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Die „Lune“: Archäologie in der Computersimulation

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Auch wenn viele Begleitumstände die Arbeit der Archäologen erschwerten, war der Untergang der „Lune“ für sie gewissermaßen ein Glücksfall. Das Schiff war am 6. November 1664 vorm Hafen von Toulon so schnell gesunken, dass es sich weder als Folge von Lufteinschlüssen drehte noch beim Auftreffen auf den Meeresgrund in 90 Meter Tiefe auf die Seite kippte und schon gar nicht kieloben lag – als man die „Lune“ entdeckte, ragte sogar die Positionslaterne aus dem Schlick auf. Mehr als 300 Jahre ruhte das Wrack aufrecht auf dem Meeresgrund, zu tief, als dass man mit den damaligen Mitteln Bergungsversuche hätte unternehmen können. Irgendwann konnte sich niemand mehr an das Wrack erinnern. Und das war wohl auch so gewollt, denn die Geschichte des Schiffes war die Geschichte eines kläglichen Scheiterns, und das hängte man zur Zeit des absolut regierenden Sonnenkönigs nicht an die große Glocke.

Eigentlich hatte die „Lune“ im Oktober des Jahres 1664 Order erhalten, ein französisches Expeditionskorps in Nordafrika mit Nachschub zu versorgen. Der Dreimaster hatte da seine besten Zeiten schon hinter sich, er war 25 Jahre alt, und die mittlere Lebensdauer eines Schiffes in jener Zeit betrug gerade einmal 15 Jahre. Anstatt jedoch seine Ladung an der nordafrikanischen Küste loszuwerden, musste das Schiff schon bald wieder umkehren und zusätzliche Soldaten und Verwundete an Bord nehmen. Denn die Kommandeure des Expeditionskorps hatten sich so sehr zerstritten und waren dem Gegner so sehr unterlegen, dass sie schon bei Ankunft des Versorgungsschiffes vor der afrikanischen Küste beschlossen hatten, wieder in die Heimat zurückzukehren.

Bei dieser Rückfahrt war die „Lune“ hoffnungslos überladen, während der Überfahrt mussten ständig 100 Besatzungsmitglieder an den Pumpen stehen, um eingedrungenes Wasser zu lenzen. Doch auch der Hafen von Toulon war keine Rettung: Man verweigerte dem Schiff das Einlaufen. Die offizielle Begründung lautete, es müsse wegen Pestgefahr erst in Quarantäne. Da half es auch wenig, dass der Kapitän mit Hinweis auf den schlechten Zustand seines Schiffes protestierte. Wahrscheinlich aber sollte mit dem verzögerten Einlaufen die Nachricht vom Scheitern der Mission möglichst spät nach Paris gelangen. Auf dem Weg zum Quarantäne-Liegeplatz vor den Inseln von Hyéres sank das Schiff am 6. November 1664 laut einem Augenzeugenbericht „wie ein Marmorblock“. Es gab wenige Überlebende, darunter den 80 Jahre alten Kapitän de Verdille, einen Ritter des Malteserordens, der sich mit einer Planke an Land retten konnte – ein Anlass mehr, den Vorfall zu vergessen.

Entdeckt wurden die Überreste des Schiffes rein zufällig, von einem Forschungsschiff im Jahr 1993. Doch bis zur gründlichen Erforschung der „Lune“ vergingen noch fast 20 Jahre, denn für die Erkundung eines Wracks in so großer Tiefe fehlten auch in den Neunzigern noch die technischen Voraussetzungen. Aber selbst als diese endlich gegeben waren, konnten die Forschungsarbeiten nicht gleich beginnen, denn die Fundstelle lag in einem militärischen Speergebiet vor dem wichtigen französischen Marinehafen Toulon. Schließlich gab das Militär eine Ausnahmegenehmigung, aber auch diese setzte die Archäologen unter Druck. Denn sie war auf fünf Tage befristet viel zu wenig Zeit, um Gegenstände zu bergen und Untersuchungen am Meeresgrund vorzunehmen.

Die Wissenschaftler untersuchten das Wrack der „Lune“ deshalb mit Hilfe von Aufnahmen einer speziellen Unterwasserkamera, die mittels einer neu entwickelten Technologie von Dassault Systèmes zu 3D-Bildern zusammengesetzt wurden. Diese französische Unternehmensgruppe, die sich mit dem Bau von Flugzeugen einen Namen gemacht hat, Flugsimulatoren baut und auch Forschung in den Bereichen Kommunikation und Multimedia betreibt, hat eine Software namens 3D-Experience für realistische, räumliche Darstellungen auf Computern entwickelt. Mit Hilfe dieses Programms wurde die Fundstelle der „Lune“ zu einer virtuellen 3D-Grabungsstätte.

Basis dafür waren akribisch geplante Unterwasseraufnahmen, was sich einfacher anhört, als es in der Praxis umzusetzen war. Die Archäologen des DRASSM (Département de recherches archéologiques subaquatiques et sous-marines), der Abteilung für Unterwasserarchäologie, sowie Experten der Marine und Filmteams, die eine Dokumentation für den Kultursender arte drehten, mussten sich bei jedem Manöver genauestens koordinieren, was bei schlechtem Wetter und Seegang auf engem Raum für alle Beteiligten eine Herausforderung war.

Zwar ist die Holzkonstruktion des 42 Meter langen Dreimasters längst in sich zusammengefallen, doch was noch erhalten ist, bewerten Fachkreise als Sensation. „Die ‚Lune‘ ist eine richtige Schatztruhe“, schwärmt Michel L’Hour, Chef des DRASSM und Leiter der Expedition. Zehntausende Gegenstände, darunter diverse Schiffsteile, Geschirr sowie Musketen und mehr als 40 Kanonen lagern am Meeresgrund und lassen sich erforschen. Dass das Wrack so außergewöhnlich gut erhalten ist, erklärt sich auch durch die große Tiefe, in der es liegt. Dort ist der Druck zwar höher, aber es ist keinen Witterungseinflüssen ausgesetzt und keinen Beschädigungen durch menschliches Zutun. Michel L’Hour bezeichnet das Wrack deshalb überschwänglich als „Unterwasser-Pompeji“. Und tatsächlich: Das schlagartig erstarrte Leben des 17. Jahrhunderts liegt hier buchstäblich zum Greifen nahe. Was die Menschen auf der „Lune“ am Leib trugen, woraus sie aßen, wie ihre Waffen konstruiert waren – viele dieser Informationen sind heute noch abrufbar.

Hilfreich bei der Erkundung war der Druckanzug Newtsuit, der wie ein Astronautenanzug aussieht. Das Gerät stammt aus der Militärtechnologie und wurde hier, vor Toulon, erstmals für archäologische Zwecke eingesetzt. 24 dieser Anzüge gibt es weltweit, ein einziger ist bei der französischen Marine im Einsatz. Damit kann ein Taucher sich mehrere Stunden am Meeresgrund aufhalten und mit seinen zwei Greifwerkzeugen selbst empfindliche Gegenstände einsammeln.

Das Wichtigste aber war die Erfassung der Basisdaten für die 3D-Darstellung. Für die Archäologen hieß das, dass sie unter Wasser gleichzeitig zahlreiche Geräte bedienen mussten. Filmproduzent Guillaume Pérès, der insgesamt 30 Personen und einen Tauchroboter sowie ein Mini-U-Boot im Einsatz hatte, bestätigt das: „Die Arbeitsbedingungen sind komplex. Sie erfordern technische Mittel, wie sie auch an Wracks in sehr großer Tiefe, beispielsweise dem der ‚Titanic‘, eingesetzt werden.“ Die gewonnenen Daten helfen den Archäologen nun, ohne Zeitdruck die vielen Fundstücke zu untersuchen. Dabei arbeiten sie an Land oder auf Forschungsschiffen und sehen sich die unter Wasser liegende Grabungsstelle auf hochauflösenden Bildern mit speziellen Virtual-Reality-Helmen an. Ähnlich wie in einem Flugsimulator können sie in der 3D-Welt mit den Artefakten arbeiten, ohne diese oder deren Umgebung zu zerstören. Zudem ermöglicht die innovative Technologie dem Team um L’Hour, sich virtuell auf die Tauchgänge vorzubereiten und verschiedene Strategien zur geplanten Bergung der Fundobjekte zu erproben. Denn die Wissenschaftler hoffen noch immer, eines Tages zahlreiche Kanonen sowie Keramikkrüge und Teller, Wasserflaschen und Musikinstrumente vom Meeresgrund an Land bringen zu können.

Dieses archäologisch bedeutsame Tiefseeabenteuer trägt jedoch nicht nur dazu bei, die Geheimnisse der „Lune“ zu enthüllen. Der Einsatz und die Erprobung neuer Technologien und Methoden erweitert die Möglichkeiten zukünftiger Tiefseeforschungen und dürfte damit als Meilenstein in die Geschichte der Unterwasserarchäologie eingehen.

Chefarchäologe Michel L’Hour hat angesichts der Erfolge schon die nächsten Ideen. Sein Wunschtraum ist, künftig von seinem Büro in Marseille aus mit Hilfe der 3D-Technik jedes beliebige Wrack auf der Welt erforschen zu können. Noch allerdings sind solche Expeditionen auch in finanzieller Hinsicht nicht ganz einfach zu bewältigen. Mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen die nächste Expedition des DRASSM stattfinden wird, ist daher noch unklar. An Untersuchungsobjekten jedenfalls fehlt es nicht. Die „Lune“ ist nur eines von etwa 15.000 bis 20.000 Schiffswracks, die Schätzungen zufolge vor den Küsten Frankreichs liegen.

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