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ОглавлениеDer Herbst lag schon spürbar in der Luft an diesem Vormittag, auch wenn sich die Sonne immer wieder einen Weg durch die Wolkenlücken bahnte und ihre Strahlen wie gleißende Sterne auf der grünblauen Oberfläche des Neckars hüpften. Wie schwimmende Farbtupfer trieben die ersten Blätter flussabwärts, dem Stauwehr entgegen, vor dem sich das Wasser in einem spiegelnden See sammelte und jede Fließbewegung zum Stillstand zu kommen schien.
Viel zu früh, jetzt, Ende August, sinnierte Babs Wagner und sah den Stockenten zu, die im Flachwasser vor der Platanenallee nach Nahrung suchten. Vom Erkerfenster des Cafés im Haus neben der Eberhardsbrücke blickte sie über den schmalen Flussarm, auf dem sich an lauen Sommerabenden Touristen und Studenten in den langen Holzkähnen stromaufwärts entlang der alten Stadtmauer bis unter die Türme des Schlosses Hohentübingen stochern ließen.
Lange her, dachte Babs, zuletzt hatte sie zusammen mit Linda einen solchen Stocherkahnausflug gemacht. Lindas kleine Tochter Sarah war damals dabei gewesen, ein Mädchen im Vorschulalter, und sie hatten großen Spaß gehabt, im Bug des Stocherkahns zu grillen, während sie ihr Exfreund Steffen, der selbst einer Studentenverbindung angehört und so das Stochern gelernt hatte, mit gezielten Stößen der fünf Meter langen Stange langsam um die Platanenallee herumgesteuert hatte. Über den zweiten, schmäleren Flussarm waren sie wieder zum Liegeplatz zurückgekehrt, hatten noch ein Eis gegessen und den herrlichen Abend genossen.
Einiges war passiert in dieser Zeit; Babs hatte sich von Steffen, dem überarbeiteten Rechtsanwalt, getrennt, der kaum einmal einen Abend freihatte und ständig in Gedanken bei seinen Mandanten war. Sie hatte herausbekommen, dass eine Frau, seine neue Kanzleipartnerin, dahintersteckte und einen Schlussstrich gezogen. Doch im Gegenteil zu Linda, die noch immer ihrer großen Liebe Alan Scott hinterhertrauerte, hatte sie schon nach wenigen Tagen wieder eine neue Beziehung begonnen.
Babs hatte auf Lindas Liaison mit Alan in Afrika nie besonders viel gegeben, es war für sie, die Realistin, nicht mehr als eine Urlaubsbekanntschaft, eine Liebelei, die sich im Grau des Alltags wieder verlor und die man zu Hause im gewohnten Trott rasch vergaß. Doch Linda Roloff hatte Alan Scott offensichtlich nie vergessen. Auch wenn meist Monate zwischen ihren Wiedersehen lagen und sich Alan nie für eine Zukunft in Deutschland entscheiden konnte.
Vor ein paar Jahren hatte Linda ihn kennengelernt, ein zärtliches Raubein, hatte sie später geschwärmt. Er hatte ihr geholfen, ihren verschollenen Exmann in Afrika wiederzufinden und war auch für ein paar Tage in Deutschland aufgetaucht. Aber so schnell er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.
Ein Jahr später hatten sie sich wiedergetroffen, als Linda bei der Recherche in einem Mordfall abermals seine Hilfe brauchte. Linda war danach allein nach Deutschland zurückgekehrt, in der festen Überzeugung, in Alan Scott ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch sein Versprechen, sie in Deutschland zu besuchen, hatte er nie eingelöst. Und jetzt das endgültige Aus?
Babs wusste es nicht genau, Linda hatte ja nicht darüber sprechen wollen. Nur soviel war ihr klar: Sie hatte auf ihn gewartet, und er war nicht gekommen. Ohne etwas von sich hören zu lassen. Dabei war Linda so voll Zuversicht gewesen. Alan kommt nach Deutschland, hatte sie gesagt. Linda hatte Pläne geschmiedet, Pläne für eine gemeinsame Zukunft, hatte sogar begonnen, sich nach einem Job für ihn umzusehen. Doch als sie ihn am Flughafen abholen wollte, war er nicht unter den Passagieren gewesen. Und schlimmer noch: Er hatte nicht einmal eine Nachricht für sie hinterlassen, kein Anruf, keine SMS. Blieb verschwunden, bis zum heutigen Tag.
Babs war anders als Linda. Konsequenter auf alle Fälle, dachte sie. Sie hätte, schon als er damals nicht nach Deutschland gekommen war, einfach Schluss gemacht und sich erneut auf dem Markt umgesehen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, dass es funktionierte: Clemens Edel war aufgetaucht, einfach so, wie gerufen, in ihr Leben getreten. Sie hatte sich in ihn verliebt, vor wenigen Wochen erst. Und auf einmal war das Leben wieder schön geworden.
»Und was ist mit Steffen?«, war die typische Reaktion von Linda gewesen, als ihr Babs nach ihrer Rückkehr aus Südafrika von Clemens erzählt hatte. Immerhin war sie über fünf Jahre mit Steffen zusammen gewesen, und Linda hatte eigentlich eher mit einer Hochzeit als mit einer Trennung gerechnet.
»Er ist jetzt mit seiner Kanzleipartnerin zusammen!«, hatte Babs ihr kurz angebunden eröffnet, das habe sich schon eine ganze Zeit lang angebahnt.
»Aber du hast mir nie etwas davon erzählt«, hatte sich Linda empört. »Im Gegenteil, du hattest Steffen sogar noch gebeten, mir bei meinen Problemen in Südafrika zu helfen!«
»Und? – Hat er es nicht getan?«
»Doch! Sogar so professionell, dass seine Recherche dazu beigetragen hat, den Fall letzten Endes zu lösen! Ich hatte ja keine Ahnung, dass er …«
»Du hast dich ja auch zu der Zeit für nichts anderes interessiert als für deinen Alan Scott und diesen mysteriösen Mord am Märchensee«, hatte Babs vorwurfsvoll zurückgegeben. Linda hatte es dabei belassen und Babs zu ihrem neuen Lover gratuliert. Clemens war ein netter Kerl, das würde auch Linda zugeben müssen, wenn sie Babs erst einmal einander vorgestellt hätte. Er war fast zehn Jahre älter als sie und lebte von Gelegenheitsjobs. Mal fuhr er für einen Pizzaservice, mal arbeitete er in einem der zahlreichen Antiquariate in der Stadt.
Dort hatte Babs ihn auch kennengelernt, als sie nach einem originellen Geburtstagsgeschenk für ihre Schwägerin suchte, die alte Märchenbücher sammelte. Clemens Edel hatte sie super beraten und sich als ein sehr charmanter Verkäufer erwiesen. Unaufdringlich hatte er sie nach ihrem Namen gefragt und ob er sie denn mal auf einen Cappuccino einladen dürfe, und Babs hatte sich seine Handynummer geben lassen. Zweimal hatten sie sich in der Mittagspause auf dem Tübinger Marktplatz getroffen und Babs hatte festgestellt, dass sie sich seinem Charme einfach nicht entziehen konnte. Steffen und seine Tussi waren vergessen.
Dies gelang Linda nicht. Für sie war nach Scotts Fernbleiben eine Welt zusammengebrochen. Alle Freude, alle Lebenslust schienen aus ihr gewichen zu sein. Sie stürzte sich in Arbeit, Tag und Nacht, nur um nicht an Alan Scott denken zu müssen. Kein Lebenszeichen, war Lindas einziger Kommentar, wenn Babs sie darauf ansprach. Kein Lebenszeichen – was immer das zu bedeuten hatte. Sie musste mit ihr darüber sprechen, heute und hier.
Babs sah zur Uhr. Kurz nach halb elf. Sonst war Linda immer pünktlich. Sie sah zum Fenster hinaus. Neckar, Platanen, Hölderlinturm. Ein paar Zeilen aus einem Gedicht des Romantikers, der 36 Jahre bis zu seinem Tod psychisch krank in einem Zimmer in dem gelb getünchten Turm verbracht hatte, fielen ihr ein:
Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,
Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;
So kam auch ich zur Heimat, hätt ich
Güter so viele, wie Leid, geerntet.
Plötzlich war Linda da. Kam direkt auf sie zu und nahm ohne Worte an ihrem Tisch Platz.
»Wartest du schon lange?«, fragte sie, nachdem sie eine Latte macchiato bestellt hatte.
»Zehn Minuten«, entgegnete Babs und rührte ihren Cappuccino um. Sie überlegte, ob sie gleich mit der Tür ins Haus fallen oder erst mal abwarten sollte. Wer eröffnet das Spiel? Offen oder verdeckt? Selten hatte sie sich so unsicher gefühlt. Was ist eigentlich mit dir los? Schon wollte sie fragen, doch stattdessen schluckte sie nur trocken. Sie kannte ja die Ursache für Lindas schlechte Laune. Wie begegnete man Liebeskummer am besten? Verdammt!, schoss es ihr durch den Kopf, jetzt sitzt sie dir gegenüber und du weißt nicht, was du sagen sollst! Warum war das Leben manchmal nur so kompliziert?
»Ich muss wohl ziemlich unausstehlich sein in letzter Zeit«, Linda spielte ihr den Ball offen zu. »Sorry, ich hab mich einfach schlecht im Griff«, schob sie gleich noch eine Entschuldigung nach. Babs hatte sofort eine Antwort auf der Zunge und spuckte sie aus, ohne lange zu überlegen:
»Unausstehlich ist noch gelinde ausgedrückt«, unterstrich sie und erschrak über den harten Klang ihrer Stimme. »Du bist zur Zeit ein echter Kotzbrocken!«, hörte sie sich sagen und wäre sich am liebsten im selben Moment über den Mund gefahren; doch jetzt war es heraus.
»Tut mir leid«, sagte Linda und legte ihre Hand auf Babs Unterarm. »Ich komm einfach nicht damit klar, dass er so überhaupt nichts von sich hören lässt.«
Er, dachte Babs, sie nennt schon nicht mal mehr seinen Namen!
»Aber das ist doch kein Grund, alle Welt dafür verantwortlich zu machen«, sagte sie, »ich hätte dir so gern geholfen in den letzten Tagen, aber du hast ja keinen Menschen an dich herangelassen.«
»Ich wollte eben allein sein«, entschuldigte sich Linda. »Es tut so weh, weißt du …«
Babs nickte. »Ich versteh dich doch, das ist es ja gerade. Und ich hätte dich so gern getröstet. Aber du hast immer nur gearbeitet und dich abgeschottet. Hast du denn inzwischen mal etwas von ihm gehört?«
Linda schüttelte den Kopf. »Er meldet sich nach wie vor nicht. Das hat mich zuerst traurig gemacht, dann wütend, und manchmal weiß ich überhaupt nicht, was ich tun soll.«
Babs sagte nichts, denn sie spürte, dass ihre Freundin noch einiges loszuwerden hatte.
»Als er nicht kam, vorletzten Sonntag mit der Maschine aus Kenya, du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe. Er hatte es mir doch so versprochen! Er hatte mir die Flugdaten durchgegeben, und wir hatten verabredet, dass ich ihn in Stuttgart abholen sollte. Als er nicht in der Maschine war, hab ich mich ins Auto gesetzt und geflennt wie ein fünfjähriges Mädchen, das nicht auf den Spielplatz darf.«
»Und dann hast du die Blumen weggeworfen, die du für ihn gekauft hattest.«
»Woher weißt du?«
»Ich war am Sonntagabend noch am Märchensee spazieren. Da trieben rote Rosen auf den Wasserlinsen am Ufer, und ich wusste, dass du öfters am Märchensee warst, wegen der Geschichte mit Marius Steyn.«
Linda nickte. Marius Steyn; man hatte die Leiche des alten Richters im Märchensee bei Wendelsheim gefunden, wenige Wochen erst war das her; zum selben Zeitpunkt war Alans Hilferuf aus Südafrika gekommen. Sie hatten ihn für schuldig am Tod eines Mannes gehalten, und Linda war, ohne viel zu zögern, nach Johannesburg gereist, um ihm aus der Patsche zu helfen.
»Hast du denn irgendetwas herausgefunden, weshalb er nicht in der Maschine war?«, fragte Babs jetzt, doch Linda verneinte.
»Ich habe alles versucht, was von hier aus möglich ist«, sagte sie. »Ich bekomme nur die Meldung, dass seine Nummer nicht zu erreichen ist, wenn ich ihn auf seinem Handy anrufe; meine SMS bleiben unbeantwortet. Das hat aber nichts zu bedeuten, in vielen Gegenden Kenyas gibt es kein Netz, und wer weiß, wo er sich herumgetrieben hat.«
»Und was ist mit der Farm, auf der er arbeitet?«
»Auf Simba King ist er gewesen, wie verabredet. Er hat seine Klamotten gewechselt, hat dort Bescheid gesagt, dass er für unbestimmte Zeit nach Deutschland wollte und ist dann mit seinem Landcruiser über Nairobi zurück nach Mombasa gefahren, um dort noch einiges zu regeln. Dort liegt ja noch immer sein Boot, und er hat seine Wohnung an der Südküste.«
»Dort, wo du ihn damals kennengelernt hast?«
Linda nickte. »Er hat ein paar Leute, die den Laden dort für ihn schmeißen, mit den Touristen zum Hochseeangeln fahren und die Surfbretter vermieten. Aber die wissen auch nicht, wo er stecken könnte.«
»Weißt du das sicher?«
»Ja. Ich habe Rob gebeten, sich dort mal umzusehen.«
»Du hast deinen Ex angerufen?«
»Ja, warum denn nicht? Er lebt ja noch immer mit Georgia Marsh zusammen, auf der Shamba Kifaru bei Isiolo, wenn er nicht gerade im Ruwenzori nach Gorillas sucht. Rob war vor ein paar Tagen geschäftlich in Ukunda, südlich von Mombasa, und hat sich in dem Hotel umgesehen, für das Alan arbeitet. Seine Hütte war abgeschlossen, der Landcruiser fehlte. Er ist wie vom Erdboden verschluckt, seit er die Simba King Lodge verlassen hat. Ich kann dir sagen, dass mich das ziemlich beunruhigt. Rob hat ihn jetzt offiziell als vermisst gemeldet.«
Babs holte Luft. Es war also mehr als nur Liebeskummer! Linda machte sich ernsthaft Sorgen um Alan Scott.
»Glaubst du denn, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte?«, fragte Babs vorsichtig.
Statt einer Antwort rann eine Träne über Lindas Wange.
»Ich sitze hier wie auf Kohlen. Ich weiß nicht, wie ich auf andere Gedanken kommen soll.«
»Hast du dich deshalb aus der Redaktionsschicht und aus dem Moderationsplan rausnehmen lassen, damit du jederzeit weg kannst?«
Linda nickte.
»Okay, das erklärt manches. Jetzt weiß ich, weshalb du nur Kurzbeiträge und Umfragen gemacht hast, und trotzdem Tag und Nacht im Sender warst.«
Linda bemühte sich nicht weiter, ihre Tränen zurückzuhalten. »In Südafrika war alles so … so schön. Wir waren so glücklich. Ich versteh das alles nicht.«
»Du solltest nicht gleich das Schlimmste denken«, sagte Babs, »du musst dich ablenken.«
Linda nickte. »Was glaubst du, warum ich mich so in die Arbeit stürze? Daheim fällt mir nur die Decke auf den Kopf.«
»Und warum kommst du nicht wie früher einfach auf ein Glas zu mir?«
»Ich hatte, ehrlich gesagt, einfach keine Lust auf Frauengespräche, weißt du. Da würde sich doch auch wieder alles um Männer drehen.«
»Kann schon sein. Apropos: Du hast Clemens ja immer noch nicht kennengelernt!«
»Deinen Neuen?« Linda zögerte. »Stimmt. Soll ja ziemlich gut aussehen.«
Babs konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Wer hat dir das denn erzählt? Der übliche Flurfunk wahrscheinlich. Aber lassen wir das. Was ist jetzt mit dir? Wie soll das denn weitergehen?«
Linda seufzte.
»Ich hätte große Lust, nach Afrika zu fliegen und nach ihm zu suchen, aber Rob meinte, dass das nichts bringt. Ich könnte dort auch nicht mehr ausrichten als er.«
»Ich bin jetzt erst mal froh, dass wir miteinander gesprochen haben«, meinte Babs.
»Du hattest recht. Dieses Abschotten hat nichts gebracht. Es hat gut getan, alles mal loszuwerden. Jetzt weißt du Bescheid. Und ich muss versuchen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden – was machen wir heute Abend?«, fragte Linda gespielt unternehmungslustig.
»Ach, heute Abend ist ziemlich schlecht«, warf Babs ein, »Clemens ist seit zwei Tagen für die Bücherschau in Karlsruhe unterwegs und will heute Abend zurückkommen. Und heute Nachmittag hab ich noch einen Termin am See.«
»Du fährst an den Bodensee?«, fragte Linda interessiert. »Wie kommt’s?«
»’ne PK. Der Dossenberg hat mich gefragt.«
»Unser neuer Redakteur?«
»Genau. Ist eigentlich ganz nett. Ich hatte noch nicht viel mit ihm zu tun. Und du?«
»Auch nicht. Ist mir außerdem ’ne Nummer zu groß.« Linda spielte auf die 1,92 Meter an, die Dossenberg dazu zwangen, vor jeder Tür im Sender den Kopf einzuziehen. »Und wieso an den See?«
»Wegen dieser Baumleiche.«
»Baumleiche?«
»Ja. Hast du heute noch keine Nachrichten gehört?«
»Nein. Keine Zeit gehabt.«
»Man hat in Friedrichshafen einen Toten gefunden, ziemlich dubios, die Leiche lag auf einem Baum. Kein Mensch weiß, wie sie da hinaufgekommen ist, entweder ist der Tote da hinaufgeklettert, oder der Mörder war ein Affe!« Babs lachte über ihren Witz, doch Linda blieb ernst. »Wie bei ›Mord in der Rue Morgue‹ von Edgar Allan Poe!«, sagte Babs noch und bemerkte erst jetzt Lindas nachdenklichen Gesichtsausdruck.
»Seltsam …« Ihre Stimme war zu einem Flüstern abgesenkt und ihr Blick ging hinaus zu den Platanen, deren Astwerk schon Blätter verlor. »Eine Leiche auf einem Baum.« Sie stellte sich den gekrümmten Körper eines Toten vor, wie er dort in der Krone einer Platane hing, drei Meter über dem Boden, von unsichtbaren Flügeln dorthin getragen …
»Linda, hast du was?« Babs’ Frage holte sie in die Realität zurück.
»Ja?«
»Du hast eben so komisch reagiert. Ist was?«
»Nein, nichts«, entgegnete sie. »Mir fiel nur gerade ein, dass mir Rob heute Morgen am Telefon was erzählt hat, von einem Toten im Tsavo. Der lag auch auf einem Baum. Vermutlich hat ihn ein Leopard …«, sie brach ab.
»Könnte denn ein Leopard einen Menschen auf einen Baum schleppen?«
»Oh ja. Leoparden machen das immer. Beute, die oft schwerer ist als sie selbst.«
»Wann hat man die Leiche gefunden?«
»Heute Nacht. Rob wusste nichts Näheres. Er hat im Radio davon gehört.«
»Und der Tote? Was weiß man über ihn?«
»Rob sagte, man hat ihn noch nicht identifiziert. Ein Weißer, hatte keine Papiere bei sich. Lag wohl auch schon ein paar Tage im Baum.«
»Und der Leopard? Hatte er ihn schon …« Babs beendete den Satz nicht, zu grausam kam ihr der Gedanke vor.
»Du meinst, ob er ihn schon angefressen hatte? Offensichtlich schon. Die Geschichte wird jetzt Tagesgespräch in den Touristenhotels sein, und jeder wird noch ein bisschen was dazudichten. Die Menschen sind schnell dabei, aus einem Raubtier einen Menschenfresser zu machen. Das hat’s in Kenya schon lange nicht mehr gegeben. Doch die ›Maneater von Tsavo‹ sind immer noch Legende.«
»Aber das waren Löwen damals?«
»Ja. Zwei alte Männchen. Haben die Bahnarbeiter gleich dutzendweise aus den Zugwaggons geholt, so wurde es jedenfalls überliefert. War um die Jahrhundertwende, als man die Bahnlinie von Mombasa nach Nairobi baute. Ein englischer Jäger namens Patterson hat die beiden Löwen dann zur Strecke gebracht. Wurde übrigens verfilmt die Geschichte, mit Michael Douglas, ein super Film. Ich hab ihn daheim auf Video.«
»Das ist ja echt komisch …«
»Was?«
»Na ja, dass in Kenya fast dasselbe passiert wie am Bodensee. Ich meine, mit der Leiche auf dem Baum.«
Babs zögerte. Ihr fiel ein, was Clemens gesagt hatte, als sie von Lindas Problemen sprachen. Die muss mal wieder raus, was anderes machen …
»Was ist?«, fragte Linda.
»Ich dachte nur, das schreit doch nach einer Recherche in beide Richtungen. Vielleicht möchtest du ja …?«
»Ich? Aber Dossenberg hat doch dich beauftragt.«
»Na und? Das wär’ doch endlich mal wieder ’ne spannende Recherche! Nicht bloß die Wirtschaftsstatistiken aus der Region und die Umfragen in der Tübinger Fußgängerzone: ›Was halten Sie vom Klimawandel …?‹. Ich finde, das kannst du ruhig wieder unseren Hospitanten überlassen. Wird Zeit, dass du mal wieder ein richtig gutes Thema anpackst!«
Linda schwieg.
»Was ist?«, fragte Babs, »hast du Lust?«
»Du meinst, an den Bodensee?« Sie sah die blaue Wasseroberfläche vor sich, die barocke Fassade der Birnau inmitten herbstlich leuchtender Rebhänge, drüben im Dunst die Umrisse der Mainau, die Unteruhldinger Pfahlbauten, die Fähre, die von Meersburg nach Konstanz übersetzte und die Segler, die ihr immer einen Hauch von Urlaub und Süden vermittelten. Sie dachte an den Zeppelinflug, den sie vor wenigen Wochen dort gemacht hatte, und an ihr Abenteuer mit dem Luftschiff in Südafrika. Sie könnte vielleicht noch mal einen Flug buchen, diesmal die andere Route, über Wasserburg und Lindau Richtung Bregenzerwald. Ein Flug in die Berge, wie damals in den Felsschluchten der Luiperdskloof.
Sie würde den See genießen, die alte Heimat wiedersehen, jetzt, wo die Touristenmassen ausblieben; endlich mal abschalten, ein, zwei Tage nur. Ja, dazu hatte sie Lust! Weg, weg von hier, fort aus Tübingen, wo sie so vieles an Alan Scott erinnerte, weil sie dort schon mal mit ihm gesessen hatte, hier mit ihm entlanggeschlendert war, er sie in ihrer Wohnung geküsst und in ihrem Bett geliebt hatte. Fort mit der verteufelten Erinnerung, weg mit der Illusion, das Leben neu beginnen. Und sie sagte: »Okay.«
Babs sah sie groß an. Damit hatte sie nicht gerechnet, und sie freute sich über Lindas spontan gefassten Entschluss.
»Du willst?«, fragte sie zur Vorsicht noch mal nach.
»Ich will. Wann beginnt die PK?«
»Heut Nachmittag um vier.«
»Und wo?«
»In Friedrichshafen. Kennst du das Polizeigebäude in der Ehlersstraße?«
Linda nickte.
»Die haben einen neuen Pressesprecher«, fügte Babs hinzu. »Er soll gut aussehen und geschieden sein …« Sie lächelte ihr spitzbübisches Lächeln und die Sommersprossen schienen in ihrem Gesicht zu tanzen. Sie beobachtete Lindas Reaktion und stellte erfreut fest, dass ihre Freundin wieder zugänglich für solche Anspielungen war.
»Na dann«, sagte sie, »noch ein Grund, den Termin zu machen!« Und zum ersten Mal seit Tagen umspielte ein Lächeln ihre Lippen.
»Kannst du nach Sarah sehen, falls es spät wird heute Abend?«
»Klar, wie immer.«
Zwei Stunden später verließ Linda Roloff Tübingen und fuhr durch das spätsommerliche Neckartal über Hirschau und Wurmlingen auf den Autobahnzubringer zur A 81 Stuttgart – Singen. Am Rasthof Hegau genehmigte sie sich einen Espresso und freute sich beim Anblick der Hegauvulkane auf den Nachmittag am Bodensee.
Sie dachte nicht, dass sie länger bleiben würde.
Sie ahnte nicht, was sie erwartete.