Читать книгу Vater unser - Eduard Lohse - Страница 7

I.

Die ursprüngliche Gestalt des Vaterunsers 1. Die Überlieferung des Vaterunsers

Оглавление

Das Vaterunser ist im Neuen Testament im Matthäus- und im Lukasevangelium überliefert (Mt. 6,9–13; Lk. 11,2–4). Darüber hinaus enthält die sogenannte Apostellehre/Didache, die in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. abgefasst worden ist, eine Fassung des Gebetes, die den Versen des Matthäusevangeliums sehr nahe kommt (Did. 8,2). Daher ist die Frage nach der ältesten Überlieferung des Vaterunsers vor allem an das im Neuen Testament enthaltene Zeugnis zu richten.

In vielen Bibelausgaben ist das Vaterunser in beiden Evangelien mit gleich lautenden Worten wiedergegeben. Diese Wiedergabe entspricht einer großen Zahl jüngerer Handschriften des griechischen Textes. Die kritischen Ausgaben des Neuen Testaments – vor allem die des Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland, 27. Aufl. Stuttgart 1993) – zeigen jedoch, dass die ältesten Handschriften des griechischen Textes der beiden Evangelien sich in den Fassungen des Vaterunsers deutlich voneinander unterscheiden. Diese Unterschiede, die die spätere Überlieferung ausgeglichen hat, wollen daher geprüft und gewertet werden.

Während sich im Matthäusevangelium eine Textfassung mit sieben Bitten findet, die dann den geläufigen kirchlichen Gebrauch seit alters bestimmt haben, steht im Lukasevangelium eine kürzere Gestalt des Textes, die nur fünf Bitten enthält. Die Unterschiede betreffen vor allem folgende Punkte:

1. Die Anrede bei Matthäus lautet „Vater unser in den Himmeln“, bei Lukas heißt es nur kurz und knapp „Vater“.

2. Die beiden ersten Bitten stimmen in beiden Evangelien überein, doch dann fehlt bei Lukas die dritte Bitte, wie sie bei Matthäus überliefert ist.

3. Der zweite Teil des Gebets beginnt übereinstimmend mit der Bitte um das tägliche Brot. Doch weist der Wortlaut hier wie dort einige sprachliche Unterschiede auf. Mt. 6,11 wird gesagt: , bei Lukas aber werden am Schluss des Satzes noch die Worte angefügt: .

4. Die – nach der Zählung des Matthäusevangeliums – fünfte Bitte enthält wiederum Unterschiede der verwendeten Begriffe. Bei Mt. 6,12 ist von „den Schulden“ die Rede, die Gott vergeben möge. Bei Lukas werden hingegen „die Sünden“ angesprochen, die Gott verzeihen möge. Und in der zweiten Zeile, die von der Verpflichtung gegenseitiger Vergebung handelt, steht das Verbum bei Matthäus im Aorist, bei Lukas aber im Präsens: .

5. Die bei Matthäus anschließende – sechste – Bitte wird auch bei Lukas gelesen, doch fehlt der letzte Satz: „Sondern erlöse uns von dem Bösen.“

6. Schließlich will beachtet sein, dass die Doxologie, mit der nach der geläufigen Fassung das Gebet beendet wird, in den ältesten Textzeugen beider Evangelien nicht enthalten ist. In der frühesten Zeit war offensichtlich der Wortlaut des Lobpreises noch nicht genau festgelegt, sondern wurde der abschließende Satz vom Beter in freier Formulierung gesprochen.

Die kürzere Fassung des Gebets nach dem Lukastext lautet mithin:

Vater, Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme.

Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag, Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wurde, Und führe uns nicht in Versuchung.

Wie sind diese Unterschiede, die die älteste Textüberlieferung enthält, zu beurteilen? Eine direkte literarische Abhängigkeit des einen Evangelisten vom anderen ist nicht anzunehmen. Denn weder lässt sich vorstellen, dass die Vorlage eines längeren Textes durch einen späteren Zeugen eigenmächtig verkürzt worden wäre. Noch ließe sich annehmen, dass ein Abschreiber eine ihm überkommene kürzere Fassung durch von ihm vorgenommene Ergänzungen erweitert haben sollte.2 Es liegen vielmehr zwei zwar im Wesentlichen übereinstimmende, in Einzelheiten jedoch unterschiedliche Überlieferungen des Herrengebets vor. Dabei ist anzunehmen, dass die kürzere Textgestalt die ältere darstellt, die in der anderen Überlieferung um eine dritte und eine siebente Bitte erweitert worden ist. Voneinander abweichende Begriffe, wie sie sich hier wie dort finden, lassen erkennen, dass das Gebet eine Zeit mündlicher Überlieferung durchlaufen hat, ehe der Text schriftlich festgehalten und von jedem der beiden Evangelisten in den von ihm gestalteten Zusammenhang eingefügt wurde. Die beiden im Neuen Testament überkommenen Fassungen des Vaterunsers sind also unabhängig voneinander tradiert und dann von den Evangelisten aufgezeichnet worden.

Der Vergleich beider Traditionen wird im Einzelnen zu zeigen haben, dass die von Matthäus gebotene sprachliche Gestalt gegenüber der Lukasfassung durchweg ältere Voraussetzungen – in Wendungen ursprünglich semitischer Sprache – wiedergibt. Diese Beobachtungen sind in Betrachtung jedes einzelnen Satzes zu prüfen und zu begründen.3 Dass beide Fassungen jedoch eine gemeinsame Tradition repräsentieren, ergibt sich schlüssig daraus, dass beide das sonst vollkommen ungebräuchliche Wort enthalten.4

Die Überlieferung des Herrengebets zeigt einerseits, dass den Lesern und Hörern freigestellt wurde, eine kürzere oder eine längere Fassung des Gebets zu sprechen. Andererseits aber geht aus der handschriftlichen Bezeugung hervor, dass sich zwar mancherlei Ergänzungen zur kürzeren Fassung des Lukasevangeliums finden, die diese an die längere Fassung des Matthäusevangeliums angleichen. In der handschriftlichen Bezeugung des Matthäusevangeliums aber sind keine Kürzungen enthalten, die etwa eine Annäherung an den kürzeren Lukastext vornehmen wollten. Daraus ist zu ersehen, dass die sieben Bitten, wie sie im Matthäusevangelium dargeboten werden, die Gestalt des Vaterunsers bieten, die im kirchlichen Gebrauch allgemein üblich wurde. Die Apostellehre/Didache folgt zu Anfang des 2. Jahrhunderts eben dieser Textfassung und spricht sich somit eindeutig für das Vaterunser mit sieben Bitten aus, wie sie seither in allen Kirchen gesprochen werden.

Anmerkungen

1 Vgl. E. Lohse, Das Vaterunser – im Licht seiner jüdischen Voraussetzungen, Tübingen 2008.

2 Vgl. J. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: Abba – Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 152–171.155–160: Der älteste Text des Vater-Unsers.

3 Jeremias, Vater-Unser, 160.

4 Vgl. J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971 (= 31979), 190.

Vater unser

Подняться наверх