Ich habe ihn da über den Haufen gerannt. Keine Ahnung. Ich lasse mich überraschen“, versuchte Annie die Fragen ihrer Kollegin einzudämmen. Dann ließ sie die erstaunte Margaret einfach stehen und ging die Treppen zum Schulgebäude hinauf.

Den ganzen Tag ging ihr diese seltsame Begegnung nicht aus dem Kopf. Sie ging Margaret und ihren Fragen aus dem Weg. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und sie war froh, als endlich Schulschluss war. Sie konnte es nicht erwarten, zu sehen, ob der Mann tatsächlich vor der Schule stand oder nicht. Nicht, dass sie daran glaubte, aber schön wäre es schon gewesen. Nun stand sie vor dem Schultor und niemand war zu sehen. War ja klar. Als ob sich für sie noch irgend jemand interessieren könnte. Enttäuscht machte sie sich auf den Weg nach Hause. Dann fing es zu allem Überfluss an zu regnen, als ob nicht schon genug Grund zum Trübsal blasen gewesen wäre. Natürlich hatte sie keinen Regenschirm dabei. Schon nach wenigen Schritten war sie bis auf die Haut durchnässt. Die Kleidung klebte auf der Haut und immer wieder musste sie Autos ausweichen, die durch Pfützen am Straßenrand rauschten. An der Ampel bei der Bäckerei erwischte eines sie dann prompt mit einem großen Schwall Wasser. Eigentlich konnte es jetzt nicht mehr schlimmer werden. Zu Hause angekommen bemerkte sie, dass der Kühlschrank leider mal wieder recht leer war. So musste sie noch einmal aus dem Haus, um einzukaufen. Was für ein Tag. Trübselig kochte sie sich eine kleine Mahlzeit und bereitete den Test vor, den sie am nächsten Tag ihren Schülern vorlegen wollte.

Sternenfrau Eve

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