Читать книгу Togt - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 5
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Kalter, unbarmherziger Wind weht durch die Straßen der Stadt, hält kurz den Atem an – alles erstarrt – dann atmet er aus und in alles gerät wieder Bewegung, als sei sie nie unterbrochen worden. Letzte trockene Blätter, Todesboten der wenigen Bäume, treiben widerspruchslos vor der Böe her, landen in Pfützen, in denen sie sich kurz drehen, um dann irgendwo am Rand des Bordsteins hängenzubleiben. Krähen segeln kreischend zu Hunderten über die Felder und den Ort. Bedrohlich scheinen sie sich auf die Häuser stürzen zu wollen, drehen kurz vorher ab und lachen krächzend über die Angst der Menschen.
Der Wind kostet seine vorübergehende Macht weidlich aus, taumelt lächelnd in Siegesfreude und zieht weiter.
Der Ort ist grauenhaft. Wolkenkissen schieben sich, den Platz des Windes einnehmend, grau und tränenschwer zu einem dicken dunklen Vorhang zusammen. Trübe Fensteraugen beobachten die Straße, deren Asphalt nun im einsetzenden Regen wie grauer Marmor schimmert – ein Spiegel des finsteren Himmelszeltes.
Dieses Stück Erde ist nicht gräulich, es ist tiefgrau, wie die Gesichter seiner Bewohner und ihre Haare, die sich mit der Zeit des angstvollen Wartens angepasst haben.
Hier sind Schwarz und Weiß solange aufeinandergeprallt, bis nur noch ein fahles Grau übriggeblieben ist.
Das Prasseln des Regens und das Kreischen der schwarzen Vögel übertönt ein neues Geräusch, ein bekanntes und furchteinflößendes. Pferdehufe nähern sich, erkennbar an dem rhythmischen Klang, mit dem sie herangallopieren, eine imposante Kutsche hinter sich herziehend.
Bange Blicke hinter blinden Fensterscheiben starren dem Gefährt entgegen. Jeder hofft, dass er auch dieses Mal verschont bleibt und die Kutsche mit ihrem schaurigen Fahrgast nicht vor seinem Haus stoppt. Solange diese Gefahr noch nicht vorbei ist, wird die Luft angehalten. Dann begleitet ein tiefes erleichtertes Aufstöhnen das langsam verklingende »Ho, Ho«, sein schrilles, bösartig triumphierendes Lachen und das nicht aufhörende Peitschenknallen.
Er macht sich einen großen Spaß daraus, die Menschen zu Tode zu erschrecken. Er hasst sie. Sie haben ihm nie ein Leid angetan – doch was spielt das für eine Rolle? Er hasst sie stellvertretend fürIHN, der ihm eine so tiefe Verletzung zugefügt hat.
Er hat Tausende von Jahren seinen Plan akribisch ausgearbeitet und sein Ziel niemals aus den Augen verloren.
Zunächst beobachtete er sie nur, geduldig und jedes ihrer Verhaltensmuster studierend, wie ein Hund seinen Herrn nicht aus den Augen lässt, um ihn verstehen zu lernen.
Und plötzlich, die alte Betha öffnet ihre Haustür! Sie können es nicht glauben, was sie da sehen. Ist die Alte noch bei Verstand? Eben erst ist er vorbeigefahren. Er könnte umdrehen, zurückkommen und Betha mitten auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße antreffen. Keiner mag sich ausmalen, was dann geschähe.
Doch die Alte humpelt zielstrebig in dieselbe Richtung, die auch die Kutsche genommen hat.
Was will sie? Wohin eilt sie? Ihre zerlumpten Kleider hängen an dem mageren Körper herab, wärmen sie nicht mehr, doch Betha friert nicht. Sie hat ein Ziel, von dem niemand mehr etwas weiß. Vielleicht noch Hinz, der im selben Alter ist wie sie. Er könnte noch ahnen, wohin sie strebt.
Ihr Rheuma macht ihr bei diesem nasskalten Wetter schwer zu schaffen. Doch sieht es niemand, wie sehr es sie quält. Forsch schreitet sie voran und hat nach kurzer Zeit den Schmerz vergessen.
Knappe zehn Kilometer, sie weiß es noch genau. Zehn Kilometer, dann kommt der Wald, dort muss sie hindurch, dann ist die alte bröcklige Mauer erreicht. Sie war sicher schon zehn Jahre nicht mehr dort. Es ist verboten, streng verboten! Wer sich bisher bei diesem Gesetzesbruch erwischen ließ, ist nie zurückgekommen. So verschwanden nach und nach die jungen Leute aus dem Dorf. Hinz hatte ihnen erzählt, wie es hinter der Mauer aussieht.
Nun sind nur noch die Menschen hier, die zuviel Angst hatten, sich ebenfalls auf den Weg zu machen. Und Hinz ist isoliert. Niemand will mehr etwas mit ihm zu tun haben. Er trägt die Schuld dafür, dass die Eltern und Großeltern ihre Kinder und Enkel nicht mehr wiedersahen.
Betha war in den vielen Jahren still gewesen und ist es noch immer. Doch nun hat sie einen Entschluss gefasst, den sie mit niemandem besprechen kann, aber wie sie in den letzten Jahren gelebt hat, so möchte sie nicht weiterleben. Sie kann dieses »Ho, ho« nicht mehr ertragen. Diese atemlose Stille, nicht einmal mehr ein Flüstern ist zu vernehmen. Niemand traut dem anderen. Die Angst lähmt die Menschen in dieser Stadt. Auch sie, Betha, ist durch diese Angst stumm und starr geworden, die sich wie ein klebriger Nebel über alles und alle gelegt hat.
Sie wird wachgehalten durch ihn, der mit seinen Kontrollbesuchen und willkürlichen Verhaftungen die Nachbarn zu Feinden gemacht hat. Jeder wünscht sich, es träfe ihn nicht, lieber den anderen, der nebenan oder eine Straße weiter wohnt.
Immer wieder hatte sie gehofft, es würde einmal ein Wunder geschehen und alles würde sich ändern, andere Gesetze würden erlassen und sie könnten wieder, wie zuvor, in Freiheit und Ruhe leben. Doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, die Welt wurde immer kälter und unbarmherziger.
Doch in der vorigen Nacht, als sie kaum geschlafen hatte, sich von einer auf die andere Seite drehte, erinnerte sie sich, wie so oft, an Theo, an eine Zeit, in der die Sonne schien, Wärme ihr Herz umarmte und die Liebe dieses so verkannten Mannes sie einhüllte.
»Theo, lieber Theo«, ging es ihr durch den Kopf. »Warum war ich damals nur so dumm, dich zu verlassen, den einzigen Menschen, der mich liebte, um Hinz zu folgen?«
Hinz sprudelte vor Ideen, steckte sie an, mit seinen Träumen vom großen Geld, vom Luxus, von der Freiheit, sich alles leisten zu können, was sie sich wünschten. Er versprach ihr, sie auf Händen zu tragen. Sie würde jeden Wunsch, noch ehe er ausgesprochen sei, erfüllt bekommen.
Er hatte einen Beruf, bei dem er durch geschicktes Lavieren und Taktieren, so manches lukrative Geschäft einfädelte. Bis die Menschen, mit denen er seinen Handel trieb, ihm auf die Schliche kamen, war er schon wieder weit fort.
Er hielt sein Wort. Es gab nichts, worauf sie verzichten musste.
Doch als sie eines Tages den Wunsch äußerte, ein Kind zu bekommen, war es mit seiner Freundlichkeit vorbei. Er wollte das Leben mit ihr genießen und kein Geschrei von einem kleinen Quälgeist ertragen. Um ihr zu zeigen, wie unabhängig sie sein könnten, wenn sie darauf verzichtete, Mutter zu werden, starteten sie zu einer zweijährigen Weltreise.
Nichts, was von Bedeutung war, entging ihnen. Sie sahen alles und kehrten fast übersättigt, durch die Eindrücke, die sie von überall her mitbrachten, zurück. Dann war es eines Tages zu spät für ein Baby.
Sie wurde depressiv und Hinz konnte ihre immerwährende Traurigkeit auf die Dauer nicht ertragen. Aus Vorwürfen und Angriffen wurde mit der Zeit Schweigen. Stumm lebten sie nebeneinander her, bis es keiner von ihnen mehr aushielt. So trennte er sich von ihr. Nun, in ihrem hohen Alter leben beide allein – einsam, verbittert und resigniert.
Doch damit ist ab heute Schluss! Es reicht! Einmal noch möchte Betha Theo sehen, nur einmal noch. Sie weiß gar nicht, ob er überhaupt noch lebt, aber wenn sie nicht geht, wird sie es nie erfahren und ihre Chance damit vertun.
Mühsam bahnt sie sich ihren Weg durch das Gestrüpp, das im Laufe der Jahre den Trampelpfad, den sie so oft gegangen ist, völlig überwuchert hat. Ihre Strümpfe, die sie schon viele Male gestopft hatte, bekommen neue Risse. Die Beine brennen vor Schmerz, wenn Stacheln und Dornen in die Haut dringen. Sie spürt, wie die Strümpfe von dem herabfließenden Blut feucht werden.
Plötzlich wird sie von hinten berührt. Sie zuckt zusammen, fasst sich ans Herz und hört eine bekannte Stimme: »Nicht erschrecken, Mutter Betha, ich bin’s, Eron.«
Sie dreht sich um und schaut in das etwas verwahrloste Gesicht eines jungen Mannes. Dunkle Ringe unter den schönen blauen Augen, die mit langen dunklen Wimpern umrandet sind, ein wild wuchernder dunkler Bart, ungepflegt und zottelig.
»Bist du’s wirklich? Natürlich, du kannst ja niemand anderer sein. Aber man hat dich doch verhaftet, als du vor fünf Jahren zu der Mauer wolltest. Wie bist du wieder in Freiheit gekommen?«
Das dankbare, glückliche Lächeln will gar nicht aus ihrem Gesicht verschwinden. Sie ist so froh, ihrem Eron hier zu begegnen. Lange schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, den Jungen jemals wohlbehalten wiederzusehen. Auch er lächelt und nimmt sie an die Hand. »Komm mit, ich zeig dir einen leichteren Weg hier heraus.« Willig lässt sie sich von ihm führen. Ihr Herz schlägt schnell. Sie weiß, das ist die Freude. Ihr Eron!
Dann kreuzt ein ehemals breiter Weg ihren Pfad. Hier biegt er links ab, sicher und ohne das geringste Zögern. Er kennt sich aus. Sie erreichen eine alte, aber sehr stabile Bank. Betha möchte sich setzen, um ein wenig ihr Knie zu entlasten. Eron nimmt neben ihr Platz.
»Du riechst sehr streng.«, stellt sie fest.
»Kein Wunder, nach fast einem Jahr hier im Wald. Ab und zu konnte ich mich an der Quelle waschen. Doch jetzt, wo es so kalt ist, trau ich mich nicht. Eine Erkältung wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte.«
»Erzähl’, was ist dir passiert?« Erwartungsvoll schaut sie ihn an und stellt fest, dass viele kleine Narben sein Gesicht zeichnen. Sie kuschelt sich an ihn und lauscht. Beschützend legt er seinen Arm um sie. Sie geben einander die Wärme, die beide so lange vermissten.
»Sie haben uns geschnappt. Einige Uniformierte hatten sich in der Nähe der Mauer auf die Lauer gelegt und uns erwischt. Sie waren in der Überzahl und geübte Kämpfer. Wir hatten nicht die geringste Chance. Sie trieben uns mit Schlägen durch einen kleinen Tunnel vor sich her, der unter der Mauer hindurch führte. Dann stießen sie uns auf einen Lastwagen und fuhren uns zu einem Strafgefangenenlager. Eine Gerichtsverhandlung fand nicht statt. Wir wurden in eine Zelle gesperrt, wir fünf. In eine Zelle, die für zwei gedacht war. Keiner erfuhr, für wie lange wir dortbleiben müssen.«
Langsam kriecht die feuchte Kälte bis auf ihre Haut und lässt sie frösteln.
»Komm, ich will dir meine Unterkunft zeigen. Da ist es angenehmer als hier draußen.« Eron reicht ihr die Hand und bald erreichen sie seine gut getarnte Höhle. Der Eingang ist mit Farn und Laub bedeckt. Eron kriecht zuerst hinein, zündet innen eine Fackel an und hilft seiner Besucherin, ebenfalls hineinzukommen.
Aus Ästen und Baumstücken hat er sehr einfallsreich und geschickt seine Bleibe möbliert. Das Notwendigste ist vorhanden, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, gepolstert mit Heu und Stroh. Ein paar Konserven stehen ordentlich verstaut in einem Regal. Aus Steinen hat er sich eine Heizstelle gebaut, auf der schon dürres Geäst liegt und dieses nun schnell mit seinem Feuerstein entzündet. Bald hat sich der anfängliche Rauch verzogen und es wird in der bescheidenen Behausung direkt ein wenig gemütlich.
Lange sitzen sie schweigend einander gegenüber, fassen sich von Zeit zu Zeit an den Händen, lächeln sich zu, so wie früher, als Eron noch bei ihr wohnte.
Er war erst fünf Jahre alt, als seine Mutter starb. Einen Vater gab es nicht. Betha war die gute Seele des Stadtteils und nahm sich des Kleinen an. Bei ihr lebte er solange, bis er, von der Neugier und der Abenteuerlust gelockt, mit den vier anderen davonschlich, um sich die verbotene Mauer anzuschauen und sich davon zu überzeugen, ob die geheimnisvolle andere Seite tatsächlich so traumhaft schön war, wie Hinz sie beschrieben hatte. Hinz hatte in ihnen die Neugier geweckt. Konnte es so einen Ort wirklich geben?
Nach einer Stunde der Ruhe und des wohligen Beieinanderseins steht Betha mit den Worten auf: »Ich möchte zur Mauer.«
»In den Jahren, in denen ich gefangen war, hat man sie extrem erhöht.«, erklärt Eron. »Kein Mensch kann mehr darüberklettern. Ich habe versucht, auf die Bäume in der Nähe zu kommen, um von dort aus irgendwie hinüberzugelangen. Aber die Bäume, die direkt an der Mauer wuchsen, sind gefällt worden und die übrigen sind zu weit entfernt, sodass man sie nicht benutzen kann.«
»Dann möchte ich sie mir nur ansehen.« Ein wenig traurig klingt ihre Stimme nun, nachdem sie ahnt, dass das Unterfangen viel schwieriger wird, als sie angenommen hat.
Sie verlassen die Höhle und stehen bald darauf vor der riesigen Steinwand, die es ihnen unmöglich macht, den Ort, in dem Theo wohnt, zu sehen.
Betha sieht die momentane Ausweglosigkeit ein und nimmt wieder die Hand des jungen Mannes.
»Komm, Eron, wir gehen nach Hause.«
Im Zwielicht der untergehenden Sonne müssen sie immer größere Mühe darauf verwenden, den Weg nicht zu verfehlen. Nach langer Zeit erreichen sie die Straße und dann das Häuschen, in dem sie solange miteinander gewohnt haben.
Schnell ist ein Tee zubereitet und ein paar Scheiben trockenes Brot und Margarine vervollständigen das karge Mahl. Aber sie achten nicht darauf. Sie sind zusammen und das ist gut. Während Betha den Tisch deckt, entzündet Eron den alten Ofen, der in kurzer Zeit die kleine Stube wärmt.
Sie überlegen, wie sie weiter vorgehen wollen. Aufgeben kommt für beide nicht in Frage.