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Nach Ostern 1955 bestiegen Bertold und seine Mutter die örtliche Kleinbahn und machten sich auf den langen Weg zur Klosterschule. Viermal mussten sie umsteigen, bis sie endlich nach der zweihundert Kilometer langen Reise ihr Ziel erreichten. Die Klosterschule lag etwa zwei Kilometer außerhalb der Kleinstadt G. in einem großen Park. Das Gebäude war groß, aber nicht einschüchternd, sondern freundlich und wohlproportioniert und entsprach dem Foto im Prospekt. Nach der Anmeldung beim Rektor des Internats verabschiedete sich die Mutter und machte sich auf den Heimweg. Bertold bekam einen Jungen namens Georg, der aus der gleichen Gegend wie er stammte, als Ansprechpartner zugeteilt. Georg führte ihn im Gebäude und in dem angrenzenden Park herum, zeigte ihm seinen Klassenraum und den Spind im Schlafraum, in dem Bertold seine Sachen unterbringen konnte, und machte ihn mit der Tagesordnung bekannt. Georg, obwohl selbst erst ein Jahr im Internat und kaum zwei Jahre älter als Bertold, erweckte den Eindruck eines alten Hasen, der sich nur widerwillig bereit fand, seine kostbare Zeit mit dem dummen Neuankömmling zu verschwenden. Was er zu erzählen hatte, wirkte lieblos. Die gemeinsame Herkunft, von Bertold angesprochen, interessierte ihn nur insofern, als er seinen Heimatort als viel bedeutsamer als Bertolds Heimatdorf darstellen konnte. Georg sollte Bertold die ersten Wochen bei allen Fragen zur Verfügung stehen. Bertold stellte ihm aber, nachdem die Einführungsrunde beendet war, nie mehr eine Frage, weder an diesem Tag noch in den folgenden Wochen. Er hielt sich lieber an seine neuen Klassenkameraden, die durchweg freundlicher waren und Interessanteres zu berichten hatten. Im Übrigen versuchte er selbst herauszufinden, was zu tun war, weil er nicht als Dummkopf dastehen wollte.

Der Tagesplan sah so aus:

6.30 Uhr: Aufstehen,

7 Uhr: Messe, anschließend Frühstück,

8 Uhr: Unterricht,

13 Uhr: Mittagessen, anschließend Freizeit,

14-16 Uhr: Lernen in der Klasse, anschließend Freizeit,

17 Uhr: freies Lernen in der Klasse,

18 Uhr: Abendessen, anschließend Freizeit,

21 Uhr Bettruhe.

Geschlafen wurde in einem großen Saal, in dem etwa zwanzig Betten standen, die Lazarettbetten ähnelten, vielleicht auch wirklich Lazarettbetten waren. Wenn Bettruhe war, also kurz nach 21 Uhr, kam der Präfekt, sah nach, ob alle ordnungsgemäß in ihren Betten lagen - die Arme mussten auf der Bettdecke liegen, sagte noch einen frommen Spruch, wünschte gute Nacht und machte das Licht aus. Morgens um sechs erschien er wieder mit einer kleinen Glocke in der Hand. Wenn es läutete, musste man sofort aus dem Bett aussteigen, was bei den meisten aber mehr nach einem Aus-dem Bett-Fallen aussah, sich niederknien und mit den Händen auf dem Bett ein kurzes, stilles Morgengebet verrichten. Danach ging es in die vor dem Schlafsaal liegenden Waschräume.

Bertolds Mitschüler in seiner Klasse waren durchweg älter als er. Einige hatten schon eine Berufsausbildung abgeschlossen, einige hatten schon ein paar Jahre auf einer höheren Schule verbracht, nur wenige kamen direkt von der Volksschule. Alle hatten aber schon zu Hause Hochdeutsch gesprochen, eine Sprache, die Bertold nur von der Kirche und der Schule her kannte, wo sich der Lehrer des Hochdeutschen bediente, während die Schüler zwischen Hochdeutsch und dem heimischen Dialekt einen Mittelweg suchten.

Zu seiner Überraschung stellte Bertold fest, dass er in dieser Klosterschule keineswegs zum Missionar ausgebildet wurde und dass auch seine Mutter falsche Vorstellungen gehabt hatte, als sie ihn aufgefordert hatte, schon einmal Credo und Paternoster auswendig zu lernen. Schulisches Ziel der Anstalt war es, die Schüler in sechs Jahren zum Abitur zu führen. Auf diese Art kam Bertold zu einer Ausbildung, die im Dorf für ihn nie in Frage gekommen wäre. Von seinen Freunden war niemand auf eine höhere Schule gegangen. Es wäre als Arroganz und Klassenverrat betrachtet worden, wenn es einer getan hätte. Außerdem kostete die höhere Schule Geld, das seine Eltern nicht hatten. Nur ein paar Kinder aus dem Oberdorf besuchten die Mittelschule in der Kreisstadt. Es waren keineswegs die besten Schüler, aber es waren die Kinder der reicheren Weinhändler, des Lehrers und des Bürgermeisters. Da das Abitur aber die Voraussetzung für die Priesterweihe war, sah sich Bertold zum Klassenverrat berechtigt. Der spielte auch keine so große Rolle mehr, da Bertold weit vom Dorf entfernt war. Er freute sich aber darüber, so die Gelegenheit zu haben, viele Bücher lesen und Dinge lernen zu können, von denen die Dorfbewohner keine Ahnung hatten. Das Glück war seiner jüngsten Schwester Jahre später nicht beschieden, obwohl sie sehr lerneifrig und vermutlich die beste Schülerin war, die jemals die Dorfschule besucht hatte. Sie durfte trotz des heftig geäußerten Wunsches die Mittelschule nicht besuchen, obwohl der Lehrer und der Pfarrer bei den Eltern vorstellig wurden und den Besuch der Mittelschule und gar des Gymnasiums empfahlen. „Dat is nix für unser Leut“, war die Antwort der Mutter, die sich keine Vorstellung davon machen konnte, was ein Mädchen denn mit einer solchen Ausbildung machen sollte. Es würde doch früher oder später heiraten und bis dahin solle es eine ordentliche Lehre machen und etwas Geld für die Aussteuer verdienen.

Bei aller Freude über den Lernstoff, der ihm bevorstand, war Bertold doch beleidigt, als die erste Lektüre angekündigt wurde. Es war das Märchen „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ von Clemens Brentano, ein romantisches Märchen mit putzigen Charakteren und einem Ring, der alle Wünsche erfüllte. Nachträglich betrachtete Bertold diese Lektüreauswahl als totalen Fehlgriff des Lehrers, der nicht wusste, was er seinen Schülern vorsetzte. Bertold konnte in diesem Märchen, dessen Sinn sich ihm verschloss, nur unrealistischen Kinderkram sehen. Da war er froh, dass es noch andere Fächer gab, in denen man wirklich etwas lernen konnte: Mathematik, Latein, Geographie und so weiter. Wie schon in der Volksschule fiel ihm das Lernen leicht. Bald zeigte sich, dass seine so viel älteren und lebenserfahreneren Klassenkameraden im Gegensatz zu ihm Schwierigkeiten hatten, sich die lateinischen, griechischen und englischen Vokabeln zu merken, die Grammatik korrekt anzuwenden und die Matheaufgaben zu lösen. Das verhalf ihm zu einigem Ansehen in der Klasse und bei den Lehrern, die ihm immer öfter Mitschüler zur Nachhilfe in Mathematik und Latein zuwiesen.

Allein im Fach Deutsch hatte er Probleme. Sein erster Aufsatz wurde wegen mehrerer Grammatik- und Wortfehler mit fünf bewertet. Er hatte Substantiven den falschen Artikel gegeben und Wörter verwendet, die nicht im Duden zu finden waren, sondern einer Verhochdeutschung von Dialektwörtern ihre Herkunft verdankten. Das Fach Deutsch blieb bis zum Abitur sein Problemfach, obwohl er inzwischen korrektes Deutsch schrieb. Über eine Drei kam er nicht hinaus. Bei den Besinnungsaufsätzen in der Oberstufe, die damals üblich waren, zeigte sich gelegentlich, dass er keinerlei Welterfahrung hatte. Er erinnerte sich, wie er einmal einen Aufsatz, der ihm seiner Meinung nach sehr geglückt war, mit der Bemerkung „Reiner Utilitarismus. Fünf“ zurückerhalten hatte. Dabei war er auf die logische Stringenz seiner Argumentation stolz gewesen. Danach machte er nie mehr den Fehler, bei einer Problemerörterung einseitig zu argumentieren. Die Themen waren immer so gemeint, dass man beide Seiten zu ihrem Recht kommen lassen sollte, um dann im Urteil einen faulen Kompromiss vorzuschlagen. Dieses Einerseits-Andererseits galt als Nachweis der Reife. Das Problem lag aber weniger bei der Anwendung dieser Vorgehensweise, sondern darin, dass Bertold einfach für manche Positionen schlichtweg kein Verständnis hatte.

Dabei hatte er spätestens in der Oberstufe ein starkes Interesse für Literatur entwickelt. Hier erfuhr er Dinge, denen er in seinem Leben noch nie begegnet war: Liebe, Mord, Begeisterung für das Vaterland, gemeinen Verrat und Rache. Er las fast alle belletristischen Bücher, die die kleine Schulbibliothek zu bieten hatte. Er nutzte dazu die Stunde des freien Lernens in der Klasse ab 17 Uhr, begann aber bald auch schon mit der Lektüre in den früheren Lernperioden, die für das Erledigen der Hausaufgaben vorgesehen waren, sobald er diese beendet hatte. Da ihm diese Stunden für die Lektüre nicht reichten, nutzte er auch die Freistunden, die eigentlich in der Gemeinschaft zu verbringen waren, um sich in der Toilette einzuschließen und dort weiterzulesen.

So las er fast sämtliche Dramen von Grillparzer heimlich auf der Toilette, so sehr er auch sonst gerne mit seinen Mitschülern spazieren ging, redete, Schach oder Fußball spielte.

Mit Grausen erinnerte sich Bertold an einen absolut faulen und unfähigen Deutschlehrer, der mit seinem geisttötenden Unterricht fast die aufkommende Freude an der Literatur erstickt hätte. Dieser Lehrer war so unglaublich faul, dass man die ersten vier Wochen, nachdem eine Arbeit geschrieben worden war, nichts darüber hörte. Dann erschien der Meister jede Woche mit zwei oder drei korrigierten und benoteten Heften, die er stolz zurückgab. Es kam des Öfteren vor, dass eine neue Arbeit geschrieben werden musste, bevor die alten Arbeiten korrigiert waren.

Außerdem kam dieser Lehrer nicht nur regelmäßig zehn Minuten bis eine Viertelstunde zu spät, sondern hatte auch dann noch nichts zu bieten. Wenn er endlich erschien, blätterte er zuerst im Klassenbuch und fragte dann, ohne aufzusehen, was denn in der letzten Stunde behandelt worden wäre. Da die Frage an niemanden gerichtet war, verhallte sie im Raum, musste dann also noch einmal wiederholt werden, woraufhin es immer noch keine Antwort gab. Im dritten Anlauf wurde dann ein Schüler aufgefordert, die Antwort zu geben, was dieser dann mit einer Themenangabe erledigte. Die nachfolgende Frage nach den Erkenntnissen der Stunde führte zu weiterem peinlichen Schweigen, dem das Gestotter eines nun aufgeforderten Schülers folgte, dem eigentlich nur zu entnehmen war, dass man zu keinen bemerkenswerten Ergebnissen gekommen war. Solche sollten aber nach Ansicht des Lehrers doch erworben worden sein, weshalb er denn auch nach weiteren Erkenntnissen fragte, was a priori schon unlogisch war, weil die zuerst gegebene Antwort schon keine Ergebnisse zutage gefördert hatte. Zwar fand der Lehrer alle Antworten, so schwachsinnig und nichtssagend sie auch waren, im Prinzip richtig, sah sich aber doch genötigt, zu präzisieren, um das Wenige, das erarbeitet worden war, wie einen Erkenntnisfortschritt erscheinen zu lassen. Nach der Wiederholung wurde auf derselben Stelle weitergetrampelt, dass es einem das Gähnen ins Gesicht zerrte. Bertold erinnerte sich noch konkret an die Interpretation des Gedichts „Der Spinnerin Nachtlied“ von Clemens Brentano, in dem eine am Spinnrad sitzende Frau in der Nacht den Weggang ihres Geliebten beklagt. Statt die Struktur dieses zauberhaft einfachen Klageliedes, das nur zwei Reime hatte und lediglich aus der Variation weniger Wörter bestand, zu analysieren, wurde eine halbe Stunde lang über die Bedeutung der Zeile „Leise sang die Nachtigall“ gesprochen. Die letztendlich erzielte Erkenntnis war, dass die Nachtigall leise sang.

Bertold erinnerte sich, dass ein Klassenkamerad nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt in die Schule zurückkam und fragte, was man denn nun im Deutschunterricht mache. Er erhielt zur Antwort, man bespreche gerade den Charakter des Richters Azdak aus dem „Kaukasischen Kreidekreis“, was ihn sehr beruhigte. Denn als er ins Krankenhaus gegangen war, war man auch schon dabei gewesen. Die Schüler spotteten zwar untereinander über diesen unfähigen Deutschlehrer, leisteten aber nur passiven Widerstand in Form mangelnder Beteiligung. Schließlich waren sie Klosterschüler und entsprechend geduldig. Immerhin erkannte die Schulleitung, dass dieser Lehrer auch die geduldigsten Schüler überfordern würde, und überließen ihn der bösen Welt und seinem Schicksal. Überhaupt war Bertolds Schule ein Refugium für Lehrkräfte, die an staatlichen Schulen wegen der Aufmüpfigkeit ihrer Schüler gescheitert waren. Zum Glück bekam Bertold im letzten Jahr einen Deutschlehrer, der ihm die Schönheit von Literatur nahe bringen konnte.

Bertold erzählte, dass er während der Internatszeit, besonders in den ersten Jahren fürchterlich unter Heimweh gelitten hätte. Ja, er habe sich damals überhaupt kein schlimmeres Leiden vorstellen können als sein Heimweh. Dabei ging es ihm eigentlich gut. Er hatte keine Schwierigkeiten mit dem Lernen, er lernte sogar gern, er hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Klassenkameraden, er hatte keine Feinde und beim Fußball wurde er immer als einer der Ersten gewählt und nicht wie die Letzten einfach zugeteilt. Trotzdem zählte er die Tage bis zu den drei Ferien, in denen er nach Hause fahren konnte. Immer stellte er sich vor, was er zu Hause seinen Eltern erzählen wollte. Wenn er dann aber zu Hause war, hatte er nie viel zu erzählen. Lieber hörte er zu, wenn ihm erzählt wurde, was im Dorf geschehen war. Er half die ganzen Ferien auf den Feldern oder arbeitete bei seinem Schwager in dessen Werkstatt mit. Trotzdem fühlte er sich zu Hause unendlich wohl. Eine Erklärung für sein Heimweh hatte er weder damals noch später, als er sich darüber wunderte, dass er früher so unter Heimweh gelitten hatte.

Spaziergänge in die nahe Stadt waren in der Klosterschule nicht erlaubt, es sei denn man hatte einen Arzttermin oder Ähnliches. In einem solchen Fall musste man den Präfekten informieren und Erlaubnis einholen. „Zuerst bewahren, dann bewähren“ hieß das Motto, mit dem diese Einschränkung gerechtfertigt wurde. Man wollte die jungen Menschen vor den Versuchungen der Stadt bewahren, solange sie noch nicht moralisch gefestigt waren. Trotzdem juckte es einige, auch ohne Erlaubnis in die Stadt zu gehen. Bertold machte da nie mit, wie er überhaupt die Sache ernster nahm als manche seiner Klassenkameraden. Er verstand nicht, wieso jemand ins Kloster ging, wenn er sich doch nicht den dortigen Regeln unterwerfen wollte.

Erlaubt waren Spaziergänge in die der Stadt entgegen gesetzte Richtung, zu den nächsten zwei Dörfern, an deren Rand man aber umzukehren hatte. Auf diesen Wanderwegen sah man allenfalls mal einen Bauern auf dem Feld, ansonsten nur Bäume, Wiesen und Äcker, an klaren Winterabenden aber auch einen wunderbaren Sternenhimmel, unter dem man einherspazieren konnte. Auf diesen Spaziergängen entwickelten sich Freundschaften, weil man sich mit manchen Kameraden besonders gut unterhalten konnte. Man durfte aber nicht immer mit denselben Freunden gehen. Abschottungen einzelner zerstörten die Gemeinschaft, hieß es zur Begründung. Natürlich ging es vor allem darum, die Entstehung von homosexuellen Beziehungen zu verhindern, weshalb denn auch in der Klosterordnung der Satz „Noli me tangere“ (Fass mich nicht an) gleich an zweiter oder dritter Stelle stand. Dass dieser Satz weniger als Verbot von Raufereien zu verstehen war, war aus der dort angegebenen Übersetzung „Du sollst mich nicht berühren“ zu entnehmen.

Das Essen in der Klosterschule hätte einem Gourmet wenig Freude gemacht. Es gab zwei Sorten von Suppen und zwei Sorten von Soßen, eine gelbe und eine rote. Ansonsten gab es vor allem Kartoffeln, Gemüse und manchmal etwas verkochtes Fleisch, auch gerne Königsberger Klopse. Gab es mal Fleisch, war es meist so zäh, dass man es kaum schneiden konnte, weshalb denn auch vermutet wurde, ein Bauer aus der Umgebung habe wohl wieder ein altes Schlachtross gespendet, um trotz seines lasterhaften Lebens in den Himmel zu kommen. Gleichwohl wurde natürlich alles verspeist, was auf den Tisch kam, weil Jugendliche einfach Kalorien brauchen. Zucker gab es nur vierzehnmal im Jahr. Es waren die großen kirchlichen Festtage und die Tage besonderer Heiliger, der sogenannten Zuckerheiligen. Die Zuckerdose ging immer leer zurück. Wenn alle zunächst einmal manierlich zugegriffen hatten, wurde der Rest in die Tasse gekippt, mit etwas Kaffee betröpfelt und dann ausgelöffelt.

Es lief das Gerücht um, in das Essen werde massenhaft Natron geworfen, um die jungen Menschen etwas zu beruhigen, damit sie nachts auch ruhig mit den Händen auf der Decke schlafen könnten.

Offenbar half dieses Natron, wenn es denn wirklich ins Essen geworfen wurde, nicht viel. Auch das intensive Fußballspielen verhinderte nicht, dass sich Gedanken in Bertolds Kopf schlichen, die da nichts zu suchen hatten. So sehr man die Schüler abschottete und so wenig attraktiv die beiden alten Frauen waren, die in der Küche arbeiteten und die Flure bohnerten, Bertold bekam doch gelegentlich ein Mädchen zu sehen, wenn er in die Stadt ging oder in den Ferien zu Hause war. Besonders angetan war er von der Schwester eines Mitschülers, die zusammen mit ihren Eltern zum Besuch vorbeikam. Es war ein recht schüchternes, dunkelhaariges Mädchen, das gelegentlich in glockenhelles Lachen ausbrach, wenn ihr Bruder eine Anekdote erzählte. Bertold beobachtete sie von der Seite, als sie mit ihrer Familie auf einer Bank im Park saß und dann federleicht aufstand, vorwärts und rückwärts springend ihren Bruder beim Spaziergang begleitete und ihm belustigt Fragen stellte. Bertold hätte zwar nicht gewusst, was er mit ihr anfangen sollte, er hätte sie aber gerne weiter angesehen, ihr auch gerne etwas erzählt, worüber sie gelacht hätte, er hätte sie auch gerne an der Hand genommen und ihr Gesicht gestreichelt, die Augenbrauen, die Nase, ihre Lippen. Seine Hose spannte und er wandte sich ab. Von da ab, er war inzwischen sechzehn, spannte seine Hose nicht mehr nur gelegentlich. Er hatte dauernd einen Ständer, wagte es aber nicht, sein Glied außer zum Wasserlassen anzufassen. Er sah sich aber gezwungen, Techniken zu entwickeln, wie er den sperrigen Penis durch einen Griff in die Hosentasche so platzieren konnte, dass man nichts sah.

Diese Technik war ihm auch von Nutzen, wenn er seine Zahnärztin besuchte, eine Frau in mittleren Jahren, deren Schild mit Angabe der Sprechzeiten er bei einem Gang in die Stadt gesehen hatte. Bertold war bis dahin noch nie bei einem Zahnarzt gewesen. Seine Milchzähne waren ihm entweder ausgefallen oder er hatte sie nach Hausmannsart mit einem Bindfaden, der um den Zahn gewickelt wurde, herausgerissen. Der Trick bestand darin, den Bindfaden an einer Türklinke festzumachen und dann die Tür so laut zuzuknallen, dass deren Lärm den Schmerzensschrei übertönte. Die Behandlung bei Frau M. war ein Zwischending zwischen Sadismus und Anmache. Schon bei der zweiten Sitzung nahm sie die Nackenstütze vom Behandlungsstuhl ab und klemmte Bertolds Kopf zwischen ihre Brüste. Er zucke dauernd, sodass sie ihn gar nicht ordentlich behandeln könne, erklärte sie. So habe sie jetzt seinen Kopf fest in der Hand, wenn sie gegen seine Stirn drücke. Bertold fragte sich, was wohl die Zahnärzte machten, die nicht über solche Seitenpolster verfügten. Frau M. bohrte mit Vergnügen. Dabei stellte sie Bertold Fragen, hauptsächlich aus dem Gebiet der Geographie, die Bertold mit dem rotierenden Bohrer im Mund nur schlecht beantworten konnte. Sein Genuschel wurde von Frau M. nicht als überzeugende Antwort gewertet. Die Jugendlichen lernten heutzutage wohl überhaupt nichts mehr, lästerte sie, und außerdem neigten sie zu undeutlicher Aussprache. Oft rannte sie auch während der Behandlung ans Fenster, wenn sie jemanden vorübergehen sah, wobei sie den Bohrer in Bertolds Mund ließ. Zum Glück rotierte er dann aber nicht weiter. Wenn Frau M. vom Fenster zurückkam, erklärte sie Bertold, wer da vorbeigegangen war, dass die Menschheit sehr schlecht sei und dass besonders die Person, die gerade verschwunden war, diese und jene Schandtat begangen habe und beispielsweise ihren Mann jämmerlich betrüge. Bertold wusste die Weichheit ihres Busens zu schätzen. Sie entschädigte ein wenig für die Schmerzen der Behandlung und die Klagen über die Unwissenheit der Jugend. Zu Weihnachten schenkte Frau M. Bertold ein Paar bunte Socken. Seine Socken seien ja trostlos.

Als Bertold neunzehn war, es war kurz vor dem Abitur, sah er Karin. Es war Ostersonntag und Bertold war in den Ferien zu Hause. Er wartete nach dem Hochamt vor der Kirche auf seine Schwestern, da kam sie durch die Pforte. Sie trug ein gelbes Sommerkleid, das ihren prächtigen Busen ahnen ließ. Stolz aufgerichtet schritt sie heraus neben ihrem Vater und ihrer Schwester. Unter kurzem, braunem Haar leuchteten ihre Augen in einem runden, ebenmäßigen Gesicht. Bertold wusste, wer sie war. Sie war drei Jahrgänge unter ihm in die Schule gegangen. Er kannte sie aber kaum, weil sie im Oberdorf wohnte und schon deshalb nicht zu seinen Spielkameraden gehört hatte. Außerdem hatte sich natürlich während einer Schulzeit kein Junge je um ein drei Jahre jüngeres Mädchen gekümmert. Jetzt war das anders.

Zu Hause erkundigte sich Bertold möglichst beiläufig nach ihr. Er erfuhr, dass sie die Mittelschule besucht habe und jetzt eine Ausbildung zur Kindergärtnerin mache. Sein Vater meinte, es sei eine Schande, was das Mädchen mit ihren Haaren gemacht habe. Sie sei ein so schönes Mädchen und sehe aus wie eine, die es mit einem Juden gehabt habe. Bertolds Mutter wollte daran nicht erinnert werden, seine Schwestern aber meinten, ein Bubikopf sehe doch sehr chic aus, und besonders bei ihr. Weitere Fragen wagte Bertold nicht zu stellen.

Zurück im Internat begann Bertold seinen Berufswunsch in Frage zu stellen. Zwar konnte er sich immer noch gut vorstellen, als Missionar in einem der Missionsgebiete seines Ordens – sie lagen nicht in Afrika, sondern überwiegend in Asien – tätig zu sein. Noch lebhafter allerdings war der Wunsch, Karin kennen zu lernen und mit ihr zusammen zu sein. Unerfahren wie er war, unterschied er dabei kaum zwischen Traum und Wirklichkeit. Wenn er sich entschlösse, das Kloster zu verlassen, würde er mit Karin zusammenleben. Das waren für ihn die Alternativen. Was gegen das Verlassen des Klosters sprach, war sein Vorsatz, mit dem er ins Kloster gegangen war, nämlich sich um sein und anderer Seelenheil zu kümmern. Er wäre sich auch schwach vorgekommen, wenn er nicht zum Verzicht fähig gewesen wäre. Auch fürchtete er, seine Mitschüler und seine Lehrer zu enttäuschen, die ihn für einen unzuverlässigen Menschen halten würden. Vor allem aber wollte er seine Mutter nicht enttäuschen, die ihm bei seinem Entschluss, Missionar zu werden, gesagt hatte, er solle sich das gut überlegen. Wenn er sich dafür entscheide, müsse er auch dabei bleiben.

Die Rettung kam ausgerechnet von seinem Präfekten. Vielleicht hatte der Mann ein paar Priester kennen gelernt, die unter dem Zölibat litten, zu dem sie sich mit einem ewigen Gelübde verpflichtet hatten, vielleicht litt er auch selbst darunter. Dieser Präfekt hatte sich jedenfalls angesichts der Beendigung eines Lebensabschnitts seiner Schüler in einem seiner wöchentlichen Vorträge die Berufung zum Zölibat zum Thema gemacht. Er erklärte, kurz vor dem Abitur sei es notwendig, sich den weiteren Lebensweg genau zu überlegen, Nicht jeder, der sich zum Priestertum berufen fühle, sei auch wirklich berufen; denn mit dem Priestertum sei das Zölibat verbunden, und das könne für manchen eine Überforderung sein, die ihn lebenslang zu einem unglücklichen Menschen mache. Und das könne nicht Gottes Wille sein. Dann erzählte er von einem Schüler, der ihn um Rat gefragt habe, weil er in den Sommerferien eine sommerlich gekleidete Frau gesehen habe, wie sie sich über einen Kinderwagen gebeugt habe. Dabei seien die Brüste der Frau teilweise sichtbar gewesen. Diesen Anblick konnte der arme Junge einfach nicht mehr vergessen. Der verfolgte ihn geradezu. Diesem Schüler habe er, der Präfekt, geraten, sich nicht für das Zölibat zu entscheiden. Gott habe offenbar für ihn vorgesehen, dass er mit einer Frau zusammenleben solle.

Bertold hatte diese Frau im Sommerkleid nicht gesehen. Die Vorstellung allein reichte aber, um ihn dieses Bild nicht vergessen zu lassen. Wenn nun aber schon der andere, der die Frau tatsächlich gesehen hatte, nicht für den Priesterberuf geeignet war, dann war es Bertold um so weniger. Bertold konnte also sozusagen mit priesterlichem Segen, jedenfalls mit den von seinem Präfekten vorgetragenen priesterlichen Argumenten, nach dem Abitur vom Klosterleben Abschied nehmen, was er denn auch tat. Karin wartete auf ihn.

Der Nihilist

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