Читать книгу Togt - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 7
Оглавление3. Kapitel
Was die Drei von Terra Secunda beobachtet haben, ist aus der Nähe betrachtet, folgende Szenerie:
Es gibt Orte, in denen verschiedene Saaten aufgehen. Einmal gibt es die Regionen, in denen beispielsweise der Professor, die Politiker, die Finanz- und Wirtschaftsbosse, die Weltverbesserer und die Enthüller leben.
Das sind die Städte, die sich mit der Zeit immer grauer färben. Hier leben zumeist diejenigen, die noch gehorsam nach seinem Plan agieren.
Dann kann man die grauen Orte finden, die immer mehr werden und in denen die Menschen sich aufgegeben haben oder nur noch in Angst, Schrecken und Resignation leben.
Der Landstrich aber, der dem Herren dieser Erde am meisten Kopfzerbrechen und Schlaflosigkeit bereitet, ist die Gegend, in der sich die Noturos aufhalten. Sie leben wirklich und existieren nicht nur. Das ist auch das Land, in dem die Sonne besonders hell und warm scheint, stellen sie verwundert aber auch stirnrunzelnd fest.
* * *
»Herr Professor, was ist los mit Ihnen? Sie haben wieder die ganze Nacht gearbeitet! Legen Sie sich doch ein bisschen hin, Sie werden sonst noch zusammenklappen!« Der Laborant macht sich sichtlich Sorgen.
»Hab keine Zeit! Kommen Sie mal her, Müller, ich zeig Ihnen was!«
»Was soll das? Eine wirre Zeichnung, seltsame Formeln – was ist das?«
»Wir werden ab sofort alle Materialien, die robust sein müssen aber gleichzeitig elastisch, schnell zu produzieren und dabei kostengünstig, wasserabweisend bei Regen, wärmend bei Kälte, kühlend in der Hitze, mitwachsend für Kinder, alle nur denkbaren Kleidungsstücke aus diesem Stoff herstellen. Das ist eine Weltneuheit! Und sie wird meinen Namen tragen – meinen Namen! Na, Müller, sind Sie jetzt beeindruckt?«
»Professor, ich sage ja schon immer, Sie sind exzellent! Wenn das funktioniert, mein Lieber!«
»Verlassen Sie sich darauf, es wird funktionieren!«
»Dieser Stoff, den Sie da ausgetüftelt haben, hat der auch schädliche Auswirkungen auf die Haut oder die Atemwege der Träger?«
»Ach was, das kann man vernachlässigen! Ein paar sehr unwahrscheinliche Beschwerden sind schon möglich, aber denken Sie mal an den großen Vorteil, den diese Erfindung hat!«
Damit schickte er Müller wieder hinaus, der ihm einige Materialien besorgen sollte. Müller erinnerte sich erst viel später wieder an dieses Gespräch. Möglicherweise hätte er sonst nicht so hingebungsvoll seinen Dienst für den Professor erledigt.
Nach Jahren dieser Erfindung wurden Kinder geboren, mit verstümmelten Händen und Füßen, oder die andere Anomalien aufwiesen. Menschen litten und starben an Krankheiten, die niemals zuvor aufgetreten waren und die mit bekannten Mitteln nicht bekämpft werden konnten.
Als in seiner eigenen Familie diese schrecklichen Krankheiten und Entstellungen immer häufiger vorkamen, fiel Müller die Frage wieder ein, die er damals seinem Professor stellte. Die tatsächlichen Ursachen wurden nicht bewiesen, und es schien so, als wenn auch niemand der Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft irgendein Interesse an der Aufklärung hatte.
Doch der Herr Professor konnte sich mit solchen Nebensächlichkeiten nicht lange aufhalten. Er sprühte vor Ideen und war schon dabei, die nächste umzusetzen.
Müller hörte bei seiner Rückkehr, wie er, tief über seine Notizen gebeugt, unverständliche Worte vor sich hinmurmelte. Er verstand nur Wortfetzen: »Das muss doch klappen. Aber wie? Doch, jetzt, ich hab’s!«
Der Laborant, fast so alt wie sein Vorgesetzter, begleitete ihn nun schon seit vielen Jahren. Er schüttelte den Kopf und konnte es nicht fassen, was die letzten zwei, drei Wochen mit seinem Chef gemacht hatten. Der sonst vorsichtige Analytiker, der unzählige Male seine eigenen Ideen verworfen oder überarbeitet hatte, der in seinen langatmigen Erklärungen so manchen Studenten in den Seminaren zum Einschlafen und mit ständigen Einwänden und Bedingungen sowie seiner zeitraubenden Akribie viele Auftraggeber zur Verzweiflung brachte, war plötzlich wie ausgewechselt.
Jeder Tag schien ihm zu kurz zu sein, um seine zahlreichen Einfälle umzusetzen. Er jagte den armen Müller ständig von einem Ort zum anderen, um für ihn Dinge zu beschaffen, Erkundigungen einzuholen und Hilfen zu organisieren.
Einmal, in einem seltenen Anfall von Mitteilungslust, erzählte er Müller auf dessen Frage, was denn mit ihm passiert sei, eine haarsträubende Geschichte:
»Müller, Sie werden’s mir nicht glauben, aber ich hatte ein Erlebnis, was ich auch niemandem abnähme, wenn er mir das erzählte! Ich lag in meinem Bett und dachte über meine Zukunft nach. Und die sah zu diesem Zeitpunkt nicht rosig aus. Ich hatte zwar mein Auskommen, aber eigentlich wollte ich mehr vom Leben. Sollte nun alles vorbei sein? Keine Spannung mehr, alles nur noch fade? Ich kam mir unglaublich alt vor, ausgelaugt und um eine Hoffnung betrogen.
Ich sah bei anderen, wie sie sich dynamisch wildem Treiben hingaben, sich mit schönen Frauen schmückten, Partylöwen spielten – in deren Leben war einfach was los! Und wie sah das bei mir seit ewigen Jahren aus? Uni, nach Hause, eine missmutige Haushälterin, weil es keine Frau an meiner langweiligen Seite ausgehalten hat, ins Bett, nicht einmal verrückte erotische Gedanken leistete ich mir. Während ich noch so nachdachte, tauchte plötzlich jemand – ein Schatten – in meinem Schlafzimmer auf. Zuerst spürte ich, dass ich nicht mehr allein war. Dann begann der Unbekannte mit mir zu sprechen. Ich konnte es kaum fassen, er schien alle meine Gedanken zu kennen: ›Professor, steh auf! Steh auf und beginn zu laufen. Dein trostloses Dahinvegetieren ist zu Ende, wenn du auf mich hörst!‹
Eine kleine Pause entstand zwischen diesen Worten und dem nächsten, für mich so folgenschweren Satz. Dann fuhr er fort: ›Du bekommst alles von mir, wenn du mir deine Seele verkaufst, Ideen, Ruhm und Macht!‹
Ich rieb mir die Augen und dachte, dass ich träume. Aber nein, es war Realität! ›Denk nicht zu lange nach! Mein Angebot ist befristet!‹ Damit war er verschwunden.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Mir ging durch den Kopf, dass das völlig irreal war, was ich da erlebt hatte. Wahrscheinlich so etwas wie ein Tagtraum. Wenn ich diesen widerlichen Geruch nach Schwefel nicht noch immer in der Nase gehabt hätte, könnte ich das glauben. Dann kam mir der Gedanke, falls er wirklich hier gewesen war – wer war er und welche Gegenleistung erwartete er von mir?
Doch letztlich war ich mit meinem bisherigen Leben ja nicht zufrieden und wünschte mir das, was er mir angeboten hatte. Meine Bedenken wurden durch die Vorfreude auf sein Versprechen hinweggefegt.
Mein Entschluss war gefasst – ich würde mich darauf einlassen. In dem Moment, als ich diese Entscheidung traf, stand er wieder an meinem Bett. ›Schön, das war sehr klug von dir! Ab sofort tust du genau das, was ich dir eingebe. Fang nicht mit eigenen Ideen an. Wenn du dich daran hältst, werden deine kühnsten Träume in Erfüllung gehen.‹«
Müller hatte ihm befremdet zugehört und fragte skeptisch, wer es denn gewesen sei, der mit ihm gesprochen habe. Doch hoffentlich nicht der Gottseibeiuns?
Der Professor sprudelte direkt vor lauter Einfällen und war voller Risikobereitschaft – eine Charaktereigenschaft, die Müller nie zuvor an ihm bemerkt hatte.
Auch die Art seiner Vorträge änderte sich auffallend. Egal, ob an der Uni, während seiner Vorlesungen, noch in den Interviews – nach denen die Medien inzwischen Schlange standen – das Feuer seiner Begeisterung sprang ungekühlt auf seine Zuhörer über. Charismatisch und von seinen eigenen Erfindungen und Ideen überwältigt, riss er ganze Menschenmassen mit.
Außer die Öffentlichkeit von seinen Thesen und Einfällen zu begeistern, arbeitete er, im wahrsten Sinne des Wortes, unermüdlich, an seinen neuesten Projekten. Er kannte keine Ruhepausen und von Schlaf ließ er sich seine Zeit nicht stehlen. Sein Arbeitstag umfasste vierundzwanzig Stunden und Müller erwartete täglich seinen Zusammenbruch.
Doch das Gegenteil war der Fall: Je mehr er arbeitete, desto versessener wurde er auf die Ergebnisse und desto weniger erschöpft wirkte er.
Sein eigenes Fach, die Chemie, reichte ihm als Experimentierfeld bald schon nicht mehr aus. Seine genialen Fähigkeiten sprengten jedes
Vorstellungsvermögen. Er entwickelte eine Waffentechnik, die den Drohnen in ihrer bekannten verheerenden Wirkung in nichts nachstanden, sich aber allein durch Gedanken einsetzen und manövrieren ließen. Durch diese Besonderheit war es möglich, sie nicht von Soldaten, die unter Umständen von Skrupeln geplagt wurden, lenken zu lassen. Der Befehlsgeber selbst war nunmehr in der Lage, sie zu den vorgesehenen Zielen zu steuern. Dadurch wurden eventuelle Aus- oder Zwischenfälle durch Armeeangehörige, die von ihrem Gewissen geplagt wurden, vermieden.
Er entfaltete binnen kürzester Zeit Ideen, die enorme Veränderungen, große Heilerfolge in der Pharmazie, umwälzende Umsetzungen in der Verkehrs- und Agrartechnik möglich machten und insgesamt zu finanziellen Gewinnen für seine Auftraggeber und vordergründig auch zu enormen Verbesserungen führten.
So entstand auf seine Intuition hin ein Flugzeug, das bei seinem Jungfernflug mit fünfhundert geladenen internationalen Persönlichkeiten den Atlantik überquerte, von Europa nach Westamerika diese Strecke innerhalb von fünf Stunden bezwang und das, ohne Treibstoff zu verbrauchen.
Sein Bekanntheitsgrad wuchs enorm und wo er auftauchte, war er der Mittelpunkt, umgeben von einem Schwarm menschlicher ›Schmeißfliegen‹, die sich durch die Nähe zu ihm aufgewertet glaubten und ein kleines bisschen des ihm entgegengebrachten Ruhmes erheischen wollten. Er wurde umjubelt, mit allen erdenklichen Ehrungen überschüttet und räkelte sich in dieser Ovationswonne.
Als ihm eines Tages die eigene Anbetungswürdigkeit zu Kopf gestiegen war, wurde er leichtsinnig und eine von ihm kurzerhand in den hörigen Orbit gerufene Idee erwies sich für die reichlich vorhandenen Profitgeier, die bis dahin sehr viel Geld durch ihn verdient hatten, als riesengroßer Flop. In kürzester Zeit waren deren Ehrbezeugungen und ihre fast schon hündische Unterwürfigkeit beendet. Sie ließen ihn fallen, so wie die berühmte ›heiße Kartoffel‹.
Die Rechnung, die ihm nun präsentiert wurde für all die Macht und Ehre, die er von allen Seiten her erfahren hatte, war sehr hoch.
Er verschwand wieder in seiner Bedeutungslosigkeit und sein Tod war kaum eine Randnotiz in der Regionalzeitung wert.
Kurze Zeit später betrat der nächste ›Star‹ die Bühne der Welt!
* * *
»Ich bin froh, dass du endlich da bist! In meinem Kopf drehen sich die Gedanken wie ein Karussell! Ich hab keine Ahnung, wie wir das hinkriegen sollen.«
»Du bist doch Vollblutpolitiker. Bis heute warst du noch niemals an meiner Meinung interessiert. Also, jetzt hast du mich aber neugierig gemacht, wenn selbst du nicht mehr weiter weißt.«
»Ich hab dich gebeten, zu mir zu kommen, weil ich in der falschen Partei bin!«
»Hab ich dir doch schon immer gesagt!«
»Mensch, Wolfgang, nun hör mir doch erst einmal zu! Der Typ von der chemischen Industrie war wieder bei mir. Du weißt doch, der, der den Unfall beobachtet hat. Hab dir doch damals von dem erzählt.«
»Ach, du meinst diese Geschichte, wo du den Jungen umgenietet hast und einfach abgehauen bist? Das war schon ein Hammer. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so ein Schwein sein kannst und das alles für die Kohle, die du für dein Abgeordnetenamt abkassierst! So, und nun hast du den Kerl im Nacken! Viel Spaß!«
»Ja, Mann, ich verstehe gar nicht, warum der gerade jetzt damit kommt. Warum hat der bloß so lange geschwiegen?«
»Echt, das fragst du dich? Das liegt doch wohl auf der Hand. Der hat das Ass bis heute schön im Ärmel gelassen, damit er dich mit dieser Sache erpressen kann, wenn er es braucht. Ein kluges Kerlchen! Und der Zeitpunkt ist nun gekommen. Das ist doch wohl alles sonnenklar.«
»Ja, ist ja alles recht und schön, aber was soll ich machen? Er will unbedingt, dass die Genehmigung für sein neues Teufelszeug durchgeht. Das krieg ich doch in meiner grünen Partei niemals hin! Du bist mein Freund. Fällt dir was ein?«
Sein Partner kann sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »So, so, ich bin also dein Freund!«, prustet er los. »Komisch, dass dir das immer einfällt, wenn du was von mir willst. Ansonsten sagst du mir den Kampf an. Was soll ich bloß davon halten?«
»Werner, komm, du weißt doch genau, wie das bei meinen Parteigenossen ankommt, wenn ich mit dir Händchen halte. Lass mal deine Kontakte spielen. Ihr von den Schwarzen habt doch sicher irgendeine Möglichkeit. Wenn es darüber zur Abstimmung kommen würde, könnte ich bestimmt den einen oder anderen aus meiner Partei überreden, sich zu enthalten. Wenn ihr dann so ziemlich alle geschlossen für den Antrag seid, müsste es klappen!«
»Dir geht aber der Hintern ganz schön auf Grundeis! Du, ich kann dich gut verstehen. Aber wo wir gerade so schön dabei sind, mein lieber Jürgen: Wie sieht es eigentlich mit dem Bauplatz für die Mülldeponie aus? Das geht ja gar nicht – angeblich! Wenn ich mir das so recht überlege, bekommt die Sache ja gerade eine ganz neue Wendung. Ich bin sicher, du wirst es hinbiegen, dass ihr doch zustimmt. Kann ja ruhig zähneknirschend sein, Hauptsache, es funktioniert. Denk mal darüber nach. Du weißt doch, eine Hand wäscht die andere.«
Natürlich gingen beide Vorhaben in Ordnung. Es gibt immer Mittel und Wege. Man muss nur ein bisschen phantasievoll und pfiffig sein.
Dann war da noch das kaum zu lösende Problem der Koalitionäre, die schon seit bestimmt zehn Jahren miteinander verbandelt waren. Es war die Opposition, die plötzlich aus dem Nichts auftauchte und viel zu viel Zuspruch aus dem Volk bekam. Sie wurde bei jeder Umfrage stärker und stärker und das kurz vor der Wahl! Die Stimmung bei den Wählern hatte sich zu Ungunsten der bisherigen Parteien verändert.
Wie konnte man dieser Entwicklung Einhalt gebieten? An Eigenverantwortlichkeit für diese Quittung der Wähler dachte man natürlich nicht. Sie mussten irgendeine Möglichkeit finden, sie kaltzustellen, ohne dass ihre Taktik von jedermann durchschaut werden würde.
Die Medien wurden zuerst instruiert. Sie berichteten fast durchweg regierungsfreundlich. Jetzt reichte das allein nicht mehr aus. Sie mussten sich auf die Opposition stürzen und sie irgendwie diskriminieren oder Gerüchte in die Welt setzen, die diese in eine sehr üble Ecke stellen würden.
Natürlich war die rebellische Partei, so wurde sie von den Etablierten gesehen, nicht blauäugig. Sie traf Vorkehrungen, damit dem Wahlbetrug möglichst der Boden entzogen werden konnte. So entsandten sie in alle Wahllokale Beobachter.
Es dachten sich die Regierenden aus, die Briefwahl zum Betrug zu nutzen. Wer wusste schon, wer wo sein Kreuz hingesetzt hatte?
Dazu brauchten sie nur folgsame Wahlhelfer. Die waren unter den jungen Leuten schnell ausgemacht, die ebenfalls daran interessiert waren, die gemeinsamen Feinde zu erledigen. Es hatte sich bei den Nichtsnutzen herumgesprochen, dass mit dem Eintritt der gehassten Partei in die Regierung ein ganz neuer Wind wehen würde. Nicht nur für die bisherigen Nutznießer der Laissez-faire-Haltung im jetzigen Parlament, auch und eben für die bislang sehr gut von dieser Einstellung lebenden jungen Faulenzer, die durch die Regierung subventioniert wurden, drohte eine ganz unangenehme Situation einzutreten. Das konnten sie nicht zulassen! Da waren sich beide Seiten einig.
Der schöne hinterhältige Plan der Etablierten ging nicht auf. Und so saßen sie da, die nie da sitzen sollten, und die übrigen Mitglieder des Parlaments mussten sich unangenehmen Fragen stellen. Es wurden Lügen aufgedeckt, Vetternwirtschaft ans Licht gebracht und das ganze politische Leben machte den Abgeordneten der bisherigen Parteien keinen wirklichen Spaß mehr.
Mit dem Hin- und Herschieben der Ämter und günstigen Positionen klappte es auch nicht mehr so recht. Das ganze Parlamentstheater wurde stetig durchschaubarer. Die Menschen verloren zusehends das Vertrauen in ihre Volksvertreter. Einzig die lange Zugehörigkeit oder die Tradition hielten manche Wähler noch bei der Stange. Aber auch das würde sich mit der Zeit und der Menge der Fehlentscheidungen, die die neue Fraktion aufdeckte, überleben.
Da eine Fortsetzung der bisherigen Parlamentsarbeit in dem Stil, den sie gewohnt waren, nicht mehr stattfinden konnte, fand man einen perfiden undemokratischen Weg, die »Ungeliebten« wieder loszuwerden. Man versuchte, sie lächerlich zu machen. Vor allem in den öffentlichen Sitzungen wurden ihre Gesetzesvorlagen als stümperhaft und nicht ausgereift hingestellt. Sie waren eben die Neuen, die von der korrekten Vorgehensweise in der Oppositionsarbeit keine Ahnung hatten. Gönnerhaft wurden ihre kleinen Patzer von den etablierten Abgeordneten wieder ›ausgebügelt‹ oder als bösartige Provokationen diffamiert.
Demokratisch gewählte Abgeordnete wurden attackiert, zusammengeschlagen, an genehmigten Kundgebungen gehindert, ihre Autos abgefackelt, Häuser beschmiert und Familienmitglieder bedroht. Der Phantasiereichtum der parasitären Masse war fast unbegrenzt und wurde gut dotiert.
Der Initiator dieser Entwicklung sagte zufrieden: »Na endlich fällt ihnen etwas Sinnvolles ein.«
Doch schon Mahatma Gandhi hatte vorhergesehen: »Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.« Durch diese Worte inspiriert und ihren Idealen nachstrebend hielten die Gegner der Regierung alle Angriffe und Schäden aus.
Die Spaltung der Gesellschaft war im Sinne dessen, der sich diesen Verlauf in der Menschheitsgeschichte genauso ausgedacht hatte. Je mehr sie sich anfeindeten, desto unbemerkter konnte er seine Gedanken und Ideen in ihren Köpfen zünden. Es sollte ja zu einem neuen Aufstand kommen. Die Menschen vergaßen einfach zu schnell, wie sehr ihre Vorfahren oder sie selbst schon gelitten hatten.
Es war wieder aufwärts gegangen und schon versanken die schrecklichen Bilder des Bürgerkrieges im Grau der Vergangenheit.
Nur wenige erinnerten sich glasklar und kamen der Wahrheit bedenklich nahe. Sie ahnten, dass nicht der vermeintliche menschliche Gegner, nicht eine Krieg auslösende Begebenheit, sondern eine menschenverachtende Kraft, mit Hilfe einer herzlosen, gefühllosen Maschinerie, alle Attacken gegen die gesamte Erdbevölkerung anzettelte. Diese Ahnungsvollen fanden sich zusammen und setzten der Politik nichts entgegen, außer der Gewissheit, dass es einmal vorbei sein würde, egal, ob sie jetzt eingriffen oder nicht. Sie errieten, dass nichts das Chaos aufhalten konnte. Im Gegenteil, je weniger sie opponierten, desto eher brach das ganze Lügengebäude der gesteuerten Menschen in sich zusammen. Es war für sie so, als wenn die von Angst Getriebenen einer tödlichen Krankheit mit Salben oder Umschlägen beikommen wollten. Es würde die Leidenszeit nur verlängern.
* * *
»Ich glaube, wenn wir den Hunger in der Welt bekämpfen, werden wir den Frieden möglich machen können.« John hatte sich in der Konferenz zu Wort gemeldet. Ihr Thema war wie immer: Wie kann man die Welt retten? Was kann jeder von uns dafür tun?
Magnus widersprach: »John, wir haben schon seit Jahren immer wieder dieselben Lösungsansätze, ohne dass wir auch nur einen Schritt weitergekommen wären. Wie soll das, was sich so einfach anhört, in die Tat umgesetzt werden? Du kennst selber unsere unfruchtbaren Bemühungen, die Politiker für dieses Thema sensibel zu machen. Ab und zu springt da mal einer auf unseren Zug auf, wenn es vorteilhaft für ihn ist, doch wenn unsere Ideen nicht mehr gebraucht werden, wird diese Anwandlung von Hilfsbereitschaft schnell wieder in der Schublade versenkt. Ich brauche euch da wirklich nichts mehr dazu zu sagen, weder dir, John, noch allen anderen. Ihr seid so lange dabei, dass ihr genau wisst, wovon ich spreche.«
Die meisten der Anwesenden nickten. Magnus, in seiner Eigenschaft als Führer und auch Gründer der Gruppe, hatte mit seinen Einlassungen recht. Soviel sie auch probiert hatten, es scheiterte immer an etwas, das sie nicht beachtet oder erwartet hatten. Es wurde wirklich Zeit, dass sie ihre Pläne so verfassen, sodass sie auch umsetzbar waren. Sie mussten sich einfach Tricks ausdenken, wie sie die Politiker nicht nur vor den Wahlen dazu bringen konnten, endlich die Welt mit ihren Augen zu sehen. Den Untergang der Menschheit, den Hunger, das Elend, die Armut, die Ungleichheit, die zu Kriegen führen würde, endlich zur Kenntnis zu nehmen und sich dagegen einzusetzen. Doch hier waren neue Visionen und ein neues Konzept gefragt. Schritte also, die sie bis heute nicht gegangen waren.
»Was haltet ihr davon, wenn wir Märsche für die Welt initiieren? Gute, an die Herzen gehende öffentliche Reden halten, mit kernigen Aussagen Gewissen wachrütteln, die ansprechen, motivieren und zum Mitmachen animieren, die sich unserem Ideal bislang noch verschlossen zeigen?
Ich denke, wir müssen unseren Fokus bündeln und auf ein Thema lenken. Unsere vorrangige Aufgabe könnte lauten: Wie sprechen wir die Mitmenschen an? – und dann – Welche politischen Parteien können wegen ihrer eigenen Verlautbarungen und Wahlversprechen gar nicht anders, als uns zu unterstützen? Damit könnten wir sie alle dazu bringen, sich unserem Aufruf anzuschließen; denn unmenschlich will doch niemand wirken.«
Magnus war wie immer wirklich überzeugend. So machten sie sich an die Arbeit, Gedanken und Pläne zu entwickeln, um seine Vorstellungen möglichst schnell und effektiv umzusetzen.
Schon bei der nächsten Zusammenkunft legten sie Skizzen vor, wie Transparente aussehen könnten. Kindergesichter, traurig und herzergreifend baten um Hilfe. Mütter flehten um Brot für ihre Kleinen. Einprägsame Slogans waren ausgedacht, Artikel für die regionalen und überregionalen Medien geschrieben worden, und bald waren die besten Arbeiten gekürt.
Zwei Wochen später konnte die erste Demonstration stattfinden. Es liefen an diesem Samstag außer den Gruppenmitgliedern noch ein paar Familienangehörige mit. Doch bei der nächsten Veranstaltung hatte sich die Anzahl der Demonstranten schon verdoppelt.
Aus anderen Gruppierungen schlossen sich ebenfalls Teilnehmer an, sodass auf einmal in allen größeren Städten der westlichen Länder fast täglich Aufmärsche stattfanden, bei denen klare Forderungen gestellt wurden.
Lange, nicht enden wollende Schlangen von gutmeinenden Menschen durchzogen die Städte und hielten ihre Transparente und Forderungen den Schaulustigen vor. Wunderbare starke Reden wurden gehalten und mancher, der noch nicht mitmarschiert war, ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken.
Die einen wollten den Hunger besiegen, die anderen die Waffenaufrüstung der ganzen Welt stoppen, wieder andere hatten sich auf die Fahnen geschrieben, die Globalisierung zu verteufeln, die die ärmsten Länder zugunsten von wenigen zu Opfern machte.
Die immer größer werdende Schar hatte nur das Gute im Sinn. Sie wollten retten, beschützen, versorgen und helfen – überall auf der Welt.
Viele Interessen wurden da gebündelt, und die Politiker machten gute Miene zu dem ihnen aufgezwungenen Spiel. Notgedrungen mussten sie Besserung geloben, ohne es wirklich zu wollen. Sie hatten sich eigentlich wählen lassen, nicht um zu arbeiten und ihre ganze Kraft ihrem Volk zukommen zu lassen, sondern um ein ganz formidables Einkommen, jede Menge Privilegien und einen sicheren Altersruhestand genießen zu können.
Durch den Druck der Straße kamen sie nicht umhin, zeitweise ihre Komfortzone zu verlassen und zumindest vordergründig Verständnis zu zeigen, in dem sie sich den Demonstrationen anschlossen, getrieben auch von der politischen Opposition, die sie ebenfalls nicht zur Ruhe kommen ließ.
Es wurden Versprechungen in alle Richtungen abgegeben, die selbstverständlich nicht gehalten wurden. Ausreden fand man dafür immer. Man hatte schließlich lange genug geübt, andere für die eigenen Fehler und Versagen verantwortlich zu machen.
Leider kam es auch bei den ›Weltverbesserern‹, wie in fast jeder Gruppe, zu Unstimmigkeiten. Sie hatten gleiche Ziele, aber unterschiedliche Wege dorthin. Und die Streitereien während der Zusammenkünfte und über die Medien wurden immer aggressiver. Es zeichnete sich bald ab, dass sich die einmal so große Gruppe selbst zerlegen würde. Nur ein paar wenige Unentwegte hielten durch und versuchten permanent mit ihren Ideen zu den Menschen durchzudringen, die längst schon den Glauben daran aufgegeben hatten, in der Welt irgendetwas zum Guten verändern zu können.
Wieder eine Organisation, die sich zerstritten hatte und ihre Niederlagen eingestehen musste.
Und wieder nickte er hämisch lächelnd über die natürlich gescheiterten Bemühungen dieser törichten, blauäugigen und nichts ahnenden Menschen.
* * *
Von Kleinstaaterei bis hin zu ganzen Nationen schlossen sich die Menschen in der Vergangenheit zusammen. Dadurch wurden sie stärker und konnten ihre Interessen besser durchsetzen.
Aus Tauschgeschäften wurden Handelsgeschäfte, in denen das Geld als die Währung eingeführt wurde, mit der man kaufen und verkaufen konnte.
Die Banken begannen sich zu vermehren. Sie redeten den Leuten ein, dass es doch schön sei, sich einen Wunsch zu erfüllen, noch bevor man das Geld dafür zusammengespart hatte. Gern vergaben sie Kredite, die zu einer wundersamen Vermehrung des Zahlungsmittels führte. Neben den Zinsen wurde Zinseszins berechnet. Die Menschen merkten nicht, wie ihnen die Taschen immer häufiger und intensiver geleert wurden, während die Finanzwirtschaft riesige Vermögen scheffelte.
Auch dieser Plan ging auf. Die meisten Menschen mussten arbeiten mühten sich vergeblich ab und bekamen oft nur wenig Chancen, im Leben weiterzukommen. Andere wiederum stopften sich die Taschen voll und herrschten über ein so riesiges Kapital, dass sie selber nicht mehr einschätzen konnten, über wieviel Reichtum sie eigentlich verfügten.
Es kam dazu, dass sogar die Medien meldeten:
›62 Menschen auf dem Planeten besitzen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen, das sind etwa 3,5 Milliarden Menschen. Und während die Superreichen ihre Besitztümer in den vergangenen fünf Jahren kräftig mehren konnten (ihr Wert wuchs um 542 Milliarden US-Dollar), schrumpfte das Bisschen, was die Armen ihr Eigen nennen, brutal zusammen – der Wert sank um fast eine Billion US-Dollar. Unser Wirtschaftssystem, warnte eine Entwicklungshilfeorganisation Anfang dieser Woche, komme vor allem den Reichen zugute.‹
Durch diese immer wiederkehrenden Meldungen wurde eine Debatte losgetreten, die von Neid und Missgunst geprägt war. Die Armen fühlten sich um ihr Recht auf ein menschenwürdiges Dasein betrogen, von denen, die im Geld sprichwörtlich baden konnten.
Wo immer der Herr der Welt eine Möglichkeit fand, Zwietracht zu säen, machte er davon Gebrauch. Er freute sich diebisch, dass alle so schön mitspielten. Die Reichen konnten gar nicht genug davon bekommen, ihren Reichtum zur Schau zu stellen – Privatjets, tolle luxuriöse Yachten, für die einen Durchschnittsbürger ein Leben lang hätte sparen müssen, schöne Frauen und Privatinseln. Sie flogen mal schnell zum Shoppen nach Übersee.
Währenddessen hatte manche Familie, selbst bei zwei Verdienern, oft genug Schwierigkeiten, ihre Rechnungen zu bezahlen. Und das Heer der Arbeitslosen wurde unendlich groß auf der Welt. Hunger und Krankheiten nahmen die Armen vor der Zeit von der Erde.
Die Wirtschaftsbosse weltumspannender Unternehmen genehmigten sich von dem, durch den Fleiß ihrer schlechtbezahlten Arbeiter schwer erwirtschafteten Gewinn unverschämt hohe Gehälter, ohne die entsprechende Leistung dafür zu erbringen. Sie bedienten sich mit tolldreister Gefühlskälte an Unternehmen, die sie, sobald sie nicht mehr genügend rentabel erschienen, einfach zugrunde gehen ließen. Ihnen war das Schicksal der Menschen, die ihnen einen exklusiven Lebenswandel ermöglicht hatten, völlig gleichgültig.
Wegen irgendwelcher Ideologien wurden ganze Wirtschaftszweige eliminiert, Volksgesellschaften brachen zusammen. Billige Arbeitskräfte wurden von überall her angekarrt, um sie auszupressen und die einheimische Bevölkerung zu immer größeren Zugeständnissen zu zwingen, mit Lohnkürzungen einverstanden zu sein.
Die Not machte sich breit.
So wurden ehemals wirtschaftlich sichere Länder nacheinander Entwicklungsländern gemacht. Da keine Steuern mehr eingenommen werden konnten, verfiel die Infrastruktur, die Sicherheits- und Pflegekräfte konnten nicht mehr bezahlt werden. So brach zwangsläufig Anarchie aus. Und wieder war es der Stärkere, der dieses Spiel zunächst einmal gewann. Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Mut und Nächstenliebe verschwanden. Die einzige Perspektive, die die Menschen noch hatten war, sich irgendwie durchzuschlagen, oft auch im wahrsten Sinne des Wortes.
Das Leben erlosch mehr und mehr. Die Städte wurden grauer. Die Überlebenden wünschten sich oft nur noch den Tod, und manche halfen nach.
Und da saß einer in seiner Villa und rieb sich die Hände. Er würde alle, die es wollten, wieder glücklich machen. Seine Zeit würde bald kommen.
* * *
Die Aufdecker waren schwerer zu fassen als die Weltverbesserer. Sie trafen sich nicht, sie hielten Kontakt über das Internet. Sie waren diejenigen, die Verschwörungen ans Tageslicht brachten. Sie enthüllten durch akribische Recherche so manches Verbrechen, das gegen die Menschheit gerichtet war – wie Kriege durch Lügen in Gang gesetzt wurden, und dass man in den Giftschränken des Militärs gefährliche Substanzen entwickelte, die dann auch an Menschen ausprobiert wurden.
Durch den seit vielen Jahren etablierten Feminismus, der der Menschheit nichts als Schaden zugefügt hatte, wurde jetzt auch noch die Sexualisierung kleinster Kinder geplant und umgesetzt. Natürlich – da waren sie sich ganz sicher – wird den Pädophilen damit in die Hände gespielt.
Sie brachten die Verbrechen, die Großkonzerne reich und die Finanzelite zu Milliardären gemacht hatte, an die Öffentlichkeit.
Sie gingen seltsamen Ereignissen auf den Grund und gaben sich nicht mit der Ausrede »Zufall« zufrieden. Sie fanden beispielsweise heraus, dass Häuser zum Einsturz gebracht, Brücken gesprengt, Schiffe versenkt und Flugzeuge vom Himmel geholt wurden, um etwas zu vertuschen oder Hass zu schüren, Unschuldige zu beschuldigen und Strafen zu vollziehen, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ganz willkürlich.
Es wurde versucht, sie durch Verspotten unglaubwürdig zu machen. Als immer mehr Wahrheiten ans Tageslicht kamen, begann man, sie als Verschwörungstheoretiker zu denunzieren, zu verfolgen, sie in ihrer Existenz zu bedrohen und durch plötzliche tödliche Unfälle, Herzinfarkte oder erdachte Suizide unschädlich zu machen.
Sie wurden den verbrecherischen Eliten außerordentlich gefährlich. Viele nicht aufgedeckte Schandtaten schlummerten noch in verschwiegenen Kellern. Die Schönen und Reichen, die sich oft zu Handlangern des Herrn der Welt gemacht hatten, und deshalb mit Macht und Geld belohnt wurden, zitterten vor dem nächsten Tag, an dem etwas Schreckliches über sie herausgefunden werden könnte.
Es wurden starke Schutzwälle gegen die Gruppe errichtet, die sich verschworen hatte, die Laster und Vergehen der Mächtigen aufzudecken und sie zu entlarven. Trotzdem gelang es immer wieder einen Skandal, eine Abscheulichkeit und Teufelei aufzudecken.
Die Mitglieder dieser Gruppe waren schwer auszumachen. Immer wieder gelang es den Sicherheitsbehörden Widerstandsnester, Zirkel und Gruppen auszuheben. Doch sie schienen kein Ende zu nehmen. Und die Zustimmung zu ihnen wuchs in den Völkern von einer Enttarnung zur nächsten stetig.
Haarsträubende Enthüllungen machten die Menschen sprachlos, auch vor Entsetzen. Wie konnten solche Ungeheuerlichkeiten so lange unaufgeklärt und verschleiert bleiben?
Wie gingen die Eliteverbrecher vor? Unliebsame oder den eigenen Interessen entgegenstehende politische Systeme wurden verunglimpft, dann durch Falschmeldungen kriminalisiert, letztendlich vernichtet und durch eigene Machthaber ersetzt. Dann konnten die Völker ausgepresst werden, ohne sich wehren zu können, weil Gefängnisstrafen und Todesurteile schnell und ohne Gerichtsverhandlung vollstreckt wurden.
Krankheiten wurden in die ärmsten Länder der Welt gebracht, Keime, denen die unterernährten und verelendeten armen Wesen tausendfach zum Opfer fielen. Hier wurden auf deren Rücken Experimente zur biologischen Kriegsführung durchgeführt.
Die Gruppe, die sich die Offenlegung der Machenschaften dieser mafiösen Strukturen zur Aufgabe gemacht hatte, kannten sich in den allermeisten Fällen nicht persönlich. Sie waren durch das Internet miteinander verflochten. Sobald ein Account in den sozialen Netzwerken geschlossen wurde, tauchte derselbe Wortführer irgendwo unter einem anderen Namen wieder auf oder ein anderer trat an seine Stelle. Sie alle trieb einzig und allein die Erkenntnis, dass die Wahrheit durch die Mächtigen nicht ans Licht befördert werden sollte. Sie sahen sich daher gezwungen, dort nachzuhelfen, wo Ermittlungsbeauftragte durch Korruption oder Zwang nicht weiterkamen.
Diese Gruppe hatte sich ebenfalls verschworen, gegen das Böse in der Welt aufzustehen, es zu entlarven und dadurch zu vernichten.
Die Elite wusste durchaus, sich zu wehren. Sie schleusten ›U-Boote‹ in die Internetforen, die ihrerseits die doch sehr umsichtig agierende Gemeinschaft unterwanderten, indem sie gut recherchierte Mitarbeit leisteten und so die Ahnungslosen von ihrer Zuverlässigkeit überzeugten. Durch diese Infiltration gelang es, die eine oder andere Gruppe ausfindig zu machen und sie zu eliminieren.
Auch diese Rebellen waren sich nicht bewusst, dass sie mit ihrer Mühe und den Opfern, die sie fast täglich brachten, nur einem in die Hände spielten. Er hatte durchaus ein Interesse daran, dass die Armen gegen die Reichen, die Unterdrücker gegen die Unterdrückten, die Oberschicht gegen die Unterschicht ausgespielt wurden. Er freute sich insgeheim über die Kämpfe, die unter ihnen ausbrachen, ohne dass er dabei in Verdacht geriet.
* * *
Die einzigen ernstzunehmenden Gegner, so waren sich Avtix, Paméu und ihr Chef einig, waren die Noturos. Sie bekam man extrem schwer zu fassen.
Freundlich und loyal kamen sie pünktlich ihren Aufgaben nach. Sie waren herzlich, voller Teilnahme anderen Menschen gegenüber und untereinander teilten sie alles. Sie waren weder durch Konsum jeglicher Art, noch durch Anfeindungen noch Bestechungen zu verführen. Ihnen genügte das was sie hatten. Sie dachten nur gut voneinander und auch von den übrigen Menschen. Ihre Wahrheitsliebe war sprichwörtlich. Gut, das war vielleicht ein Manko, bei dem man sie ein wenig verspotten konnte. Aber sie waren dadurch nicht wirklich zu verunsichern oder zu verletzen.
Ohne Argwohn und ohne Bitterkeit begegneten sie selbst denen, die ihnen Schaden zufügten. Ihre Gebete beinhalteten immer auch die Vergebung aller bösen Attacken. Sie nannten sich Fische, und so waren sie. Sie rutschten allen Angreifern durch die Finger. Jede Anklage gegen sie brach in sich zusammen. Sie stellten sich nicht gegen die Regierung, sie opponierten nicht, sie verurteilten nicht – sie waren einfach schwer fassbar.
Wie damals, vor mehr als 1800 Jahren, als die Noturos wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt den Löwen in der Arena vorgeworfen wurden. Einer erinnerte sich noch immer mit Zähneknirschen an diese Tage. Sie hatten im Theaterrund einen Kreis gebildet und sich an den Händen gehalten. Dann wurden die hungrigen Bestien auf sie gehetzt. Die Noturos sangen! Man konnte es kaum fassen! Er fuhr innerlich noch immer aus der Haut, wenn er daran dachte. Sie lobten ihren König, dankten IHM und starben dabei. Einer nach dem anderen. Und der letzte Ton ihrer Lieder verklang erst, als der Allerletzte von ihnen auch umgebracht worden war.
Niemand auf den Rängen jubelte, wie es eigentlich üblich war, wenn Gladiatoren ihre Kämpfe ausfochten und der Sieger gekürt wurde. Hier erfassten die Menschen, dass das kein fairer Kampf, sondern reiner Mord war, und ein betretenes Schweigen breitete sich unter den Zuschauern aus.
Was für eine Niederlage für ihn, den Gott der Welt! Diese Gefolterten sollten doch schreien, um Gnade betteln, sich ihm unterwerfen. Er hätte sie natürlich begnadigt. Doch sie winselten nicht! Unglaublich! Und das passierte ihm immer wieder. Er ließ sie auf Streckbänken foltern, er ließ sie an Bäume knüpfen, sie kreuzigen, sie am Marterholz verbrennen. Und was taten sie? – Sie vergaben ihren Feinden und lobten ihren König.
Immer kurz vor seinem Ziel, sie ausgerottet zu haben – dafür wurde Paméu eingesetzt, der die Kirchen als Unterstützung gewinnen konnte – entdeckte er wütend, dass doch noch irgendwo eine kleine Gruppe überlebt hatte. Grimmig musste er mit ansehen, wie sie sich vermehrten, trotz Verfolgung und versuchter Ausrottung. Vielleicht auch nicht trotz, sondern wegen! Einer starb, zwei erhoben. Es grenzte an Hexerei, aber es war keine, das wusste er genau, denn damit kannte er sich bestens aus. Er hatte die Zauberei schließlich erfunden und zu den Menschen persönlich gebracht, die sich seiner Güte würdig erwiesen hatten.
Hatte ER etwa immer wieder eingegriffen, ER, wegen dem das hier alles stattfand? IHM wollte er beweisen, dass sie es nicht wert gewesen waren, ihm vorgezogen zu werden! Es sollte IHN quälen und tief verletzen, wenn ER sähe, wozu sie fähig waren. Das klappte ja auch bei den meisten, doch die Noturos machten das Konzept kaputt, denn er wollte IHM vorführen, dass nicht nur fast alle, sondern ausnahmslos alle unwürdig waren.