Читать книгу Sternenfrau Eve - Edda-Virginia Hiecke - Страница 8

Die Verwandlung

Оглавление

Die Verwandlung

Als Annie aufwachte, fühlte sie sich jung und stark. Leise verließ sie den Schlafplatz, weil sie plötzlich ein starkes Bedürfnis spürte, zu rennen. Sie rannte einfach los und berauschte sich an dem befreienden Gefühl, ihren Körper bis an die Grenzen des machbaren zu belasten und sie wurde immer schneller. Jeder Schritt wurde vom Trommeln ihres Herzschlags begleitet. Sie hatte Grindöya bereits mehrmals umrundet, als sie im Augenwinkel einen Schatten wahrnahm. David wurde wach, als er ihre unbewusst jauchzenden Rufe vernahm. So frisch wie heute hatte er sich seit seiner Jugendzeit nicht mehr gefühlt und als er Annie herumrennen sah, sprang er spontan auf, um in diesem wilden Ausbruch an Bewegungsfreude mit ihr zusammen zu sein. Ein leichter Schneefall hatte begonnen. Als er sich Annie näherte, traute er seinen Augen nicht. Sie sah aus, als sei sie gerade mal Anfang zwanzig. Ihre Augen strahlten und ihr Haar glänzte im trüben Zwielicht der Polarnacht. Das konnte sie unmöglich sein, dachte er für einen Moment. Auch Annie blickte ungläubig auf den jungen Mann, der neben ihr rannte. Wild hingen ihm die rotblonden Haare in die Stirn. Seine grünen Augen aber strahlten die Vertrautheit aus, die ihr jeden Zweifel an seiner Identität nahm. Er sah so jung und stark aus, wie sie sich fühlte. Sein ganzes Gesicht strahlte dieses gewinnende Lächeln aus. Ein unglaubliches Glücksgefühl ließ die beiden immer weiter rennen, übermütig und unendlich stark.

Gegen Mittag bekamen sie langsam Hunger und ließen sich auf ihre Decken fallen, um gleich darauf die Reste vom Vortag zu verspeisen.

„Du siehst zwanzig Jahre jünger aus!“, rief Annie mit vollem Mund.

„Das selbe wollte ich auch gerade sagen“, grinste David. „Ich bin schon lange nicht mehr so gerannt und wenn der Hunger nicht wäre, könnte ich ich noch ewig weiter rennen!“

Einträchtig aßen sie und blickten auf das stille Meer. Als sie fertig waren, packten sie ihre Sachen zusammen, stiegen ins Boot und fuhren nach Tromsö zurück. Sie bemerkten nicht, dass der Bootsbesitzer sie sehr genau ansah, da er sich nicht sicher war, mit wem er es hier zu tun hatte. Hatte er doch das Boot an ein viel älteres Ehepaar vermietet. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden ihre Rechnung bezahlten und davon gingen, als wäre alles normal, ließ ihn annehmen, dass er sich irrte. Im Hotel reagierte der Portier ähnlich leicht verwirrt, verkniff sich aber jede Nachfrage. In den folgenden Tagen unternahmen Annie und David noch einige weitere Ausflüge zu den umliegenden Inseln. dass für sie der Partner jünger als früher aussah, führten sie auf ihre Verliebtheit zurück. Dann, am siebten Februar, war die lange Polarnacht endlich zu Ende und sie konnten, erleichtert wie die Einheimischen, den ersten wunderschönen Sonnenaufgang bestaunen. Tags darauf packten sie wehmütig und in Gedanken verloren ihre Koffer und flogen zurück nach Hause.

Ristorn staunte nicht schlecht, als er seinem Arbeitgeber und dessen Frau die Tür zum Appartement öffnete. Beide sahen um so vieles jünger aus, dass er sie fast nicht erkannt hätte. Gerade noch rechtzeitig bevor er ihnen die Tür wieder vor der Nase zuschlagen wollte, entdeckte er die kleine Narbe über Davids linker Augenbraue, die er sich von einem sehr heißen Fettspritzer beim Crêpes machen zugezogen hatte. Also begrüßte er die beiden freudig und ließ sie ein. Er ging in die Küche, um Mrs. Truder die frohe Botschaft zu überbringen. Sie wollte die beiden natürlich auch begrüßen und eilte stracks ins Wohnzimmer, wo sie ihre Stimmen hörte. Als sie Annie und David erblickte, stutzte sie und rief:

„Du meine Güte, Sie haben wohl eine Verjüngungskur gemacht! Also ich muss schon sagen, wenn eine Hochzeitsreise so viel jünger macht, sollte ich das auch noch mal versuchen!“

Zum Glück für Ristorn sah sie nicht, wie eine leichte Röte in sein Gesicht stieg. Annie hatte das sehr wohl bemerkt, und war aber so rücksichtsvoll, Ristorn nicht anzublicken.

„Nun, dann sollten wir uns mal auf die Suche nach einem passenden Ehemann für Sie machen“, feixte David und erntete dafür einen schiefen Blick seiner Frau. Ristorn wurde nun noch ein wenig röter und beeilte sich, das Wohnzimmer und die für ihn gefährliche Zone zu verlassen. Nun merkte auch David, dass er zumindest bei Ristorn in ein Fettnäpfchen getreten war. Während Annies und Davids Hochzeitsreise waren sich nämlich Ristorn und Mrs. Truder schon recht nahe gekommen. Stundenlang plauderten sie über ihre 'Herrschaften' und eines Tages gab sich Ristorn einen Ruck, nahm seinen ganzen Mut zusammen und lud Mrs. Truder zu einem Essen ein. Es wurde ein voller Erfolg. Mrs. Truder himmelte Ristorn an und er fühlte sich geschmeichelt und verliebte sich prompt. Sie behandelte ihn weiterhin mit dem Respekt, den er verdiente und benahm sich auch sonst, was die Arbeit betraf, sehr professionell. Nach Arbeitsschluss gingen sie gelegentlich miteinander aus und genossen die Gesellschaft des anderen. In ihrer Freizeit nannten sie sich bei ihren Vornamen, Clara und Thomas, wahrten aber während der Arbeit gebührenden Abstand. Nicht, dass Ristorn schon ans Heiraten gedacht hätte, doch Davids flapsige Bemerkung erschreckte ihn und er konnte sich nicht gegen die vertiefende Röte in seinem Gesicht wehren, zumal ihn Claras Ausruf schon etwas verlegen machte. In den auf Davids und Annies Rückkehr folgenden Tagen verhielten sich Ristorn und Mrs. Truder vorbildlich und schnell wurde die kleine Verlegenheit von Ristorn vergessen.

Irgendwann geht auch der schönste Urlaub zu Ende und der Alltag muss weitergehen. Annie wollte unbedingt weiter arbeiten und David hatte damit kein Problem, da er ja wegen seiner Arbeit oft nicht zu Hause war. Als Annie am ersten Schultag die Treppe zum Schulgebäude hochging, traf sie auf ihre Freundin Margaret.

„Oha! Du siehst aus wie das blühende Leben. Verrätst du mir den Namen der Schönheitsfarm? Ich will auch wieder jung aussehen!“

Annie lachte und umarmte ihre Freundin zur Begrüßung.

„Du kannst mir aber auch gerne helfen, so einen tollen Mann wie David zu finden, das würde schon einiges zum Besseren verändern.“

„Ich befürchte, einen Mann wie David gibt’s nur einmal, aber ich helfe dir gerne, einen ebenso besonderen wie meinen David für dich zu finden“, versprach Annie und lachend gingen sie in das Gebäude. In der Pause erzählte sie Margaret von den amourösen Verflechtungen ihres Personals zu Hause.

„Ihr scheint ansteckend zu sein“, maulte Margaret schmunzelnd, „könntest du mich bitte auch anstecken?“

„Pass bloß auf Süße, für diese Krankheit gibt es keine Heilung, die hast du lebenslänglich!“

„Das nehme ich gerne in Kauf.“

„Sei lieber vorsichtig“, meldete sich nun Andrew zu Wort, „du weißt nie, welchen Verlauf diese Krankheit nimmt. Am Ende hast du drei Kinder, die auf das College wollen und dein Ehepartner hat sich eine jüngere gesucht.“

Andrews Frau hatte ihn und seine Kinder letztes Jahr wegen eines jüngeren Mannes sitzengelassen. Seitdem verging kein Tag, an dem er nicht darüber jammerte.

„Ach Andrew, irgendwo findet sich auch für dich noch jemand“, tröstete Annie ihn und wurde durch die Schulklingel von weiteren Diskussionen erlöst.

Im Mai bekamen Annie und David häufiger Kopfschmerzen. Annie hatte außerdem das Gefühl, unter Halluzinationen zu leiden. Sie hörte Stimmen, wo keine sein konnten. Verstörend war, dass sie zu Gesprächen passten, die sie mit anderen Leuten führte. Ihr fiel die Unterhaltung mit ihrem Direktor ein. Ein Kind ihrer Klasse hatte beim spielen mit dem Ball eine Fensterscheibe beschädigt. Er wollte wissen, ob dies mit Absicht oder aus Versehen geschehen sei, da er wusste, dass der Junge zu erhöhter Aggression neige. Noch während sie versicherte, dass es ein Versehen gewesen sei, vernahm sie eine Stimme in ihrem Kopf: 'Wenn ich doch bloß endlich eine andere Aufgabe finden würde, ich bin diese Kinder so satt!' Sie hätte schwören können, dass diese Worte vom Direktor kamen, doch der hatte seine Lippen nicht bewegt. Gleichwohl war sie nicht weiter überrascht, als ihr Chef fünf Wochen später an eine kleine Universität wechselte. Als David nur Tage später mit seinem Bruder frühstückte, vermeinte er, ihn darüber sprechen zu hören, wie ihn seine Frau betrüge. Er schaute Jonas erstaunt an und fragte nach.

„Seit wann glaubst du denn, dass Fiona dich betrügt?“

Jonas wurde rot und stammelte „Wie kommst du denn auf so etwas? Ich hab doch nichts dergleichen gesagt!“

„Du hast es doch eben gesagt, ich bin sicher, dass ich das gehört habe.“

„Ist ja mal wieder Klasse, wie gut du mir zuhörst, wir haben doch eben über Bilanzen deiner Auslandsgeschäfte geredet.“

„Na gut, tut mir leid, vielleicht habe ich etwas vom Tisch nebenan aufgeschnappt. Ich hab' in letzter Zeit oft starke Kopfschmerzen und kann mich schlecht konzentrieren.“

„Es sei dir nochmal verziehen. Aber wenn das nicht besser wird mit euren Kopfschmerzen, du hast ja gesagt, Annie hätte das Problem auch, dann solltet ihr vielleicht mal einen Arzt aufsuchen. Wenn ich es recht überlege, habt ihr das seit ihr von eurer Hochzeitsreise zurück seid. Wer weiß, was ihr euch da eingefangen habt?“

„Ja, das sollten wir wirklich tun, das scheint nicht normal zu sein. Jetzt lass' uns weiter über das liebe Geld reden!“, grinste er und sie setzten ihr Gespräch fort.

David dachte nicht weiter über diesen Nachmittag nach, aber als Jonas einige Wochen später verkündete, dass Fiona und er für eine Weile getrennte Wege gehen würden, fiel ihm alles wieder ein. Er hütete sich jedoch, seinem Bruder etwas davon zu sagen. Die Kopfschmerzen wollten einfach nicht aufhören, sie waren lediglich etwas dumpfer geworden.

Zur Weihnachtszeit saßen Annie und David gemeinsam auf ihrem Sofa und schnieften um die Wette.

„So eine verflixte Erkältung“, schimpfte Annie. „Wäre ich doch jetzt an einem Strand mit einer Margarita in der Hand und müsste nicht diesen widerlichen Tee schlürfen!“

„Oh ja, wie wäre es mit den Bahamas oder Hawaii. Es gibt in Hawaii einen Strand, an den Einheimische nicht gehen, sondern mit ihren kleinen Booten fahren, weil der Strand nur von See aus erreichbar und so vor Touristen verborgen ist. Ich bin einmal mit einer früheren Freundin dort gewesen.“

David stellte sich den Platz vor und ehe sich die beiden versahen, saßen sie an genau diesem Strand. Verblüfft sahen sie sich an. Außer ihnen war niemand zu sehen. Wie kleine Kinder ließen sie den Sand durch die Finger laufen und spürten den sanften, warmen Hawaiiwind auf ihrer Haut. Beide glaubten, sie würden halluzinieren, als es aber Abend wurde und die Sonne täuschend echt unterging, wurde es ihnen mulmig.

„Ich hab' das Gefühl, wir sind wirklich auf Hawaii, wie ist das möglich?“ Annie bekam Angst, auch David wurde es mulmig.

„David, hast du dir genau diesen Strand vorgestellt, ich meine, hast du ihn genau so vor Augen gehabt?“

Sie brauchte nicht auf eine Antwort zu warten, denn der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht und das leichte Nicken seines Kopfes war Antwort genug.

„Kannst du dir bitte wieder unser Wohnzimmer vorstellen? Ich will nach Hause!“

Wieder nickte David leicht und augenblicklich waren sie zu Hause auf ihrem Balkon.

„Hm, es sieht so aus, als müssten wir das noch üben“, schmunzelte Annie und klopfte an die Balkontür, als drinnen gerade Ristorn vorbeiging. Erstaunt, seine Arbeitgeber plötzlich draußen vor verschlossener Tür zu sehen, öffnete er und ließ die beiden ein.

„Irgendwie muss die Tür zugegangen sein, als wir ein wenig Luft schnappten“, beeilte sich David zu erklären, bevor sein Diener unangenehme Fragen stellen konnte.

„Gewiss Sir“, erwiderte Ristorn mit unbewegtem Gesicht und sah, wie die beiden schnell im Schlafzimmer verschwanden.

In den folgenden Wochen nahmen die Kopfschmerzen vehement zu und erreichten eine Stärke, die es beiden fast unmöglich machte, vor die Tür zu gehen. Sie verkrochen sich ins Bett, meldeten sich krank und waren für niemanden zu sprechen. Ristorn und Mrs.Truder bekamen gegen ihren erklärten Willen Urlaub. Die ungewöhnliche Stille in der Wohnung entspannte Annie und David etwas. Liebevoll nahm er seine Frau in den Arm und wiegte sie sanft. Er strich ihr das schweißnasse Haar aus dem Gesicht und achtete sorgfältig darauf, dass sie gut zugedeckt war. Sie spürten die Schmerzen, die der andere durchzustehen hatte und kamen sich gleichzeitig unsäglich hilflos vor. Sie wollten aber keine Hilfe von außen in Anspruch nehmen, denn sie waren unsicher, weil ihnen alles sehr unwirklich vorkam. Bestimmt würde dieser böse Traum bald von ihnen weichen und sie würden erleichtert darüber lachen können. Doch der Traum hörte nicht auf. Annie versuchte, im Internet etwas über unerklärliche Phänomene zu finden, doch wusste sie nicht so genau, wonach sie suchen sollte. Wie sollte sie es nennen, dass sie sich durch Gedankenkraft an einen anderen Ort begeben konnten? Wie erklären, dass sie die Gedanken anderer Menschen mühelos lesen konnten, als hätten diese sie ausgesprochen? Damit nicht genug, würde es ihnen doch niemand glauben, in welcher Windeseile sie ein Buch lesen konnten und dass sie dann in der Lage waren, anzugeben, wo ein bestimmtes Wort stand.

„Ich komme mir vor, als sei ich einem Buch über Mutanten entsprungen wie sie bei Perry Rhodan beschrieben sind.“

David wusste darauf nichts zu erwidern. Vor seinem geistigen Auge tauchte gerade die Vision ihrer Nachbarin Mary Baltmin auf, die auf der Balkonbrüstung stehend in die Tiefe schaute. Er schreckte hoch und lief hinaus. Auf dem Balkon nebenan sah er tatsächlich Mrs.Baltmin auf einem Schemel vor der Brüstung stehen.

„Tun Sie das nicht Mary!“, rief er ihr zu. Sie schaute ihn an, als ob er ein Geist sei.

„Er hat mich verlassen, er hat mich verlassen“, murmelte sie wie ein Mantra immerfort vor sich hin, während sie den ersten Fuß unsicher auf die Brüstung setzte.

„Bitte Mary, tun Sie es nicht!“, flehte er nun. „Es hilft niemandem, wenn Sie Ihr Leben wegwerfen. Bitte kommen Sie da runter. Kommen Sie doch rüber und wir reden!“

Doch Mary hörte ihn, betäubt von Verzweiflung, nicht. Schon stand der zweite Fuß auf der Brüstung. Sie stützte sich an der Wand ab und starrte ausdruckslos in die Tiefe.

„Er hat immer gesagt, ich solle mich doch einfach mal fallen lassen, das tue ich nun.“

Für einen kurzen Moment nahm sie die Hand von der Wand und hätte fast das Gleichgewicht verloren. In letzter Sekunde fand sie wieder Halt. Annie war David gefolgt und erschrak angesichts der Gefahr, in der Mary schwebte.

„Mary, steigen Sie sofort dort herunter!“, rief sie unmissverständlich mit fester Stimme. Erstaunt schaute die so streng Angesprochene zu Annie und David, als ob sie diese erst jetzt bemerkte.

„Was machen Sie denn hier? Kann ich nicht einmal zum sterben alleine sein?“ entrüstete sie sich nun.

„Nein, können Sie nicht!“, antwortete Annie prompt. „Sie hören jetzt sofort mit diesem Unsinn auf und kommen runter, sonst komme ich zu Ihnen rüber und dann wird der Sprung Ihnen noch leid tun, das schwöre ich Ihnen!“

Nun wurde Mary sauer und setzte einen Fuß zurück auf den Schemel, um sich besser zu David und Annie umdrehen zu können.

„Wer hat Ihnen denn erlaubt, sich in meine Angelegenheiten zu mischen?!“ schrie sie aufgebracht. „Ich bestimme mein Ende immer noch selbst und wenn ich springen will, dann springe ich!“

„Finden Sie wirklich, dass ihr Leben zu Ende ist, nur weil Ihr Freund so roh ist, Sie zu verlassen? Seien Sie doch froh, dass Sie ihn los sind, er verdient Sie doch gar nicht, wenn es ihm so leicht fällt, sich von Ihnen zu trennen. Ich finde, Sie können noch tausend bessere bekommen, die Sie so mögen, wie Sie sind. Ihrer Tochter wird das bestimmt auch nicht gefallen und ich möchte gar nicht erst wissen, was Fred dazu sagen würde!“

Fred war Marys jüngerer Sohn. Als er den letzten Freund seiner Mutter kennen lernte, zog er sich zurück, weil er diesen Hallodri, der seiner Ansicht nach seine Mutter nur ausnehmen wollte, nicht ausstehen konnte. In einem kurzen Anfall von nachbarschaftlicher Vertrautheit hatte er dies Annie einmal enthüllt und sie hatte versprochen, auf seine Mutter aufzupassen. Nun schämte sie sich für ihr nicht gehaltenes Wort, denn Mary war offensichtlich von diesem Mistkerl ausgenutzt worden. Sie vermutete, dass er längst eine andere, reiche Frau gefunden hatte. Es entsprach schon der ausgeprägten Eitelkeit Marys, dass sie auf den Hinweis, der Mann hätte sie nicht verdient, ansprang. Jetzt nahm sie auch noch den zweiten Fuß von der Brüstung und stieg dann ganz von dem Schemel herunter.

„Wenn ich es mir recht überlege, stimmt das, was Sie sagen, der Kerl hat mich nicht verdient. Warum sollte ich wegen so einem mein Leben wegwerfen!“

Sprachs und verschwand hoch erhobenen Kopfes in ihrer Wohnung. Annie und David gingen so schnell sie konnten in ihr Wohnzimmer und fingen an zu lachen. Einige Tage später sahen sie Mary Baltmin zurechtgemacht wie ein geschmückter Weihnachtsbaum in ihre Limousine steigen. Nichts an ihr erinnerte mehr an die verzweifelte Frau auf der Brüstung, die ihr Leben vorzeitig beenden wollte.

In Annies und Davids Leben kehrte wieder so etwas wie Alltag ein. So kam es ihnen zumindest vor. Doch ein fremder Beobachter hätte sich schon darüber gewundert, dass ein Becher wie von unsichtbarer Schnur gezogen über den Tisch in Davids Hand rutschte oder dass eine Kanne von alleine in der Luft schwebte und köstlichen Kaffee einschenkte. So etwas gehörte nun zum Alltäglichen im Hause Bentin. David und Annie experimentierten mit den unbekannten Kräften, die sie aus heiterem Himmel empfangen hatten. So konnten sie nicht nur Dinge schweben lassen und von einem Ort zum anderen bewegen, sondern fanden schnell heraus, dass sie selbst schweben konnten. Nach kurzer Übungszeit hatten sie den Bogen raus, sich in kurzen Sprüngen durch ihre Räumlichkeiten zu teleportieren, wie sie diese sehr nützliche Fähigkeit bald nannten. Dann begannen sie, an entlegenere Orte zu springen, an denen sie schon mal gewesen waren. Sie achteten sorgfältig darauf, Orte zu wählen, an denen sie bestimmt keine Menschenseele antreffen würden. Nach einigen Wochen waren sie in der Lage, sich überallhin auf den Globus zu teleportieren. Je mehr sie lernten, ihre neuen Fähigkeiten zu beherrschen, desto geringer wurden ihre Kopfschmerzen. Sie erkannten, dass ein großteil ihrer Schmerzen durch das Empfangen der Gedanken und Gefühle anderer auf sie übertragen wurden. Sie überlegten, wie diese Schmerzen zu vermindern seien und begannen vorsichtig, kontrolliert ausgewählte Personen anzuvisieren, wohl wissend, dass sie damit in die Privatsphäre anderer eindrangen. Nach einiger Übung hatten sie den Dreh raus und beherrschten diese Fähigkeit ebenfalls souverän. Gleichzeitig schworen sie sich, diese nur im Notfall einzusetzen. Ihre Kopfschmerzen verschwanden nun gänzlich, gerade rechtzeitig, bevor sich ihr geliebtes Hauspersonal nach dem Zwangsurlaub wieder einfand. Ristorn und Mrs. Truder waren erfreut, ihre Dienstherren gesund wiederzusehen und machten sich gleich an die Arbeit, den vernachlässigten Haushalt auf Vordermann zu bringen. David und Annie konnten endlich wieder arbeiten gehen und zunächst war alles wieder friedlich. Die beiden beschlossen, ihre außerordentlichen Fähigkeiten, die ihnen selbst Angst einjagten, in Zukunft weniger, am besten gar nicht, zu benutzen.

Auf Esrandil hatte niemand Probleme damit, die Gedanken anderer lesen zu können. Nichts, was gedacht oder gefühlt wurde, blieb verborgen. So war es schon seit Jahrtausenden. Die grazilen Bewohner des schönen wald- und seenreichen Planeten waren technisch so weit entwickelt, dass sie hin und wieder Ausflüge zu anderen Welten unternahmen. Ihre Anmut und ihre Verbundenheit mit der Natur, ihre Besonnenheit und die bescheidenen Hilfen, die sie manchmal den Bewohnern anderer Welten zukommen ließen, bestärkten dort den Glauben an Fabelwesen. Sie hatten viele Namen und tauchten in vielen Märchen auf. Sagenhafte Mythen rankten sich um sie. Wenn ihnen eine der fremden Welten gut gefiel, blieben sie manchmal für viele Jahrzehnte, aber irgendwann überkam sie immer eine unstillbare Sehnsucht nach ihrer Heimat. So reisten sie wieder davon, still und ohne Aufsehen zu erregen, nicht ahnend, dass sie eine Welt verließen, die ihnen in ihrer Literatur und in ihren Erzählungen Unsterblichkeit verleihen sollte. Asura stand auf einem Hügel in der Nähe von Graselhar und betrachtete die untergehende Sonne. Ihre weißblonden Haare wurden von der sanften Brise des Westwindes in ihr feines schmales Gesicht geweht. Bestimmt schob sie sich die wehende Pracht hinter ihre spitzen Ohren. Ihre großen, grünen Augen labten sich am stillen, farbigen Schauspiel des Sonnenunterganges. Bevor sie ihn sehen konnte, spürte sie ihn nahen. Ihr Herz schlug höher. Bald würde sie sich mit Rinar verbinden. Sie hatte die Entscheidung lange hinausgeschoben und sie spürte Rinars Ungeduld, wenn sie ihn ein weiteres Mal um Zeit bat, um Dinge zu erledigen, für die er kein Verständnis hatte. Schon ihre Vorfahren waren diesen Weg gegangen und sie musste ihnen folgen, denn das gehörte zu ihrem Schicksal. Ein letztes Mal musste sie sich auf den Weg machen. Ein letztes Mal sich auf die Reise begeben. Am liebsten hätte sie Rinar dabei gehabt, doch er hatte kein Interesse an anderen Welten. Er war, so nannten es die Menschen auf dem Planeten Erde, bodenständig. Da es gerade das war, was sie an ihm am meisten liebte, wurde es für sie umso schwerer, je näher der Tag ihrer Abreise kam. Doch er verstand, dass sie ihren Weg gehen musste, auch wenn er sie nicht gerne ziehen lassen wollte. Sie lächelte sanft, als er vorsichtig seine Arme um sie schlang. Sie wollte jetzt nicht an das Reisen denken und genoss die Umarmung. Sie drehte sich um und gab sich ihm ganz hin. Bald musste sie fort, bald, aber nicht sofort...

Sternenfrau Eve

Подняться наверх