Читать книгу Erfahrungen in einem sozialen Netzwerk - Edith Zeile - Страница 8
Оглавлениеa) KULTUR UND UNTERHALTUNG
Menschentypen
Psychologen oder Gerontologen könnten bei Seniorbook Feldforschung betreiben. Innerhalb kürzester Zeit könnten sie eine „Typologie des Menschen“ erstellen. Dazu habe ich schon ein wenig Vorarbeit geleistet. Wer sich unter den 15 Typen nicht wiederfindet, der ist eben ein absolutes Unikat.
Der Prediger
Er zeichnet sich durch eine hohe rhetorische Begabung aus und vertritt seine Auffassung mit großem Enthusiasmus. Manche verkennen ihn als Missionar und beben geradezu vor Abwehr. Er ist im Grunde nur von seiner Sicht der Dinge auf der Welt und im Himmel überzeugt und möchte andere daran teilhaben lassen. Im Grunde ein gütiger, aber vielleicht ein wenig übereifriger Zeitgenosse.
Der Narziss, die Narzisse
Man sieht ihn mit nacktem Oberkörper an der Fotowand hängen oder auch mit auffällig gespreizten Beinen – vor Männlichkeit strotzend – ganz ohne Kopf.
Eine Narzisse zeigt entweder ihre wunderschönen, erstaunlich glänzenden Augen unter einer prächtigen, meist blonden Mähne oder eine prall gefüllte Dirndlbluse – auch ohne Kopf möglich – und als letzte Steigerung schwarze Spitzenstrümpfe an endlos langen Beinen, die oben abrupt abgeschnitten werden und die letzte Steigerungsmöglichkeit dem Betrachter verweigern.
Eine weitere Variante ist der/die ProfilwechslerIn, die sich offenbar ständig mit sich selber langweilen und den sehhungrigen Mitmenschen viele unterschiedliche Fotos aus ihrem langen Leben vorführen.
Hier tritt sozusagen die historische Komponente hinzu, und die Aussage lautet dann: Ich war SCHON IMMER EINZIGARTIG!
Auch das ist amüsant, inspirierend und narzisstisch.
Abgesehen von Narzissen, die – wie der erste – in ihre eigene äußere Schönheit verliebt sind, gibt es den schöngeistigen Narziss. Oft fällt er schon durch einen langen Namen auf, der irgendwie aus dem Rahmen fällt, und schon deswegen fühlt er sich verpflichtet, in möglichst vielen Begabungsfeldern Großartiges zu leisten. Da werden traumhaft schöne Gedichte geschrieben, die beim Leser Gänsehaut hervorrufen, Satiren, Erzählungen, alles formvollendet, inhaltsreiche Kommentare zu verschiedensten Themen – ein Alleskönner, der das Recht hat, sich selbst zu lieben.
Das hat zwar eigentlich jeder, aber meist brauchen Narzisse zusätzlich eine Bestätigung wie der historische Narziss sein Spiegelbild im Wasser.
Der Wollüstige
Er mag sogar die Erscheinung eines zurückhaltenden Mannes konservativer Prägung annehmen, bis man, total überrascht, auf ein Foto stößt, das so gar nicht zu seinem Verhalten passt:
Nehmen wir an, er sei Fotograf und komme auf die Idee, ein ganz junges Mädchen in einer besonderen Stellung zu fotografieren.
Sie kniet auf dem Boden, beugt sich nach vorn .und stützt sich auf ihre Hände. Man sieht sie im Profil und konzentriert sich auf die schimmernde Haut ihres Körpers (ohne Kopf).
Nun genügt das dem wollüstigen Künstler noch gar nicht. Er stellt eine Kerze oben auf den reizenden Po, und nun läuft das heiße Wachs an den Schenkeln herunter. Eine junge Frau, mit einer Perlenkette aus heißem weißem Wachs bekleidet – masochistisch? Nein, zelebrierte Wollust!
Wollüstige Erzählungen gibt es zuhauf. Vor allem in der Rubrik GESCHICHTEN, DIE DAS LEBEN SCHREIBT. Da wird z.B. meist von männlichen Wollüstlern der Liebesakt ausführlich geschildert. So lässt sich alles noch einmal erleben, wenn man das rote Höschen der Geliebten auszieht – und die halbe Welt guckt zu!
Die Gouvernante
Ja, die gibt es auch noch! Sie durchsucht die Fotowand auf anstößige Objekte und drückt ihre Abscheu dann in einer kurzen Notiz am SCHWARZEN BRETT aus:
Wenn das Foto von Soundso nicht augenblicklich verschwinde, müsse sie sich hier ABMELDEN. Welcher Sittenverfall, welcher Mangel an Ästhetik!
Und dann wird in 200 bis 300 Kommentaren dieser unsägliche Affront kommentiert, zurückgewiesen, heftig unterstützt. Gedanken kreisen um das armselige Fotomodell und die liebreizende Gouvernante, die sich nun 200 bis 300 mal dem applaudierenden Publikum präsentiert.
Aufsehen erregen – warum denn nicht! Gesehen werden, erkannt werden, als Menschenfreund, als Misanthrop, als Gouvernante – das ist fast egal.
Der Guru
Es gibt ihn auch. Er meint, anderen die Welt erklären zu können. Er unterschätzt gelegentlich die anderen, die anderen unterschätzen ihn. Mitunter erscheint er als weiser, alter Lehrer, dem nichts mehr fremd ist, der seinen Weg unbeirrt geht und dem es egal ist, ob andere sich ihm anschließen oder nicht.
Das ist allerdings selten der Fall, denn er ist so gar nicht mehr von dieser Welt – und die andere Welt – gibt es sie überhaupt?
Ob er einen Bart hat? Welch lächerliche Frage!
Das Weibchen
Sie legt es darauf an, mit allen Männern Katz und Maus zu spielen. Sie lockt mit Blicken und Worten, wird verfolgt, verschlungen, angebetet – leider alles nur virtuell. Sie mag im wirklichen Leben eine kluge, treue, tüchtige Ehefrau sein, die hier – hinter Glas – ihre frühere Rolle belebt. Das ewige Spiel – neu inszeniert – und alle fallen drauf rein.
Die Angeberin
Eigentlich fällt sie nur auf, wenn sie sich in einer Notiz weitschweifig über das schlechte Niveau bei SB beklagt. Kein Mensch weiß, auf welchem Niveau sie sich selber befindet, denn meist ist sie erst kurze Zeit da, hat noch nie einen längeren Text geschrieben, und ihre Klagenotiz verzichtet großzügig auf alle Kommas.
Aber sie empfindet sich irgendwie an einem „unwürdigen Platz“, den das Schicksal ihr quasi zugemutet hat, und sie kann dieses Versehen nicht klaglos hinnehmen.
So werden an diesem Tag Hunderte ihre hohen Ansprüche loben, inbrünstig in ihr Klagelied einstimmen – oder seltener – sie um ein Körnchen Selbstkritik bitten.
Vielleicht gefällt es ihr am Abend schon besser, und sie mutiert dann zu einem Schmetterling (s. unten!).
Die Dirne
Da jeder diesen Typ kennt, genügt ein kurzer Hinweis auf die Notiz am SCHWARZEN BRETT: „Wer möchte heute Sex?“ Man braucht sich weiterhin keine Sorgen zu machen, dass diese Frage unbeantwortet bleibt.
Der Philosoph
Er schreibt alle anderen an die Wand, ellenlange Beiträge über Heidegger und Gadamer, schüttelt Sokrates-, Seneca- und Cicero-Zitate aus dem Ärmel und wird von jedem hundertsten Leser annähernd verstanden. Wer sich auf eine Diskussion einlässt, zieht immer den Kürzeren, denn er ist nebenberuflich Sophist, dreht dir das Wort im Munde um, und du stehst in kürzester Zeit als tumber Tor da. Deshalb wagen sich nur wenige aufs rhetorische Glatteis.
Leider sind Philosophen oft sehr sensibel und verletzlich, und unverstanden wollen sie auf Dauer auch nicht bleiben, so bleibt nur der Ausweg, sich ein spezielles Philosophie-Forum zu suchen.
Das ist schade, ein Verlust für die andächtige Gemeinde, die ergriffen um den Star kreist, auch wenn sie ihn nicht versteht.
Mutter Teresa
Mutter Teresa ist für alle irgendwie in Not geratene Sbler ein Geschenk des Himmels. Sie bietet ihre Hilfe in liebevollen Worten am SCHWARZEN BRETT an, und schon stürzen sich vom Leben Geschädigte, von Krankheiten Geplagte, von Männern verlassene Frauen in ihre ausgebreiteten Arme. Sie kennt sich aus, wenn es um Kräutertees für Schlafprobleme geht oder Rezepte aus Großmutters Zeiten, die durchaus aphrodisische Wirkung haben dürfen. Sie nimmt Hunde und Katzen in Pflege, wenn sie am selben Ort wohnt.
Sie ist meist älter, hat keine Partnerwünsche mehr und deshalb viel Zeit und Energie für die Zu-Kurz-Gekommenen, Kranken, Sterbenden und Einsamen beiderlei Geschlechts.
Sie ist immer da, immer bereit, eine Ur-Mutter!
Der/die SchmetterlingIn
Er/sie fliegt von einem zum Anderen. Er/sie sammelt Kontakte, pflegt sie nicht, hat seine schönen Flügel gezeigt, Sehnsucht erzeugt – und weg ist er/sie.
Man darf nicht vergessen, dass sie fliegen MÜSSEN. Sie können nicht anders. Man darf ihn/sie bewundern, ihnen kurzzeitig verfallen, aber nicht mitfliegen!
Der Moralist
Er hat etwas mit der Gouvernante gemeinsam, denn er meint, er müsse sich überall für Ordnung, Zucht und höhere Werte einsetzen. Während es ihr eher um das Einhalten von Vorschriften geht, betont er, dass Menschen sich Tugenden verpflichten sollten.
Wenn also jemand „offene Ehen“ am SCHWARZEN BRETT propagiert, wird er mit Sicherheit an die 10 Gebote erinnern, wird selber seit 40 Jahren ungeheuer glücklich mit einer einzigen Frau verheiratet sein, was in unserer freien Gesellschaft mittlerweile Seltenheitswert hat.
Man braucht Moralisten, auch wenn sie manchmal nerven, aber sie setzen Grenzen und sorgen dafür, dass die Menschheit nicht in totaler Anarchie versinkt.
Der Verseschmied
Die Zahl der Verseschmiede im Land der Dichter und Denker ist erstaunlich groß. Manche Sbler reagieren nur noch in gebundener Rede, d.h. sie reden in Versen, ob mit oder ohne Reim.
Am SCHWARZEN BRETT lässt sich eine Gedichte-Wand selektieren, die jedem kritischen Leser – womöglich einem Philologen – Lust und Schmerz bereitet.
Manchmal steht ein © unter Zeilen, die sich nur reimen und inhaltlich nichts bieten, und dann erscheint plötzlich ein kleines Kunstwerk, formvollendet und inhaltlich wertvoll.
Rührend ist die Tatsache allemal,. dass sich ältere Menschen die Mühe machen, mit ihren Gedichten anderen eine Freude zu machen.
Der Lehrer
Es gibt ihn nicht!!! Obwohl es durchaus gelegentlich Anlass geben würde, Grammatik-, Rechtschreib- und Zeichenfehler zu korrigieren, bleiben pädagogische Eingriffe aus!
Aus Gründen der Toleranz ziehen sich geborene Lehrer in den Schmollwinkel zurück und halten still.
Ganz selten reißt einem die Geduld, und er hängt eine entsprechende Anklageschrift an das SCHWARZE BRETT: „Der Untergang der deutschen Sprache steht unmittelbar bevor.“
Der Teufel, die Bösewichtin
Es gibt ihn, in der Tat! Sein Auftritt ist meist ein Überfall. Er fällt aus unerfindlichen Gründen über einen ahnungslosen User her und zerfetzt ihn, erklärt unmissverständlich, dass er ein A… sei, keinen blassen Dunst hätte, seine Worte lieber hinunterschlucken und daran krepieren sollte.
Meist muss dann ein SB-Moderator eingreifen und die Wogen glätten.
Dorian Gray
Dorian Gray ist die Steigerungsform eines narzisstischen Menschen. Oscar Wilde hat dieses unvergleichliche Portrait eines selbstverliebten Mannes geschaffen.
Selfies sind heute der letzte Kick, man liebt sich selbst mehr als früher. Selbstwahrnehmung hat den gleichen Stellenwert wie Fremdwahrnehmung.
Vielleicht sind wir alle Dorian Grays, denn nur wer sich selbst liebt, kann andere liebevoll akzeptieren.
Gerade bei Seniorbook gehört Freundlichkeit anderen gegenüber zum guten Ton.
Natürlich kann ein User mehrere Rollen spielen. Vielleicht macht das gerade den Reiz des Spiels aus. Vielleicht liegt sogar der therapeutische Wert einer solchen Plattform darin, allen Typen eine Bühne zur Selbstdarstellung zu geben.
Wir tragen viele Personen in uns, was uns Hesse in seinem „Steppenwolf“ sehr anschaulich vorführt. Als sich der Protagonist Harry Haller nach dem Fest im Spiegel betrachtet, fallen da plötzlich mehrere kleine Wölfe heraus, die er als Teilpersönlichkeiten erkennt.
Vielleicht entdeckt der eine oder andere einen Zauberer, einen Erzengel, ein Dornröschen oder einen Alien in sich, die nur auf ihren Auftritt warten und dadurch erlöst werden könnten.
Geben wir ihnen eine Bühne und spenden wir Beifall!