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2. Die aramäische Urfassung und der griechische Text
ОглавлениеDie Sprache Jesu und der ersten Christen war das Aramäische. In seinen Worten wird das Vaterunser zuerst formuliert und gesprochen worden sein. Auf diesen sprachlichen Ursprung deutet schon die Anrede Gottes als Vater hin. Wird doch sowohl von Jesus selbst wie auch vom gottesdienstlichen Gebet der ersten Christen überliefert, dass sie Gott mit „Abba“, also als Vater angeredet haben (Mk. 14,36 par.; Gal. 4,6; Röm. 8,15). Das aramäische Wort „Abba“ ist ein status emphaticus, der zugleich ein Pronominalsuffix in der 1. Person Singular bzw. die Form mit der 1. Person Plural vertritt, also als „mein Vater“ bzw. „unser Vater“ wiederzugeben ist.1 Diese Anrede entspricht der schlichten „Rede des Kindes zum Vater“.2
Dass die Sätze des Gebets ursprünglich in aramäischer Sprache formuliert waren, ergibt sich mit Sicherheit aus folgender Beobachtung: Die Begriffe (Schulden) und (Sünden), die sich einerseits bei Matthäus, andererseits bei Lukas finden, gehen offensichtlich auf ein aramäisches „oba“ zurück. Denn im Aramäischen wurden auch sonst Verschuldungen, die die Menschen durch ihre Sünden auf sich geladen haben, mit diesem Wort bezeichnet, dessen eigentliche Bedeutung sich auf finanzielle Verschuldung bezog.3
Kundige Philologen und Exegeten haben Vorschläge erarbeitet, die aramäische Urfassung des Gebetes zu rekonstruieren. Dabei hat sich im Lauf der gelehrten Erörterungen ein weitgehender Konsens ergeben, der zu einer unter Fachkennern einhellig vertretenen Auffassung geführt hat.4 Demnach entspricht die kürzere Lukas-Fassung folgenden aramäischen Sätzen:
Abbá
jitqaddáš šemák, teté malkulták, lamán delimár hab lán joma dén, ušeboq lán obénan kedišebáqnan leajjabénan, wela ta’elinnan lenisjón.5
Werden diese Sätze laut gesprochen, so lässt sich ihre poetische Struktur deutlich empfinden. In rhythmisch geformter Sprache redet der Beter zu Gott. Diese Worte prägen sich dem Gedächtnis umso klarer ein, als auch die jeweiligen Satzenden sich aufeinander reimen.6 Auch der ausführlichere Matthäus-Text ist in poetischer Fassung mit sich reimenden Zeilenenden gehalten.7
Die beiden unterschiedlichen Fassungen des Gebets lassen sich nicht in einen einheitlich formulierten Wortlaut zusammenfassen. Sie bieten vielmehr im Einzelnen durchaus die eine oder andere Variante des Wortlauts. Will doch das Vaterunser nicht formelhaft wiederholt und nachgesprochen werden, sondern zu vertrauender Zuversicht und regelmäßigem Beten anhalten.
Schon in sehr früher Zeit wurde das Gebet ins Griechische übersetzt, wie auch die gesamte Überlieferung der Worte Jesu in die griechische Sprache übertragen und tradiert wurde. Dabei ist die poetische Gestalt des Gebets nicht mehr so deutlich zu erkennen wie in der aramäischen Urfassung. Die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas setzen jeweils diese vorgegebene griechische Fassung des Vaterunsers voraus, die sie aufnehmen. Jeder der beiden Evangelisten hat das Vaterunser in seinem Evangelium in einen größeren Zusammenhang eingeordnet, der zum rechten Verständnis des Gebets anleiten soll.
Auf diesen im griechischen Neuen Testament überlieferten Text hat der Ausleger zu achten. Ist es doch seine Aufgabe, nicht einen hypothetisch rekonstruierten Wortlaut, sondern die ihm vorgegebene griechische Fassung des Vaterunsers zu erklären. Dabei kann freilich die Rekonstruktion einer aramäischen Urfassung helfen, die verborgene Tiefenschicht der Sätze wahrzunehmen.
Der Evangelist Matthäus hat das Vaterunser in die Mitte der großen Komposition der Bergpredigt hineingestellt. Es bildet gleichsam deren Zentrum, von dem die Fäden des Zusammenhangs sowohl rückwärts wie auch vorwärts laufen. Das 6. Kapitel im Matthäusevangelium handelt zunächst von rechter Gabe des Almosens, einer sittlichen Verpflichtung, der im Judentum von jeher hoher Rang zugemessen wird.8 Wird Almosen gegeben, so soll die linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, um jede Anwandlung von Heuchelei zu meiden (Mt. 6,3f.). Hierauf folgt die Unterweisung zum Beten, das für den frommen Juden eine bindende tägliche Verpflichtung darstellt (Mt. 6,5–15). Und dann werden Sätze angeschlossen, die rechtes Fasten beschreiben, das im demütigen Aufblick zu Gott geschehen soll (Mt. 6,16–18).9 Almosen, Beten und Fasten waren und sind für fromme Juden wichtige Bereiche gläubiger Lebensführung. So weist der Evangelist durch die von ihm gestaltete Rahmung des Vaterunsers auf den jüdischen bzw. judenchristlichen Hintergrund des Gebets hin.
Auf andere, jedoch gleichfalls von jüdischen Voraussetzungen bestimmte Weise hat der Evangelist Lukas die von ihm vorgenommene redaktionelle Rahmung gestaltet. Die Jünger Jesu – so wird der Zusammenhang eingeleitet – treten an ihren Meister mit der Bitte heran, er möge sie beten lehren, wie auch Johannes der Täufer seine Jünger gelehrt hatte, recht zu beten. Mit diesem Hinweis am Beginn des 11. Kapitels im Lukasevangelium wird darauf aufmerksam gemacht, dass eine von gemeinsamem Glauben erfüllte Gemeinschaft durch rechte Unterweisung über das Gebet ihre Identität erfährt.10 Dabei wird – ebenso wie im Matthäusevangelium – vorausgesetzt, dass die Jünger Jesu als Juden, die sie waren, sehr wohl darum wussten, welche Bedeutung dem Gebet für eine rechte Lebensführung zukommt. Sie werden nun darin unterwiesen, mit welchen Worten ihre Gemeinschaft zum rechten Gebet zusammengeschlossen werden soll. Die jüdischen Voraussetzungen, wie sie für die Formulierung des Vaterunsers gegeben waren, bedürfen daher nun näherer Betrachtung.
Anmerkungen
1 Vgl. G. Kittel, in: ThWNT I, 4–6.
2 Vgl. G. Dalman, Die Worte Jesu I, 2Leipzig 1930, 157.
3 Vgl. Jeremias, a.a.O. (Abba), 159; Ders., RGG3VI, 1236.
4 Vgl. G. Dalman, a.a.O., 283–365; sowie C.C. Torrey, The Translations made from the Original Aramaic Gospels, in: Studies in the History of Religion presented to C.-H. Toy, New York 1912, 309–317; C. F. Burney, The Poetry of our Lord, Oxford 1925, 112f., 161; K. G. Kuhn, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim, WUNT 1, Tübingen 1950; Jeremias, a.a.O. (Abba), 152–171; Ders., Neutestamentliche Theologie I, 188–196.
5 Vgl. Jeremias, a.a.O. (Abba), 160; bzw. Neutestamentliche Theologie I, 191. Nicht frei von unbewiesenen Annahmen sind jedoch die Erwägungen von G. Schwarz, Matthäus VI, 9–13/Lukas XI, 2–4. Emendation und Rückübersetzung, in: NTS 15 (1968/69), 233–247.
6 Den Nachweis für die poetische Struktur sowie die sich reimenden Satzenden hat Kuhn, a.a.O. (s. Anm. 4) erbracht.
7 Vgl. Kuhn, a.a.O., 33.
8 Vgl. die vielen Belege bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I, München 1922, 387–396.
9 Belege zum jüdischen Verständnis und Vollzug des Fastens bei Billerbeck, a.a.O., 426–429.
10 C. K. Rothschild, Baptism Traditions and Q, WUNT I, 190, Tübingen 2005, nimmt an, dass manche Stoffe, die in der Überlieferung als Worte Jesu angesprochen wurden, eine Vorgeschichte in der Verkündigung Johannes des Täufers gehabt haben können. Denkbar ist, dass einzelne Gebetstraditionen über die Gruppe Johannes des Täufers Jesus und seinen Jüngern zugekommen sein könnten (vgl. Lk. 11,1–4). Doch lassen sich Vermutungen dieser Art nicht beweisen. Vgl. die Rezension von K. Backhaus, in: ThLZ 132 (2007), 942–944.