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3. Jüdische Gebete zur Zeit Jesu
ОглавлениеIm Judentum der spätantiken Zeit setzte sich eine reiche und vielgestaltige Überlieferung und Praxis gläubigen Betens ungebrochen fort. In den Psalmen der Schrift fand man Vorbilder für das eigene Loben und führte diese Tradition in zahllosen Gebeten weiter, die in der überkommenen Sprache des Gebetes formuliert, erweitert und ausgestaltet wurden. Seit den umfangreichen Funden jüdischer Texte am Ufer des Toten Meeres, die ohne Zweifel vorchristlichen Ursprungs sind, sind Gebetstexte in großer Zahl bekannt geworden, die Einblick in Frömmigkeit und Gebet weiter Kreise des frommen Judentums gestatten. Darüber hinaus haben gründliche Forschungsarbeiten, die der Literatur des vorchristlichen Judentums gelten, unsere Kenntnis des Schatzes an jüdischen Gebeten wesentlich bereichert und genauere Urteile über deren zeitliche Einordnung ermöglicht.1 Daher kann mit Bestimmtheit gesagt werden: „Jesus kommt aus einem Volk, das zu beten verstand.“2
Durch seine Treue im Gebet unterschied sich das Judentum von der hellenistisch-römischen Umwelt, in deren Mitte seine weit ausgebreitete Diaspora lebte.3 Denn Römer und Griechen verrichteten zwar den überkommenen Opfer- und Tempeldienst, aber unter ihnen herrschten mancherlei Zweifel, zu welchem Gott unter den mancherlei Möglichkeiten man rufen sollte und ob Gebete überhaupt Gehör finden könnten. Daher unterließ man vielfach das Beten. Vom Judentum aber wurde diese Skepsis, von der der Polytheismus der hellenistisch-römischen Welt gezeichnet war, nicht geteilt. Daher machten die Gottesdienste, die überall in den Synagogen gehalten wurden, auf nicht wenige Menschen der Umgebung tiefen Eindruck, so dass sich manche Nichtjuden als Sympathisanten um die jüdischen Gemeinschaften versammelten.
Die zahlreichen Gebete, die sich in den Texten von Qumran finden, geben eindrucksvolle Beispiele für die im Judentum bewahrte und weitergetragene Kultur des Betens. Sie sind nahezu ausnahmslos in der biblischen Sprache des Hebräischen abgefasst. In der Zeit Jesu sprach man jedoch im Volk weithin aramäisch. Daher mussten in den Synagogen die Schriftlesungen, die die hebräischen Texte des Alten Testaments darboten, jeweils in die geläufige Sprache des Aramäischen übersetzt werden. Diese sogenannten Targumim wurden lange Zeit nur mündlich überliefert und ausgestaltet, ehe sie dann erst Jahrhunderte später schriftlich aufgezeichnet wurden. Doch kann vergleichende kritische Betrachtung vielfach erheblich ältere Traditionen in den Targumim aufspüren, die bis in die Zeit Jesu zurückreichen.4 Somit können auch in den Targumim überkommene Traditionen herangezogen werden, um ein Bild vom vielgestaltigen Gebetsleben des spätantiken Judentums zu gewinnen.
Vor allem in den „Lobliedern“ der Gemeinde von Qumran (1 QH) sind viele Beispiele überliefert, die zeigen, mit welcher Intensität im Judentum der Zeit vor Christus gebetet wurde. So heißt es: „Gepriesen seist du, Herr! Denn du hast nicht verlassen die Waise und den Geringen nicht verachtet. Denn deine Macht ist [unerforschlich] und deine Herrlichkeit ohne Maß, und wunderbare Helden sind deine Diener. Und mit den Demütigen [bist du], wenn [ihre] Füße versinken, mit denen, die Gerechtigkeit fürchten, um emporzuführen alle Armen der Gnade.“ (1 QH V, 20–22)
Die Gebete werden vielfach durch Formen des Verbums „brk“/„berekh“ eingeleitet. Dieses ist aus den Schriften des Alten Testaments übernommen und bedeutet seinem ursprünglichen Wortsinn nach „auf die Knie fallen“.5 Doch im Lauf der Zeit gewann das Wort eine erweiterte Sinngebung, um „Fürbitte tun, segnen … und Gott preisen, rühmen“ zu benennen.6
Hymnischer Klang zeichnet viele der „Loblieder“ in den Texten von Qumran aus, so: „Ich preise dich, Herr! Denn du stützest mich durch deine Kraft, und deinen heiligen Geist hast du auf mich ausgegossen, dass ich nicht wanke. Und du stärkest mich vor den Kämpfen des Frevels, und in all ihrem Verderben hast du (mich) nicht abschrecken lassen von deinem Bund. Du stelltest mich hin wie einen Turm, wie eine hohe Mauer, und gründetest auf Felsen meinen Bau. Und ewige Fundamente dienen mir als Grund, und alle meine Wände zur bewährten Mauer, die nicht erschüttert wird.“ (1 QH VII, 6–9)
In einem anderen Lob- und Danklied, wie es in die Gemeinderegel als Bekenntnis des Beters aufgenommen ist, heißt es: „Auf das, was ewig ist, hat mein Auge geblickt, tiefe Einsicht, die Menschen verborgen ist, Wissen und kluge Gedanken (verborgen) vor den Menschen, eine Quelle der Gerechtigkeit und Hort der Kraft mit der Quelle der Herrlichkeit, (verborgen) vor der Versammlung des Fleisches. Welche Gott erwählt hat, denen hat er sie zu ewigem Besitz gegeben, und Anteil hat er ihnen gegeben am Los der Heiligen, und mit den Söhnen des Himmels hat er ihre Versammlung verbunden zu einem Rat der Gemeinschaft und Kreis des heiligen Gebäudes, zu ewiger Pflanzung für alle künftigen Zeiten. Doch ich gehöre zur ruchlosen Menschheit, zur Menge des frevelnden Fleisches. Meine Sünden, meine Übertretungen, meine Verfehlungen samt der Verderbtheit meines Herzens gehören zur Menge des Gewürms und derer, die in Finsternis wandeln … Ich aber, wenn ich wanke, so sind Gottes Gnadenerweise meine Hilfe auf ewig.“ (1 QS XI, 5–12)
In diesen liedartigen Texten spricht jeweils ein Einzelner aus, wie er vor seinem Gott steht und wofür er ihn zu loben und zu preisen hat. Von diesen beispielhaften Vorgaben sind andere Gebetsworte unterschieden, die zu regelmäßiger Wiederholung und bekennendem Einverständnis der ganzen Gemeinde bestimmt sind. Im Gottesdienst der Synagogengemeinde wurden Worte des Bekenntnisses und Lobpreises vorgetragen, die die Gemeinde mit ihrem zustimmenden „Amen“ aufnahm und sich auf diese Weise zu Eigen machte. Boten die Lektionen aus den heiligen Schriften Zuspruch und Anspruch für alle Gläubigen, so bekannten sich alle miteinander zu dem einen Gott, der Israel erwählt hat, mit Sätzen biblischer Abschnitte aus Dt. 6,4–9; 11,13–21 und Num. 15,37–41.
Schon im Tempelgottesdienst hat das sogenannte Schema seinen festen Platz gehabt. Man wird daher annehmen dürfen, dass das Bekenntnis „Höre Israel, dein Gott ist einer“ schon in vorchristlicher Zeit zusammengestellt worden ist, um es im Gottesdienst, aber auch im täglichen Bekenntnis des einzelnen morgens und abends zu rezitieren.7
Neben diesem Brauch, täglich in das Bekenntnis zum einen Gott einzustimmen, kam gleichfalls schon in vorchristlicher Zeit die Regel in Übung, jeden Tag drei feste Gebetszeiten einzuhalten. Dan. 6,11 wird berichtet, dass Daniel am Fenster, das in Richtung auf Jerusalem hin geöffnet war, dreimal am Tag auf seine Knie fiel, um seinen Gott zu loben und ihm zu danken. Diese feste Regel, täglich morgens, mittags und abends Gott zu preisen und ihn um gnädigen Beistand anzurufen, wird gleichfalls schon in vorchristlicher Zeit zur allgemein üblichen Sitte geworden sein.
Hohe Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass auch das sogenannte Achtzehngebet in seinen ältesten Teilen zur Zeit Jesu und der ersten Christen bereits seine mehr oder weniger feste Fassung erhalten hat.8 Nach rabbinischer Überlieferung liegt sein Ursprung weit zurück; doch wird auch berichtet, dass die Worte des Achtzehngebets als beispielhaftes Vorbild des Gebets zu Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. in ihrem endgültigen Wortlaut festgestellt worden sind. Nach den Schrecken des Jüdischen Kriegs und der Zerstörung Jerusalems durch die Römer musste das von Schriftgelehrten geleitete Judentum sich erneut zusammenfinden und für die künftige Gestalt gläubigen Lebens allgemein verbindliche Übereinkunft finden. Hierzu dienten sowohl die Pflicht, sich täglich am Morgen und Abend zum einen Gott zu bekennen, wie auch die Regel, die drei Gebetszeiten mit dem Achtzehngebet einzuhalten. Dieses Gebet fand somit seinen festen Platz sowohl im Gottesdienst der Gemeinde wie auch im Leben jedes einzelnen gläubigen Frommen.
Die 18 Benediktionen wurden zu Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. um eine neunzehnte erweitert, die sogenannte Birkathaminim, die an die zwölfte Stelle des Gebets gesetzt wurde. Obwohl das Gebet durch diese Erweiterung um eine Benediktion vermehrt wurde, blieb es bei der Bezeichnung als „Achtzehngebet“. Dieser Name war mithin bereits so allgemein üblich geworden, dass man ihn beibehielt. Die zusätzliche Benediktion sollte es insbesondere Judenchristen unmöglich machen, am Gottesdienst in den Synagogen teilzunehmen. Denn ein gegen sie gerichtetes Fluchwort konnten sie unmöglich mit „Amen“ beantworten.9 Damit vollzog sich die endgültige Trennung von Synagoge und Kirche.
Der Text des Achtzehngebets, das für die Frömmigkeit des einzelnen Gläubigen wie auch für die inhaltliche Gestaltung der Synagogengottesdienste von bestimmender Bedeutung war – und bis heute ist –, ist in zwei unterschiedlichen Textfassungen überliefert. Die allgemein übliche Fassung wird als sogenannte babylonische Rezension bezeichnet, die gleichwohl palästinischen Ursprungs sein wird. In der babylonischen Diaspora wird dieses Gebet jedoch seine bleibende Gestalt erhalten haben. Die andere Überlieferung des Achtzehngebets gilt als palästinische Rezension und ist erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts n. Chr. in einer Geniza – d.h. einer Kammer, in der abgenutzte Manuskripte verwahrt wurden – in Kairo gefunden und 1896 von S. Schechter veröffentlicht worden.10 Diese Fassung weicht von der allgemein gebräuchlichen insbesondere dadurch ab, dass sie vielfach einen erheblich kürzeren Text bietet.11 Im Folgenden soll jedoch die geläufige Gestalt des Gebets wiedergegeben werden. Bei aufmerksamer Lektüre werden sich mancherlei Vergleiche zum Vaterunser zeigen. Diese begrifflichen und gedanklichen Beziehungen sind dann bei der Erklärung der einzelnen Bitten des Vaterunsers des näheren zu erörtern.12
Das Gebet, das an jedem Tag morgens, mittags und abends zu sprechen war – und ist –, lautet:
„1. Benediktion: Gepriesen seist du, Herr unser Gott und Gott unserer Väter, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, [großer, mächtiger und furchtbarer Gott] höchster Gott [Spender guter Gnaden] und Schöpfer des Alls [der der Gnaden der Väter gedenkt und über ihre Kinder sich erbarmt und ihren Kindeskindern einen Erlöser bringt um seines Namens willen in Liebe, barmherziger König, Heiland, Helfer und Schild]! Gepriesen seist du, Herr, Schild Abrahams!
2. Benediktion: Du bist ein Held in Ewigkeit, Herr [der die Toten lebendig macht, du bist mächtig zu helfen], der den Wind lässt wehen und den Regen niederfallen, der die Lebenden versorgt [aus Gnade], der die Toten lebendig macht [aus großem Erbarmen, der Kranke heilt, Elenden hilft, Fallende stützt, Gebundene löst und seine Treue läßt denen, die im Staube schlafen. Wer ist wie du, Vollbringer von Großtaten, und wer ist dir gleich, der da tötet und lebendig macht und Hilfe (Heil) sprossen läßt? Und treu bist du, die Toten lebendig zu machen]. Gepriesen seist du, Herr, der die Toten lebendig macht!
3. Benediktion: Du bist heilig und dein Name ist heilig, und Heilige mögen täglich dich rühmen! Sela. Gepriesen seist du, Herr, heiliger Gott!
4. Benediktion: Du verleihst dem Menschen Erkenntnis und lehrst den Mann Einsicht; verleihe uns von dir Erkenntnis und Einsicht und Verstand. Gepriesen seist du, Herr, der Erkenntnis verleiht!
5. Benediktion: Bringe uns zurück, unser Vater, zu deiner Thora und laß uns nahen, unser König, zu deinem Dienst und laß uns umkehren in vollkommener Buße vor dein Angesicht. Gepriesen seist du, Herr, der Wohlgefallen an Buße hat!
6. Benediktion: Vergib uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt; verzeihe uns, unser König, denn wir haben gefehlt, denn ein gütiger und vergebender Gott bist du. Gepriesen seist du, Herr [Gnädiger], der viel vergibt!
7. Benediktion: Sieh an unser Elend und führe unsere Sache und eile, uns zu erlösen; denn ein Gott [der König ist], ein starker Erlöser bist du. Gepriesen seist du, Herr, Erlöser Israels!
8. Benediktion: Heile uns, Herr, unser Gott, so sind wir geheilt [hilf uns, so ist uns geholfen], und bringe [vollkommene] Heilung all unseren Krankheiten; denn ein heilender, barmherziger Gott bist du. Gepriesen seist du, Herr, der die Kranken seines Volkes Israel heilt!
9. Benediktion: Segne uns, Herr unser Gott, bei allem Tun unserer Hände und segne unsere Jahre [und gib Tau und Regen auf den Erdboden] und sättige die ganze Welt aus deinem Guten [und labe den Erdkreis aus dem Reichtum der Gaben deiner Hände und hüte es und bewahre es, Herr, unser Gott, dieses Jahr und alle Arten seiner Gewächse vor allen Arten von Verderben und vor allen Arten von Strafen] und gib ihm glücklichen Ausgang und Hoffnung und Sättigung (Überfluß und Frieden und Segen) wie den guten Jahren. Gepriesen seist du, Herr, der die Jahre segnet!
10. Benediktion: Stoße in die große Posaune zu unserer Freiheit und erhebe dein Panier, alle unsere Verbannten zu sammeln von den vier Flügeln der Erde hin nach unserem Lande. Gepriesen seist du, Herr, der [die Vertriebenen seines Volkes] Israel sammelt!
11. Benediktion: Bringe wieder unsere Richter wie vordem und unsere Ratsherren wie zu Anfang [und laß weichen von uns Seufzen und Stöhnen] und sei König über uns eilends, du allein [in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und Recht]. Gepriesen seist du, Herr [König], der [Gerechtigkeit und] Recht liebhat!
12. Benediktion: Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung und alle Minim (= Häretiker) [und Angeber] mögen umkommen in einem Augenblick, und die freche Regierung mögest du ausrotten und zerbrechen [eilends in unseren Tagen].13 Gepriesen seist du, Herr, [der Feinde zerbricht und] der Freche beugt!
13. Benediktion: Über die Gerechten [und über die Frommen]14 und über die Proselyten der Gerechtigkeit [und über den Rest deines Volkes, des ganzen Hauses Israel] möge sich dein Erbarmen regen, Herr, unser Gott, und gib guten Lohn allen, die auf deinen Namen vertrauen [in Wahrheit, und gib unser Teil mit (bei) ihnen; in Ewigkeit werden wir nicht zuschanden werden; denn auf deinen Namen haben wir vertraut und auf deine Hilfe uns gestützt]. Gepriesen seist du, Herr, [Stütze und] Zuversicht der Gerechten!
14. Benediktion: Nimm deine Wohnung inmitten Jerusalems, deiner Stadt, in naher Zeit [wie du geredet hast], und baue es als einen ewigen Bau eilends in unseren Tagen. Gepriesen seist du, Herr, der Jerusalem erbaut!
15. Benediktion: Den Sproß Davids (= den Messias) laß eilends aufsprossen, und sein Horn erhebe sich durch deine Hilfen. Gepriesen seist du, Herr, der sprossen lässt [das Horn der] Hilfe!
16. Benediktion: Höre unsere Stimme, Herr, unser Gott, [schone] und erbarme dich über uns und nimm in Erbarmen [und mit Wohlgefallen] unser Gebet an; [von deinem Angesicht, unser König, laß uns nicht leer zurückkehren]; denn du erhörst das Gebet eines jeden Mundes. Gepriesen seist du, Herr, der das Gebet erhört!
17. Benediktion: Habe Wohlgefallen, Herr, unser Gott, an deinem Volk Israel [und auf ihr Gebet blicke hin] und führe den Opferdienst zurück in das Allerheiligste deines Hauses, [und die Feueropfer Israels und ihr Gebet und ihren Dienst nimm eilends in Liebe an mit Wohlgefallen, und zum Wohlgefallen gereiche beständig der Opferdienst deines Volkes Israel, und sei uns gnädig] und sehen mögen unsere Augen deine Rückkehr [in deine Wohnung] nach Zion [in Barmherzigkeit wie vor alters]. Gepriesen seist du, Herr, der [eilends] zurückkehren lässt seine Schekhina15 nach Zion!
18. Benediktion: Wir danken dir [denn du bist es], Herr, unser Gott und Gott unserer Väter, [Fels unseres Lebens, Schild unseres Heils, du bist es von Geschlecht zu Geschlecht; wir danken dir und erzählen dein Lob] für unser Leben, das in deine Hand gelegt ist, und für unsere Seelen, die dir übergeben sind, für deine Zeichen und für deine Wunder und deine Wohltaten, die zu jeder Zeit [abends und morgens und mittags. Allgütiger, denn deine Barmherzigkeit hat kein Ende; Allbarmherziger, denn deine Gnaden hören nicht auf; denn alles, was lebt, rühme deinen großen Namen; denn gütig ist unser Gott, der Allgütige]. Gepriesen seist du, Herr, Allgütiger [ist dein Name immerdar und schön ist es], dass man dir danke!
19. Benediktion: Lege Frieden [,Glück] und Segen [,Gnade und Liebe und Erbarmen] auf uns und auf dein Volk Israel und segne, Herr, unser Gott, uns alle allemal [durch das Licht deines Angesichts; denn in dem Licht deines Angesichts hast du, Herr, unser Gott, uns gegeben Lehre (Thora) und Leben, Liebe und Gnade, Barmherzigkeit und Frieden, Segen und Erbarmen], und schön ist es in deinen Augen, dein Volk Israel zu segnen [mit viel Kraft und Frieden]. Gepriesen seist du, Herr, der [sein Volk Israel] segnet mit Frieden! Amen.“
Die Benediktionen bieten jeweils einen unterschiedlich ausgeführten – längeren oder kürzeren – Inhalt. Doch sind sie allesamt als „Lobpreisungen“ bezeichnet, die in den Satz münden: „Gepriesen seist du, Herr, unser Gott.“ Die ersten drei und die letzten drei Benediktionen betonen diesen Klang des Preisens und Lobens Gottes. Der Mittelteil enthält sowohl weltliche wie auch geistliche Inhalte. Dabei ist deutlich zu erkennen, dass im Lauf der Zeit die Inhalte der Bitten hier und da ausführlicher ausgestaltet worden sind. Manche Benediktionen können durchaus in die Zeit zurückreichen, in der der Tempel in Jerusalem unversehrt dastand und in ihm der regelmäßige Opferdienst zum Lob Gottes versehen wurde. Die Endredaktion jedoch, die zu Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. vorgenommen wurde, setzt voraus, dass Jerusalem zerstört ist und der Dienst im Tempel nicht mehr verrichtet werden kann. Daher wird darum gebeten, die heilige Stadt möchte wieder errichtet und der Tempel neu erbaut werden, um den Kultus an der vom Gott Israels erwählten Stätte wieder versehen zu können. Das aber bedeutet, die Zeit des Messias, des Sprosses Davids, möge kommen, um diese wunderbare Erneuerung heraufführen zu können.
Die Bitten um geistliche Gaben beziehen sich nicht auf die nationale Hoffnung, sondern auf Gottes gnädige Zuwendung und seine nimmer versiegende Bereitschaft zur Vergebung. Alle Bitten aber haben ihren festen Platz im Gottesdienst, in dem der Vorbeter jeweils den Text einer Benediktion spricht und die versammelten Gläubigen mit „Amen“ antworten, um in den Lobpreis als ganze Gemeinde einzustimmen.16 Dabei konnte jeder Beter auch seine eigenen Kümmernisse, Sorgen und Wünsche hineinlegen.17
Da es nicht immer möglich war, den vollen Wortlaut des langen Gebets zu sprechen, konnte der mittlere Teil der 13 Bitten auch auf eine einzige zusammengezogen und von den jeweils drei Benediktionen am Anfang und Ende des Achtzehngebets umrahmt werden.18 Hatte das vollklingende Gebet vornehmlich im Gottesdienst der Gemeinde seinen festen Ort, so diente es doch auch jedem einzelnen Beter als eine hilfreiche und willkommene Anleitung zu rechtem Gebet.
Zum Vergleich mit dem Vaterunser bietet sich noch ein weiteres Gebet – das des Qaddisch – an, dessen älteste Wendungen auch zur Zeit Jesu bereits gebräuchlich waren. „Der schlichte Ausdruck sowie das Fehlen jedes Hinweises auf die Zerstörung des Tempels weisen auf einen frühen Zeitpunkt hin.“19 Das Qaddisch wurde bei verschiedenen Gelegenheiten verwendet und dabei entsprechend den jeweiligen Anlässen im Wortlaut angereichert bzw. ergänzt. Es wurde zum Abschluss einer Lesung aus der Thora gesprochen. Es konnte auch an den Abschluss eines Gottesdienstes gesetzt werden. Trauernde bedienten sich vielfach dieses Gebets. Und ungezählte Beter nahmen seine Worte auf und verbanden sie mit Lob, Preis und Bitte, die sie frei formulierten.20
Die schlichten Sätze der Grundform des Qaddisch lauten21: „Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat. Und er lasse sein Reich herrschen und seine Erlösung sprossen – während eures Lebens und eurer Tage und des Lebens des ganzen Hauses Israel, alsbald und in naher Zeit. Und sprechet: Amen!
Sein großer Name sei gepriesen in alle Ewigkeiten! Gesegnet, gepriesen, verherrlicht, erhoben, erhöht, geehrt, hinausgehoben und gelobt sei sein heiliger Name. Gepriesen sei er in der Höhe von allen Lobpreisungen, Liedern, Preisungen, Tröstungen, die in der Welt gesprochen werden. Und sprechet: Amen!
Es komme großer Friede vom Himmel und Leben über uns und über ganz Israel. Und sprechet: Amen!“22
Die gedankliche Nähe, die dieses Gebet zum Vaterunser auszeichnet, ist auf den ersten Blick deutlich wahrzunehmen. Aus dieser Nähe darf jedoch nicht auf eine direkte Abhängigkeit der beiden Gebete voneinander geschlossen werden.23 Wohl aber lässt sich annehmen, dass Jesus in der Formulierung des Vaterunsers aus der reichen Gebetstradition Israels schöpfte. Zugleich aber hat er vorgegebene Begrifflichkeiten in seiner Verkündigung neu gefasst, indem er den nahenden Anbruch der Gottesherrschaft ansagte und in seiner Zuwendung zu verachteten und von Schuld beladenen Menschen die gegenwärtige Barmherzigkeit Gottes bezeugte.
Da das Qaddisch nicht in der liturgischen Gebetssprache des Hebräischen, sondern in der Volkssprache des Aramäischen abgefasst ist, steht es nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in sprachlicher Hinsicht dem Vaterunser nahe, das gleichfalls ursprünglich im Aramäischen formuliert worden ist.24 In welcher Weise begriffliche und inhaltliche Beziehungen zwischen den Sätzen des Vaterunsers zu Wendungen in der reichhaltigen jüdischen Gebetstradition aufzuweisen sind, muss bei der Erklärung der Bitten des Vaterunsers Wort für Wort geprüft und erhoben werden.
Anmerkungen
1 Vgl. M. Philonenko, Das Vaterunser, Tübingen 2002 (französisches Original: Le Nôtre Père. De la prière de Jésus à la prière des disciples, Paris 2001), 9–19 u. ö.
2 Vgl. J. Jeremias, Das tägliche Gebet im Leben Jesu und in der ältesten Kirche, in: Abba, Göttingen 1966, 67.
3 Vgl. Jeremias, a.a.O., 67f.
4 Vgl. Philonenko, Vaterunser, 18: „Heute ist deutlich, dass viele targumische Überlieferungen auf das erste Jahrhundert vor Christus zu datieren sind.“
5 Vgl. I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 3Frankfurt 1931 = 4Hildesheim 1962, 4.
6 Vgl. Elbogen, a.a.O., 5f.
7 Vgl. P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV, München 1928, 189–207: Neunter Exkurs: Das Schema.
8 Vgl. Billerbeck, a.a.O., 208–249: Zehnter Exkurs: Das Schemone Esre.
9 Die auf diese Weise vollzogene endgültige Trennung von Kirche und Synagoge ist Joh. 9,22; 12,42; 16,2 vorausgesetzt. Zur Bedeutung dieser eingefügten Benediktion vgl. Y.Y. Teppler, Birkat haMinim, Texts and Studies in Ancient Judaism 120, Tübingen 2007.
10 Zum hebräischen Text beider Gebete vgl. W. Staerk, Altjüdische liturgische Gebete, KlT 58, Berlin 1930, 9–19; sowie Kuhn, a.a.O., 10–26; und jüdische Gebetbücher, zuletzt: Jüdisches Gebetbuch, Schabbat und Werktage, Gütersloh 2007. Zur Übersetzung vgl. Billerbeck, a.a.O. IV, 211–214; ferner zum hebräischen Text wie auch zur Übersetzung P. Fiebig, Jesu Bergpredigt; Rabbinische Texte zum Verständnis der Bergpredigt, ins Deutsche übersetzt, in ihrer Ursprache dargeboten und mit Erläuterungen versehen, FRLANT 20, Göttingen 1924, 108–111.
11 Beide Textfassungen bei Billerbeck, a.a.O. IV, 211–214.
12 Die Übersetzung folgt Billerbeck und nimmt auch die Setzung eckiger Klammern auf, mit denen vermutliche Zusätze zu den ursprünglich zweigliederigen Benediktionen kenntlich gemacht sind. Vgl. Dalman, a.a.O. (s.S. 16, Anm. 2), Worte Jesu I, 283–365; vgl. auch J. Maier, Judentum, Göttingen 2007, 196–202.
13 In der palästinischen Rezension, die in der Geniza von Kairo gefunden wurde, heißt es: „Die Nazarener (= Judenchristen) und die Minim (= Häretiker) mögen umkommen in einem Augenblick, ausgelöscht werden aus dem Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht aufgeschrieben werden.“
14 Vgl. Billerbeck IV, 213, Anm. 1: „Zusatz: und über die Ältesten deines Volkes, des Hauses Israel, und über den Überrest des Hauses ihrer Schriftgelehrten.“
15 Schekhina bedeutet „Wohnung“, einer der Ausdrücke, die als Ersatz für den unaussprechlichen Gottesnamen dienten.
16 Vgl. Elbogen, a.a.O., 28; s. ebendort 41–60: § 9 „Die Tefilla – II. Wortlaut“.
17 Vgl. Billerbeck, a.a.O., 233; sowie Elbogen, a.a.O., 246: „Gerade das bezeugt die weitgediehene Verbreitung und Anerkennung des Gottesdienstes, dass das Gebet nicht mehr ausschließlich Gemeindegebet ist, sondern dass der einzelne sich ebenfalls zu denselben Gebeten verpflichtet hält.“
18 Vgl. Elbogen, a.a.O., 60.
19 Vgl. Elbogen, a.a.O., 93.
20 Zu der vielfachen Verwendung des Qaddisch-Gebetes vgl. Elbogen, a.a.O., 92f; sowie A. Lehnhardt, Qaddish, Untersuchungen zur Entstehung und Rezeption eines rabbinischen Gebets, Text and Studies in Ancient Judaism 87, Tübingen 2002.
21 Urtext in jüdischen Gebetbüchern bzw. zu den verschiedenen Formen des Gebets: Staerk, a.a.O. (s.S. 28, Anm. 10), 29–32.
22 Urtext bei Staerk, a.a.O., 30. Zur Übersetzung vgl. Billerbeck, a.a.O., 408–419. Vgl. weiter Fiebig, a.a.O., Bergpredigt (s.S. 28, Anm. 10), 106f.
23 Eine eingehende vergleichende Gegenüberstellung findet sich bei P. Fiebig, Das Vaterunser, BFCTh XXX, 3, Gütersloh 1927, 28–37; vgl. auch Fiebig, a.a.O. Bergpredigt (s.S. 28, Anm. 10), 106f.
24 Vgl. Jeremias, a.a.O., Abba (s.S. 12, Anm. 2), 76: „Dass das Qaddisch, mit dem der Synagogengottesdienst schloß, aramäisch ist, ist eine Ausnahme, die darin begründet liegt, dass mit diesem Gebet der Prediger seine aramäisch gehaltene Predigt beendete.“