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Seniorbook – Leiden und Leidenschaften
ОглавлениеDer Begriff „Seniorbook“ ist eine analoge Bildung zu „Facebook“, das einen optischen Aspekt betont – das Gesicht –, eine ebenso simple wie geniale Bezeichnung, denn sie erlaubte jedem Menschen, der ein Gesicht hat, sich dort mit anderen „Gesichtern“ zu treffen.
So wurde Facebook zu einem Riesenerfolg.
Seniorbook setzte bei seiner Gründung vor zwei Jahren auf den Zeitbegriff des ALTERS und damit auf Seriosität.
Die Zielgruppe war nun eingeschränkt, der demografische Wandel versprach aber stetigen Zulauf älterer Menschen, die ihre Lebenserfahrungen untereinander austauschen würden.
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Als ich vor einem halben Jahr bei Facebook einen Hinweis auf Seniorbook entdeckte, fand ich das Angebot verlockend genug.
Im weltweiten Netz würden einem die Freunde zwar auch wegsterben wie in der Welt der Wirklichkeit, aber sie würden sicher schneller ersetzt werden können. Niemals zuvor war Kommunikation so einfach wie in unserer Zeit.
Noch vor einer Generation genügte oft ein kleiner Berg, um Nachbarn voneinander zu trennen.
Heute ist die ganze Welt durchlässig geworden, Barrieren gibt es nur noch im geistigen und seelischen Bereich, aber darüber lässt sich eben diskutieren.
Auch das zweite Wort des Kompositums Senior-book klingt seriös, fast ein wenig altmodisch, obwohl das e-book immer noch behauptet, ein Buch zu sein.
Auf so viel Seriosität kann man sich einlassen. Der Zugang verpflichtet zu nichts, er kostet nichts, er verspricht nichts. Er bietet stattdessen Rollenspiele an: den Witzbold am SCHWARZEN BRETT, den Voyeur, den Stalker, den Kontakte-Sammler, den Berichterstatter, den Poeten, den Märchenerzähler, den Exhibitionisten, den Philosophen, den Astrologen …
Ein Buch ist geduldig, es öffnet seine Seiten für alles, für einen ungelenken Vers oder ein romantisches Lied. Virtuosen des Wortes haben ihre Fans, die auf den Knien ihre Huldigung in Form von „Lesenswert“ darbringen. :-)
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Stellen wir uns vor, dieser Beobachter von Seniorbook sitzt, metaphorisch gesprochen, an einem Meer, dessen glatte Oberfläche im Licht der Sonne flimmert.
Hält man sich längere Zeit an diesem Meer auf, so spürt man, wie aus der blaugrünen Tiefe plötzlich Fangarme nach oben greifen, Schlingpflanzen sich plötzlich besitzergreifend emporrecken. Gerade kann man noch seinen Fuß in Sicherheit bringen.
Und man spürt plötzlich eine Art Sog, der einen erfasst, als gäbe es da im Meer von SB eine verborgene Strömung, vielleicht eine Nixe, die auf diesen einzigen Moment gelauert hat, den Fischer herabzuziehen. Auch ein unheimlicher Bewohner des Meeresbodens möchte eine Gefährtin in die Dunkelheit der Tiefe herablocken.
Leidenschaften, die wie Wellen heranrollen, Schaumkronen, Gischt und der Geruch nach Tang und Fischen.
Da werden Kuss-Smileys großzügig in alle Windrichtungen geworfen, alle Teile des menschlichen Körpers, die der Erotik zu Diensten sind, werden detailliert begutachtet, verglichen, gewogen, gemessen und angepriesen. Wer bietet mehr? Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist … und so weiter.
Ob ein Montagmorgen-Quickie oder ein Freitagabend-Slowly, oder Abschiedsküsse unter dem Regenschirm und einem weinenden Himmel, Schluchzen am Telefon nach der dritten Trennung – alles wird der Welt im 21. Jahrhundert mit geradezu exhibitionistischer Offenheit erzählt, berichtet, gemalt!
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Doch da lauern noch andere Ungeheuer in den Seelen der Diskutanten, die oft zu Kontrahenten werden, die ihre Position mit messerscharfer verbaler Munition verteidigen. Urinstinkte werden wach, Reviere werden abgesteckt, umzäunt, mit Riegeln und Schlössern verbarrikadiert: „Das Überschreiten der Grenzen für Christen verboten, für alle anderen irrationalen Spinner ebenfalls.“
Der eine, der etwas kann, was der andere nicht kann; der eine, der etwas glaubt, was der andere leugnet, der eine, der Chemikalien schluckt, während der andere ein paar Globuli lutscht – Gott – oder eben auch der Teufel – sei ihnen allen gnädig! Spott, Ironie, Hass, Eifersucht, Neid bilden Strudel im Meer der Leidenschaften, die die den einen oder anderen in den Abgrund ziehen.
Wer hätte noch nicht am PC geweint? Wer hätte sich nicht schon an jene schönen stillen Tage erinnert, an denen es noch kein SB gegeben hatte?
Und dann eine Melodie, das Geschenk eines lieben Menschen, so wunderbar, sanft, zärtlich, einmal gehört und in das „wirkliche Leben“ mitgenommen, Stille nach dem Sturm, Frieden nach der Schlacht, Liebe nach der Bosheit – Leiden und Leidenschaften im Meer des Lebens (SB).