Читать книгу Die erste Legende von Ashamur - Eileen Schlüter - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеReich der vier Himmel, Westreich
Hauptstadt Aracon
- Drei Jahre später-
Das durchdringende Klirren der Schwerter begleitete die Frühjahrssonne bei ihrem Untergang und begrüßte die Dämmerung und den blassen Mond, der im Osten aufstieg. Die zunehmende Anstrengung machte sich durch heiseres Stöhnen der beiden jungen Kämpfer bei jedem Schwerthieb bemerkbar.
Blitzschnell schwang Jard sein Schwert und stürmte auf Kel zu, der jedoch unmittelbar reagierte und den
Hieb erfolgreich abwehrte. Kel überraschte die Wucht des Schwerthiebes seines Gegners, der ihm für gewöhnlich bei den allabendlichen Übungskämpfen unterlag. Er sprang zur Seite und holte zum Gegenangriff aus, aber Jard konterte geschickt. In temporeicher Abfolge folgten mehrere Schlagabtausche. Kel war außer Puste. Sein Leib schmerzte und seine Gedärme verkrampften sich bei jeder Bewegung. Jard verstand es blendend, diese Schwäche und seine eigene körperliche Überlegenheit auszunutzen. Er holte aus und traf Kel mit seinem Übungsschwert an der Schulter. Kel ächzte.
„Genug für heute!“, beendete Vardan das Gefecht, der wie jeden Abend, seit Kel vor drei Jahren zu der Familie des Präfekten kam, am Rand des Kampfplatzes stand und Anweisungen gab.
Die beiden jungen Männer verbeugten sich nach dem geltenden Codex mit einer entsprechenden Geste der Ehrerbietung. Erleichtert löste Kel seinen mit Bronze beschlagenen, ledernen Brustharnisch und schnappte nach Luft.
„Was ist nur los mit dir, Junge? Beinahe hätte Jard dich erledigt, dabei will er doch Heiler werden und kein Krieger“, erkundigte sich Vardan stirnrunzelnd.
Die Worte des Präfekten klangen freundlich, was die vielen Lachfältchen um seine Augen noch unterstrichen. Und doch meinte Kel, eine gewisse Sorge in seinem Unterton zu erkennen.
„Es ist nichts, Meister Vardan, ich bin nur... nur ein wenig unkonzentriert heute!“, erwiderte Kel und verbannte den wahren Grund für seine schlechte körperliche Verfassung in den hintersten Winkel seines Verstandes. Allmählich ließen die Krämpfe in seinem Leib nach. Warum hatte ihn dieser schreckliche Fluch bloß getroffen?
„Lass dir heute ein ordentliches Stück Fleisch geben, damit du endlich was auf die Knochen kriegst. Du weißt, es mangelt dir nicht an Geschick und Kampfgeist, es ist lediglich die Kraft, die dir noch fehlt“, sagte Vardan, und klopfte Kel aufmunternd auf den Rücken.
Kel brachte ein gequältes Lächeln zu Stande.
Jard, der in den vergangen drei Jahren für Kel wie ein Bruder geworden war, näherte sich mit strahlender Miene.
„Deine Abwehr war heute wirklich übel, scheint so, als hätte ich dir einen ordentlichen Hieb verpasst. Zum Glück sind es nur Übungsschwerter.“ Er legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schultern. Kel zuckte kaum merklich zusammen, doch Jard schien es trotzdem aufzufallen.
„Ist deine Schulter in Ordnung? Soll ich mal nachschauen? Du weißt doch, ich habe heilende Hände.“ Er machte sich sofort daran, Kel aus dem Brustpanzer zu schälen, um die Verletzung zu inspizieren. Doch Kel machte erschrocken einen Satz zur Seite. „NEIN...!“, rief er und schüttelte Jards Hände ab. „...Äh... ich meine... nein, ich hab nichts.“ Hastig rückte Kel die ledernen Platten seines Rüstzeugs wieder zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Lass uns einfach gehen“, forderte er Jard auf, während er sein Schwert in die Scheide steckte.
Jard nickte und packte ebenfalls seine Sachen zusammen. „Wolltest du nicht noch Wolfsnesselkraut sammeln?“, erinnerte ihn Jard. „Wenn wir uns beeilen, finden wir noch welches, bevor es stockdunkel ist.“
Ja, richtig, Wolfsnessel! Das hatte Kel beinahe vergessen. Sein Vorrat an Wolfsnessel ging allmählich zur Neige und er brauchte dringend Nachschub. Die beiden Jungen hatten vorigen Sommer begonnen, täglich einen Aufguss aus Wolfsnessel aufzubrühen und diesen zu trinken, auch wenn dieser Sud grauenhaft und bitter schmeckte und noch dazu ein unangenehmes Kratzen im Hals und Heiserkeit verursachte. Doch dieses Übel nahmen sie in Kauf, versprach der Konsum dieses Tees doch einen kräftigen Muskelaufbau sowie besonders lang anhaltende Manneskraft. Und auch ein üppiger Bartwuchs war nach regelmäßiger Einnahme zu erwarten. Doch im Gegensatz zu Jard, der für seine siebzehn Jahre schon breite Schultern und einen ansehnlichen Körperbau aufwies, war Kel meilenweit entfernt von derartigen Ergebnissen. Auch war er in den vergangenen drei Jahren nicht mehr sonderlich gewachsen, sodass Jard ihn mittlerweile um mehr als einen Kopf überragte. Kürzlich hatte Kel die Dosis erhöht, doch bis auf Halsschmerzen und eine kratzige Stimme, hatte sich an seinem schmalen Körperbau nichts geändert. Kel seufzte.
„Irgendwann muss das Zeug doch auch bei dir wirken!“, versuchte Jard ihn aufzuheitern. Zumindest hatte er Kel schon mehrmals hoch und heilig versichert, dass die ersten Anzeichen von Stimmbruch schon deutlich zu erkennen waren, wenn auch nur sporadisch.
„Wart´s ab, Kel, spätestens im Spätsommer wirst du den Mädchen auch endlich auffallen!“ Er grinste breit, wobei er seinem Vater sehr ähnelte, der die gleichen Grübchen auf den Wangen aufwies und ebenso warme braune Augen hatte. Kel zog eine Grimasse.
Mögen die Allmächtigen mich davor bewahren.
***
Jard und sein Ziehbruder, Kel verließen das weite Stoppelfeld, das als Übungsplatz diente und sie traten ihren gewohnten Heimweg an. Bis zur Residenz seiner Familie, war es ein zwanzig minütiger Fußmarsch. Sein Vater war indes den Rückweg zu Pferde angetreten.
An den Wegrändern wucherte in üppigen Büscheln das Wolfsnesselkraut. Kel bückte sich und pflückte die besten Stängel mit den schmalen pfeilförmigen Blättern. Jard hockte sich neben seinen Freund, dabei fiel ihm auf, wie winzig dessen Füße eigentlich waren. Derart kleine Stiefel hatte Jard zuletzt getragen, als er ungefähr zwölf gewesen war. Diese seltsame Entwicklungsverzögerung seines Freundes rührte anscheinend noch immer von den leidvollen Jahren her, die er hungernd auf der Straße verbracht hatte. Er begann ebenfalls noch etwas von dem Kraut für Kels Vorrat zu pflücken, dabei musste er höllisch aufpassen, da die Stacheln, die sich an den Stängeln befanden, sich schmerzhaft in seine Fingerspitzen bohrten, als er in der falschen Richtung an ihnen entlangfuhr.
„Soll ich dir eine Neuigkeit erzählen?“ Jard ließ seine Stimme absichtlich geheimnisvoll klingen. Kel wandte seinen Kopf zu Jard und blickte ihn voller Neugier an.
„Ist es das, was ich glaube?“, fragte Kel, seine Augen schienen vor Aufregung regelrecht zu glühen.
Jard versuchte sein freudiges Grinsen zu verbergen, indem er seine Lippen zusammenpresste.
„Nun sag schon!“, drängte Kel.
Jard strich sich mit einer gemächlichen Handbewegung sein leicht gewelltes, dunkelbraunes Haar zurück, so als müsse er erst darüber nachdenken.
„Wir dürfen endlich nach Eriu gehen. Vater hat entschieden, dass wir beide so weit sind. Du und ich, wir werden bald Schüler des großen Tempels des Westens sein. All die Zeit, die wir zusammen auf diesem verfluchten Stoppelfeld trainiert haben, ist also nicht umsonst gewesen, denn nun hast du die Aussicht, eines Tages ein bedeutender Kämpfer zu werden und ich ein erfolgreicher Magieheiler... oder wer weiß... vielleicht entpuppen sich meine Fähigkeiten als so außergewöhnlich, dass ich sogar selbst ein Großmeister des Tempels werde.“ Wieder grinste Jard, diesmal so breit, dass seine geraden weißen Zähne aufblitzten. Kels Gesicht begann zu strahlen.
Jard blickte Kel in die Augen. Diese schönen, dämonisch- grauen Augen. Verblüfft von diesem eigenartigen Gedanken, wich er einen Schritt von ihm zurück und drückte Kel das Kraut in die Hände.
„Lass es uns besiegeln!“, sagte er und zog unvermittelt seinen Dolch.
„Besiegeln?“ Kel blickte perplex auf die scharfe Klinge des Dolches.
Ohne zu Zögern öffnete Jard seine Hand und schnitt einmal quer durch seine Handfläche. Der sogleich einsetzende, stechende Schmerz entfachte eine seltsame Euphorie. „Los, gib mir deine Hand!“, rief er und griff nach Kels freier Hand. Ein paar Blätter fielen dabei zu Boden. Kel zog erschrocken seine Hand zurück, doch Jard ließ sie nicht los.
„Dieser Blutschwur wird uns zusammenschweißen wie echte Brüder, Kel. Eine solche Verbindung kann nicht einmal der Tod auflösen. Wir werden gemeinsam lernen und kämpfen und wenn nötig auch für den anderen sterben. Du bist mir in den vergangenen Jahren immer wie ein Bruder gewesen, deswegen will ich dir mit meinem Blut ein Stück meiner Stärke schenken!“
Kel riss die Augen auf. „N...nein, Jard, tu das nicht... ich... kann das nicht tun...!“, stotterte Kel, seine Stimme klang ganz heiser.
Jard bedachte Kel mit einem verständnislosen Blick. „Warum stellst du dich so an? Seit Jahrhunderten ist es Tradition im Reich der vier Himmel, dass Männer Bluteide leisten. Was ist nur los mit dir? Erzähl mir nicht, du kannst kein Blut sehen!“
Jard hatte den Eindruck, Kel starrte geradezu panisch auf die feine hellrote Linie in seiner Handfläche.
„Nein. Das ist es nicht. Ich... ich kann nur nicht. Einen Bluteid leisten, meine ich...“, sagte Kel in abwehrender Haltung.
„Kannst du nicht oder willst du nicht?“ Jard setzte eine gekränkte Miene auf.
„Ich kann es einfach nicht...“
„Oder liegt es daran, dass wir aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Rängen stammen? Komm schon, Kel. Bruder. Du weißt, dass mir... und meiner Familie das egal ist. Du gehörst zu uns.“ Er zog Kels Hand wieder fester zu sich, denn er war sich sicher, dass Kel keinen triftigen Grund hatte, seinen Großmut zu verschmähen. Die Ehre, die Kel in diesem Moment zuteil wurde, konnte dieser unmöglich ablehnen. Er musste doch wissen, welche Kränkung eine solche Ablehnung bedeutete. Jard versuchte in Kels Augen den wahren Grund für seinen Widerwillen zu finden. Er sah seinen Freund schwer schlucken. Dann entkrampfte Kel endlich seine Hand. Sie zitterte.
***
Die kühle Klinge fühlte sich an wie Feuer, als sie durch seine Handfläche glitt. Kel sog geräuschvoll die Luft durch seine zusammengepressten Zähne. Als Jard fertig war, drückte er seine blutige Hand in seine. Eine Wärme schoss durch Kels Arm und strömte durch seinen gesamten Körper.
„Hiermit schwöre ich - Jarden Amatris Sohn des Vardan- dir, Kel, Sohn des...“ Jard hielt inne, „...erinnerst du dich an den Namen deines Vaters?“
Kel nickte. „Avias. Er kämpfte vor neun Jahren als Söldner in der Schlacht von Ivadyn. Dort starb er.“
Jard hielt noch einen Moment inne, so als gönne er Kel noch einen stillen Moment des Gedenkens.
Dann setzte er fort: „Kel, Sohn des Avias, dem tapferen Krieger von Ivadyn, in diesem Leben bedingungslos und mit unerschütterlicher Treue und unerschöpflicher Kraft zur Seite zu stehen. Von diesem Tag an sind wir Brüder für die Ewigkeit!“, flüsterte Jard mit funkelnden Augen.
Kel schluckte schwer. Seine Kehle war trocken.
„Hiermit schwöre ich, Kel, S...Sohn des Avias dir, Jarden Amatris, Sohn des Varden in diesem Leben bedingungslos und mit unerschütterlicher Treue und unerschöpflicher Kraft zur Seite zu stehen. Von nun an sind wir Brüder“, wiederholte Kel und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme. Es war eine Lüge. Er log während eines geheiligten Rituals. Wenn ihn dafür nicht die ewige Verdammnis erwartete.