Читать книгу Der Nihilist - Elena Landauer - Страница 3
Vorwort
ОглавлениеIm Frühjahr 2001 meldete sich in meiner Praxis ein 59jähriger Mann und fragte, ob ich Zeit für ihn hätte. Ich fragte zurück, was sein Anliegen sei. Er wolle reden, sagte er. Ich gab ihm einen Termin für ein Erstgespräch.
Er erschien pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt. Er war ein groß gewachsener, sportlich schlanker Mann, der unter Berücksichtigung seines fortgeschrittenen Alters attraktiv aussah. Man konnte vermuten, dass er in jüngeren Jahren auf Frauen Eindruck gemacht hatte. Ich fragte ihn, wie ich ihm helfen könne. Er fragte zurück, ob ich bereit sei zuzuhören. Ich bin es gewohnt, dass meine Patienten mit ihrem Problem herausplatzen, mit ihrer Klaustrophobie, ihren Schwierigkeiten in der Partnerschaft, ihrer Entscheidungsunfähigkeit oder was auch immer. Sein entschiedener Wille, nichts dergleichen zu nennen, reizte mich. Ich wollte ihn ein wenig provozieren und sagte, ich wäre bereit, ihm zuzuhören, wenn er bereit wäre, gut zu zahlen. Das war für ihn kein Problem.
Er sagte, er habe viel zu erzählen, er wolle sein Leben auskotzen und es im Grab eines professionellen Zuhörers versenken. Hilfe erwarte er nicht. Ich nahm ihn als Patienten an. Die Gespräche fanden einmal wöchentlich statt und zogen sich über ein halbes Jahr hin. Es herrschte durchweg eine entspannte Atmosphäre. Es waren eher freundschaftliche Unterhaltungen als Therapiesitzungen.
Ich fragte ihn, ob ich ein Band mitlaufen lassen und mir Notizen machen dürfe. Er hatte keine Einwände. Gegen Ende unserer Begegnungen im Herbst 2001 fragte ich ihn, ob ich bei Veröffentlichungen auch auf seinen Fall Bezug nehmen könne, natürlich unter Abänderung der Namen und Örtlichkeiten. Er sagte, ich könne sein ganzes Leben veröffentlichen, wenn ich es für mitteilenswert hielte, allerdings erst posthum. Es sei ihm sogar ein Trost, in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift als Fall weiterexistieren zu können.
Er, ich nenne ihn Bertold, starb im Sommer 2007 durch Selbstmord. Er schoss sich in die Schläfe. Obwohl aus seinem Abschiedsbrief das Motiv klar hervorging - bei Bertold war Alzheimer diagnostiziert worden -, stellte die Polizei doch Nachforschungen an und kam so auf mich.
Bertolds Lebensgeschichte ist für mich ein Zeitdokument. Sie zeigt die Probleme von Menschen, die keine moralischen Normen außer den selbstgesetzten gelten lassen. Bei aller Sympathie für Bertold will ich sein Leben nicht glorifizieren noch will ich sein Verhalten verurteilen. Ich enthalte mich einer Wertung. Ich gebe nur möglichst genau wieder, was er mir erzählt hat, mit den Schwerpunkten, die er gesetzt, und mit den Wertungen, die er vorgenommen hat.
Elena Landauer