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ОглавлениеBertold war in einem sehr kleinen und sehr katholischen Dorf im Rheinland aufgewachsen. An seine Kindheit konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern. Sie fiel in die Nachkriegszeit und war von Armut bestimmt. Hauptziel seiner Eltern war, die Familie satt zu bekommen. Er hatte vier Schwestern, zwei ältere und zwei jüngere. Sein Vater hatte die beiden älteren Schwestern mit in die Ehe gebracht. Deren Mutter war bei der Geburt ihres dritten Kindes zusammen mit diesem gestorben. Als Bertold zehn war, bekam er noch einen kleinen Bruder, der allerdings nur ein halbes Jahr lebte. Woran er gestorben war, wusste Bertold nicht. Er erinnerte sich aber genau an die zwiespältigen Gefühle, die er bei der Beerdigung hatte: Einerseits war es traurig, als der kleine weiße Sarg mit seinem Bruder aus dem Haus getragen wurde, andererseits war Bertold auch erleichtert, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte. Denn der Kleine hatte seiner Mutter nicht nur viel Arbeit und Sorgen gemacht, er hatte auch dauernd geschrien. Das Schlimmste aber war, dass seine Mutter ihn Kunibert genannt hatte. So hieß doch keiner im Dorf, außer einem der Dorfdeppen, der zwar offensichtlich fromm war, weil er jeden Sonntag mit schief gelegtem Kopf durch die Kirche zur Kommunion eilte, ansonsten aber ein Depp war. Damit war der Name eine Schande für die Familie, jedenfalls für Bertold, dessen Freunde ihn wegen des Namens seines Bruders aufzogen. Außerdem wohnten im Haus noch seine Oma, die Mutter seiner Mutter, die unter Rheuma litt und, solange er denken konnte, immer in ihrem Zimmer in einem Sessel gesessen hatte, und eine Schwester seiner Oma, Tante Berta, die seit einem Unfall geistesgestört war und alljährlich mindestens einen Selbstmordversuch unternahm, für den sie sich nachher entschuldigte.
Wenn Bertold fünfzig Jahre später an seine Kindheit zurückdachte, kam es ihm vor, als sei er im Mittelalter aufgewachsen. Wenn er einen Film sah, der in alter Zeit auf dem Land spielte, stellte er fest, dass alles fast genau so aussah wie in seiner Kindheit. Die Atmosphäre und die Lebensumstände seiner Kindheit unterschieden sich kaum von den Verhältnissen fünfzig oder fünfhundert Jahre vorher, waren mit den Verhältnissen fünfzig Jahre später aber kaum zu vergleichen. Zwar gab es in seiner Kindheit elektrisches Licht, es gab einige Traktoren und zwei Autos im Dorf, der Rest aber war mittelalterlich. Die Dorfstraßen waren nicht asphaltiert, einige hatten Kopfsteinpflaster, die übrigen waren Schotterstraßen. Die alten Fachwerkhäuser waren so krumm, wie sie vor Jahrhunderten gebaut worden waren. Nur die Kirche und ein paar Häuser oberhalb des Dorfes waren neueren Datums und aus massivem Stein. Vor nahezu jedem Haus war ein Misthaufen mit einer Jauchegrube daneben. Die Jauche wurde im Herbst auf die Felder gebracht. Wenn die Grube vorher voll war, wurde die Jauche auf die Straße gekippt. Sie lief dann durch das Dorf hinunter zum Fluss. Wer keinen Streit mit den Nachbarn haben wollte, leerte die Grube bei Regen. Wenn jemand aber diese Gelegenheit verpasst hatte oder wenn es lange Zeit nicht geregnet hatte, lief die Jauche auch an sonnigen Tagen durch die Straßen und verbreitete, passend zur mittelalterlichen Architektur, mittelalterliches Aroma. Filme, die im Dreißigjährigen Krieg spielten, hätte man ohne künstliche Kulissen im Dorf drehen können.
Und jährlich kam der Fluss, meist im späten Winter zur Zeit der Schneeschmelze, aber auch schon mal im Herbst, wenn es stark regnete, und auch schon mal im Winter, wenn es starken Frost gegeben hatte und der Fluss zugefroren war und sich danach bei Tauwetter die Eisschollen an den Flussengen verkeilten und das Wasser aufstauten. Dann blieb kaum Zeit, Hab und Gut zu retten; sonst ging es ganz langsam, aber unaufhörlich. Das Wasser stieg zehn oder zwanzig Zentimeter die Stunde, aber das tat es ein, zwei oder drei Tage lang. Die Kinder standen in ihren grünen Stiefeln in den Dorfstraßen, markierten den jeweiligen Wasserstand mit Steinen und holten sie wieder aus dem Wasser, um den neuen Wasserstand zu markieren. Die Erwachsenen standen dahinter, schüttelten die Köpfe, erzählten von früheren Überschwemmungen und stellten ihre Mutmaßungen darüber an, wie weit das Wasser diesmal steigen würde. Man war es gewohnt, man nahm es ebenso gefasst wie hilflos. Man schützte, was zu schützen war. In den Kellern wurden die Weinfässer gegen die Kellerdecke abgestützt, damit sie nicht im Keller herumtreiben konnten. Die Lebensmittel, die im Keller gelagert waren, vor allem die Kartoffeln, wurden nach oben oder zu höher wohnenden Verwandten gebracht, ebenso alles, was so herumstand.
Die Keller liefen schon voll, bevor das Wasser die Häuser erreicht hatte. Es sickerte durch die mit Bruchstein gebauten Kellerwände. Es hatte seinen eigenen unterirdischen Weg. Man wusste, wie dieser Weg verlief. Wenn es Bauer A im Keller hatte, wusste Bauer B, dass ihm noch drei oder fünf Stunden blieben, bis das Wasser bei ihm war, und Bauer C konnte auch schon mit dem Aufräumen beginnen.
Aber das Wasser stieg weiter. Es erreichte die ersten Häuser des Dorfes. Sich dagegen mit Sandsäcken zu schützen, war sinnlos, denn das Wasser kam ja von unten aus dem bereits überfluteten Keller. Also zog man um in den ersten Stock, wo dann das Mobiliar zwischen den Betten herumstand. Wenn der Fluss besonders gnadenlos war, reichte das nicht, denn er erreichte in den tiefer gelegenen Häusern auch den ersten Stock. Dann mussten die Betroffenen mit Booten aus ihren Häusern gerettet werden.
Bertolds Elternhaus war das fünfte vom Fluss aus gesehen. Nur alle paar Jahre leckte der Fluss an der Haustür. Der Keller lief aber so gut wie immer voll, oft mehrmals im Jahr. Ein paarmal aber kam der Fluss auch ins Haus. Dann musste auch seine Familie nach oben ziehen. Bertold erinnerte sich, wie er auf der Treppe zum ersten Stock saß und im Wohnzimmer angelte. Es biss aber keiner an. Die Haustür war verschlossen.
Nach der Flut waren die unteren Räume lange Zeit nicht bewohnbar. Als erster Raum wurde die Küche wieder benutzt. Dort brannte dann ständig Feuer im Herd. Wenn das Wetter gut war, wurden alle Fenster und Türen geöffnet, um die Feuchtigkeit aus dem dicken Bruchsteinmauerwerk der Erdgeschossräume herauszubekommen. Neu tapeziert wurde nicht vor Mai, weil die Tapeten vorher von den feuchten Wänden heruntergefallen wären.
Trotzdem wünschte sich Bertold oft, dass die Flut noch höher steigen möge, ebenso wie er sich bei Schneefall wünschte, es möge nicht aufhören zu schneien. Er bewunderte die ungeheure Kraft und Willkür der Natur und war immer etwas enttäuscht, wenn Flut oder Schneefall nachließen.
In den Häusern wurde im Winter nur ein Zimmer beheizt, die „klaa Stuff“, die kleine Stube, zunächst mit einem Holz-, später einem Ölofen. Natürlich war auch die Küche meist warm, wenn dort das Feuer im Herd brannte. Die anderen Zimmer blieben kalt, sowohl die Schlafzimmer, auf deren Scheiben sich morgens, an sehr kalten Tag auch mittags, Eisblumen bildeten, als auch die „good Stuff“, die gute Stube, die nur an Weihnachten und Ostern und, wenn Besuch kam, was fast nur an Weihnachten und Ostern der Fall war, beheizt wurde.
Alle Leute im Dorf waren gleich gekleidet: Die Männer trugen werktags immer einen Blaumann und einen Hut oder eine Mütze, die Frauen lange Röcke und eine Kittelschürze, die Jungen kurze Lederhosen, im Winter darunter Wollstrümpfe, die Mädchen glockige Kleider, die von den älteren an die jüngeren Schwestern weitergegeben wurden. Am Sonntag wurde die Sonntagskleidung angelegt. Die Mädchen trugen bunte Kleider, die kleinen Jungen kurze Stoffhosen, nach der Erstkomunion den Komunionsanzug, der vom örtlichen Schneider immer so großzügig geschnitten wurde, dass er nach Möglichkeit zwei Jahre getragen werden konnte, die Frauen trugen dunkle Kleider, die Männer ihren Hochzeitsanzug, der vielen dreißig Jahre und mehr diente.
Geld gab es kaum. Alle Familien waren weitgehend autark. Die Bauern hatten Kühe für die Feldarbeit, die Milch und die Butter, Schweine für das Fleisch und die Wurst, Hühner für die Eier. In den kleinen Gärten wurde Gemüse angebaut, Obst kam von den Kirsch-, Pflaumen-, Apfel- und Birnbäumen, Getreide von den Feldern, das in der Mühle gegen einen Sack Getreide gemahlen wurde, Dünger lieferte der Misthaufen. Die Betten wurden mit Stroh gestopft. Das Brot backten die Dorfbewohner selbst im Gemeindebackhaus mit ihrem eigenen Mehl. Geld brauchte man nur für Kleidung, Schuhe, Salz, Zucker, Pfeffer und Hefe, Handwerkerrechnungen, Jungschweine und Kunstdünger. Geld kam ab und zu ins Haus, wenn Wein oder ein Stück Vieh verkauft wurde.
Bücher gab es nicht in Bertolds Familie, auch kein Radio und natürlich auch kein Fernsehen, will sagen: Es gab keine mediale Unterhaltung außer dem Bistumsblatt; die Tageszeitung wurde als zu teuer betrachtet. Alles, was man wissen musste, erfuhren die Männer auf der Gemeindeversammlung am Sonntag nach dem Hochamt, die Frauen beim Tratsch mit den Nachbarinnen. Natürlich gab es die Gebetbücher, die Schulbücher, die Heiligenlegende der Oma, aus der ihr jeden Tag die Geschichte des Tagesheiligen vorgelesen wurde, und das Gesundheitsbuch, das Bertold eines Tages tief versteckt im Wäscheschrank fand, als er nach Weihnachtsgebäck suchte. Warum dieses Buch versteckt wurde, war ihm bald klar, als er darin herumblätterte und Beschreibungen und Bilder des Geburtsvorgangs entdeckte. Ein Radio gab es 1954 zur Fußballweltmeisterschaft, ein Jahr bevor Bertold ins Internat ging, den Fernseher erst Anfang der 70er, als seine Eltern schon lange allein wohnten. Als Erwachsener konnte Bertold sich nicht mehr daran erinnern, wie er denn ohne alle Unterhaltungsmedien seine lange Kindheit verbracht hatte. Natürlich gab es morgens die Schule, nachmittags die Arbeit in den Weinbergen und auf den Feldern; aber was er abends getan hatte, besonders an den langen Winterabenden, wusste er nicht. In einigen Erinnerungsfetzen sah er sich zusammen mit dem Rest der Familie beim Splitten der Weidenruten beschäftigt. Diese Weidenruten wurden im Winter aufgespalten, je nach Dicke in zwei oder drei Teile, damit sie im Februar für das Aufbinden der Weinstöcke verwendet werden konnten. Oder er sah sich am Tisch in der kleinen Stube sitzen und Hausaufgaben machen, oder mit seinen Schwestern Mikado spielen oder „Ich seh´etwas, was du nicht siehst“. Nach dem Abendessen brauchte seine Mutter den Tisch zum Bügeln. Da wurde eine Wolldecke auf den Tisch gelegt und darauf dann die Wäsche geplättet. Bei der Bettwäsche durften er und seine Schwestern mithelfen. Die Mutter packte das Betttuch an zwei Spitzen, eines der Kinder an den beiden anderen. Dann wurde gezogen, gezerrt und geschüttelt, wobei sich die kleine Stube als so klein erwies, dass man das Betttuch nur spannen konnte, wenn man die Arme bis an den Körper zog oder einer halb ins nächste Zimmer ging.
Manchmal schauten auch ein Nachbar oder eine Nachbarin vorbei. Dann wurden die Dorfneuigkeiten mitgeteilt und kommentiert, wobei die Kinder nur dann das Wort ergreifen durften, wenn sie wirklich etwas mitzuteilen hatten. In seiner Erinnerung war seine Mutter immer tätig gewesen. Wenn die Wäsche gebügelt war, setzte sie sich zwar hin; aber sie stopfte dann Socken oder strickte Strümpfe oder Pullover. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals untätig sitzend gesehen zu haben außer am Sonntagnachmittag. In seiner Kindheit hielt er das für die natürlichste Sache der Welt.
Nachträglich wunderte sich Bertold, wie selbstverständlich sich seine Mutter die Fron ständiger Arbeit auferlegt hatte: Sie stand frühmorgens auf, machte das Feuer an, molk die Kühe, ging dann in die Kirche, machte das Frühstück, ging aufs Feld oder in den Weinberg, kam um elf nach Hause, kochte das Essen, ging wieder aufs Feld oder in den Garten, molk die Kühe, bereitete das Abendessen zu und machte dann ihre Bügel- und Strickarbeiten.
Im Sommer war es anders als an den kalten Wintertagen. Da lebte man draußen bis in den späten Abend. Die Eltern standen vor dem Haus und plauschten mit den Dorfbewohnern, die vorbeikamen oder schauten selbst bei Nachbarn vorbei, die ebenso vor ihrem Haus tätig waren. Bertold spielte Fußball. An freien Nachmittagen wurde auf der Wiese unterhalb des Dorfes gespielt, wenn die Zeit knapp war, dienten die Straßen als Spielplatz. Spielbälle waren Konservenbüchsen, mit Stroh ausgestopfte Kuhmägen und Gummibälle, die fast immer beim ersten Kick kaputt gingen. Als Bertold mit zwölf zu Weihnachten einen richtigen Fußball bekam, war er der einzige in der Nachbarschaft, der so etwas besaß. Er freute sich, dadurch im Mittelpunkt zu stehen, nutzte sein Monopol aber auch aus, um andere seine Arbeit machen zu lassen. Bertolds Vater war ein gutmütiger Mensch und ließ mit sich handeln. Wenn wieder einmal langweilige Arbeit anstand, die sich über den ganzen Nachmittag erstrecken sollte, wie Holz sägen oder Unkraut jäten, ließ sich sein Vater auf eine bestimmte Menge festlegen: Wenn dieser oder jener Holzstapel gesägt oder fünf oder sechs Rübenreihen gejätet waren, durfte Bertold Fußball spielen gehen. Wenn andere Jungen dann helfen wollten, um die vereinbarte Arbeit zu erledigen, damit sie endlich mit dem Lederball Fußball spielen konnten, ließ der Vater ihnen die nötigen Arbeitsgeräte zukommen. Gemeinsam erledigten dann die Jungen in einem Tempo, das der Vater nicht für möglich gehalten hatte, die geforderte Arbeit und verschwanden mit Bertold und dem geliebten Ball auf der Fußballwiese.
Nicht nur die Architektur des Dorfes und die Lebensgewohnheiten der Bewohner, auch die religiösen und moralischen Vorstellungen und das Standesdenken waren wie in früheren Jahrhunderten oder in Südeuropa. Alle Dorfbewohner gingen regelmäßig sonntags zur Kirche, viele auch an Werktagen. Alle Eheleute blieben lebenslang zusammen. Sex vor der Ehe war tabu. Wenn das erste Kind kam, wurde fleißig nachgerechnet, ob die Ehefrau vielleicht schon bei der Hochzeit schwanger war. Die Rollenzuteilung für Jungen und Mädchen, Männer und Frauen wurde streng eingehalten. Die Jungen halfen bei der Feldarbeit, die Mädchen in der Küche. Im Weinberg mussten die Jungen umgraben und Unkraut jäten, die Mädchen die Reben schneiden und binden. Die Jungen sprangen im Sommer in Badehose im Fluss herum, die Mädchen durften nur mit den Füßen ins Wasser, angekleidet. Wenn sie kühn waren, hoben sie dabei den Rock bis zu den Knien. Geheiratet wurde nach Besitzstand: Tausend Stock zu tausend Stock. Heiraten zwischen reich und arm, 2000 Stock und 500 Stock, galten als Mesalliance und wurden entsprechend kommentiert. Heiraten zwischen Katholiken und Protestanten, die gelegentlich durch Kontakte mit evangelischen Dörfern und den beginnenden Tourismus vorkamen, galten als Mischehen. Der Pfarrer führte die Trauung nur durch, wenn der evangelische Teil dem katholischen Zeremoniell zustimmte und versprach, die Kinder katholisch taufen zu lassen und zu erziehen.
Auch Bertolds ältere Schwestern hatten unter den strengen Normen zu leiden. Seine älteste Schwester, die in einem nicht weit entfernten Dorf als Haushaltshilfe arbeitete, hatte auf einer Kirmes einen jungen Mann aus der Kölner Gegend kennen gelernt, der stolzer Besitzer einer 125er DKW war. Mit diesem Motorrad kam er oft an den Wochenenden zu Besuch. Er ließ Bertold auch schon mal auf dem Rücksitz mitfahren und zeigte ihm, dass man damit mehr als hundert Sachen machen konnte. Mit Bertolds Schwester auf dem Sozius fuhr er im Sommerurlaub bis nach Italien.
Ganz plötzlich brach der Kontakt ab. Weder seine Schwester noch ihr Freund tauchten wieder auf. Es hieß, seine Schwester lebe nun auch in der Kölner Gegend. Warum sie aber nie mehr zu Besuch kam, wurde nicht mitgeteilt. In Anwesenheit der Kinder wurde nicht darüber geredet. Erst Jahre später erfuhr Bertold von seiner Schwester, was vorgefallen war. Sie war schwanger geworden. Daraufhin hatte sie geheiratet, niemand aus ihrer Familie hatte an der Hochzeit teilgenommen. Als das Kind kam, lebte sie mit ihrer Tochter bei ihrer zänkischen Schwiegermutter, deren Tochter und deren drei Söhnen in einem winzig kleinen Haus. Sie war total verzweifelt und trug sich mit Selbstmordgedanken. In ihrer Not wandte sie sich an einen in Köln lebenden Verwandten, einen Priester. Dieser schrieb Bertolds Mutter einen Brief, in dem er die Lage ihrer Tochter darstellte und sie aufforderte, wieder Kontakt aufzunehmen. Zwar habe die Tochter gesündigt, sie zu verstoßen, sei aber unchristlich. Noch am selben Tag, an dem Bertolds Mutter den Brief erhielt, schrieb sie ihrer Tochter, sie dürfe wieder nach Hause kommen. Schon wenige Tage später traf die Verstoßene, nun mit Mann und Kind, zu Hause ein. Der Skandal wurde mit keinem Wort erwähnt. Das Verhältnis von Mutter und Tochter war von diesem Tag an bis zum Tod der Mutter gleich bleibend herzlich. Es hatte aber der Rechtfertigung durch einen Priester bedurft, dass die Mutter ihren liebevollen Gefühlen für ihre Tochter nachgeben konnte. Sie kümmerte sich auch nicht um das Gerede im Dorf und nahm die Schande auf sich, eine Tochter zu haben, die vor der Ehe schwanger geworden war.
Auch Bertolds zweitälteste Schwester, die in Leverkusen bei Bayer arbeitete, hatte einige Jahre später, wenn auch weniger dramatisch, unter den geltenden rigorosen Normen zu leiden. Sie hatte sich beim Urlaub in Italien in einen jungen Mann aus dem Ruhrgebiet verliebt, bald auch verlobt. Sie stellte ihn auch zu Hause vor. Der junge Mann war sympathisch, allerdings evangelisch. Das war für Bertolds Mutter ein Problem. Ihre Kusine machte ihr klar, dass ihr Seelenheil und das ihrer Tochter gefährdet sei, wenn sie eine Heirat zuließe. Auf keinen Fall dürfe sie einer Hochzeit im Heimatdorf zustimmen. Daraufhin löste Bertolds Schwester auch das Verlöbnis auf, kam aber ein Jahr später mit einem neuen Freund an, der wiederum evangelisch war. Dann sei das wohl Gottes Wille, dass ihre Tochter einen Evangelischen heiraten sollte, erklärte die Mutter ihrer Kusine, die nach wie vor eine Verbindung mit einem Halbheiden für sündhaft hielt, und arrangierte die Hochzeit im Dorf. Sie wollte sich kein zweites Mal unchristliches Verhalten gegenüber einer Tochter vorwerfen müssen.
Bertolds Vater hatte bei den Entscheidungen seiner Frau über seine Töchter, obwohl es doch seine leiblichen Kinder und nur ihre Stiefkinder waren, keinen Einfluss. Er hätte niemals von sich aus seine Älteste verstoßen, nur weil sie vor der Ehe schwanger war, noch ein Problem darin gesehen, dass seine zweite Tochter einen Protestanten heiratete. Ihn interessierte nur, ob der Heiratskandidat genug Geld verdiente, um seine Tochter und die zu erwartenden Kinder zu ernähren.
Die Erziehung der Kinder war in Bertolds Familie ausschließlich die Sache der Mutter, die die Benimmregeln diktierte und vor allem auf die Einhaltung kirchlicher Gebote achtete. Bertolds Mutter ließ sich dabei von niemandem in der Gemeinde übertreffen. Ihre Kinder erschienen immer in der Kirche, wenn der Pfarrer sich die Ehre gab, also jeden Tag vor der Schule zur Messe, am Sonntag um acht Uhr zur Frühmesse, um zehn Uhr zum Hochamt und am Nachmittag um drei zur Andacht. Und wenn es besondere kirchliche Veranstaltungen gab, waren Bertold und seine Geschwister auf Anordnung der Mutter auch dabei, und zwar immer und immer pünktlich. Sie verlangte das aber nicht nur von ihren Kindern, sondern tat es trotz ihrer vielen Arbeit auch selbst mit Ausnahme des sonntäglichen Hochamts. Da blieb sie zu Hause, um das Mittagessen zu kochen.
Bertolds Vater war alles Spekulative fremd; und Religion war spekulativ; er hielt sich an Tatsachen. Niemand hatte den lieben Gott gesehen; deshalb gab es ihn wohl auch nicht. Trotzdem ließ er sich Ende der 70er von Bertolds Mutter zu einer Pilgerreise nach Lourdes überreden, der einzigen weiten Reise, die er in seinem Leben machte außer dem Kriegseinsatz in Weißrussland. Hinterher beklagte er sich über das Essen im Hotel. Fünfmal sei der Kellner gekommen und habe einen neuen Teller mit irgendetwas hingestellt; aber es sei nie eine ordentliche Portion darauf gewesen. Überhaupt sei alles Geldschneiderei gewesen; überall habe man Eintritt zahlen müssen. Als Bertolds Mutter eines Abends in der Kirche war, legte er richtig los und erzählte, was ihn sonst noch aufgeregt hatte. In Anwesenheit der Mutter dürfe er das ja nicht sagen. Sie sei ja eine gute Frau, wenn sie es auch mit der Frömmigkeit übertreibe; aber ansonsten, wie gesagt,...Auf jeden Fall sei ihm auf der Pilgerfahrt einiges klar geworden. Es sei alles darauf ausgerichtet, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. So habe man in Nevers, wo der Pilgerzug Zwischenstation gemacht habe, eine Wachspuppe als echte Leiche vorgeführt. Angeblich sei diese Wachspuppe das Mädchen gewesen, dem in Lourdes die Mutter Gottes erschienen sei. Sie habe in einem Glassarg gelegen, sodass man sie nicht habe anfassen können. Er habe aber sofort erkannt, dass diese Puppe kein wirklicher Mensch gewesen sein konnte. Die Proportionen hätten nicht gestimmt. Der Busen sei kurz unter dem Hals gewesen, viel zu weit oben. Er habe seine Frau darauf hingewiesen. Sie aber habe ihm nicht zugehört und ihn zum Stillschweigen aufgefordert. Daraufhin habe er laut gesagt, er könne das beweisen, und eine Säge gefordert, um die Wachspuppe durchzusägen. Daraufhin sei er beschimpft und von seiner Frau weggezogen worden. Keiner habe ihm beigestanden, auch kein Mann. Er sei eigentlich der einzige Mann in diesem Pilgerzug gewesen. Zwar hätten auch einige andere Hosen getragen, das seien aber eigentlich auch Weiber gewesen.
Und Wunder habe es in Lourdes auch nicht gegeben. Zwar hätten die Weiber in der Prozession stundenlang „Ave´, ave´, ave´, Maria, ave´, ave´, ave´, Maria“ gesungen; es sei aber nichts passiert.
Überhaupt sei das mit der Religion so eine Sache. Ehrlich könne er daran nicht glauben; aber das dürfe er ja nicht sagen bei Bertolds Mutter, die ja sonst eine gute und tüchtige Frau sei.
In die Schule ging Bertold gern. Das Lernen fiel ihm leicht und die Schule befreite ihn von der langweiligen Feldarbeit. Die Schüler wurden in drei Klassen unterrichtet, in denen mehrere Jahrgänge zusammengefasst waren: erste und zweite Klasse, dritte und vierte und fünfte bis achte. In den ersten Jahren gab es auch Schulspeisung. Es waren Spenden der Besatzungsmächte. Hier bekamen die Schüler Köstlichkeiten wie Schokolade und Apfelsinen, die es zu Hause allenfalls an Weihnachten gab.
Bertold konnte sich nur an drei Fächer erinnern, die in der Dorfschule unterrichtet wurden: Rechnen, Rechtschreibung und Schönschreiben. Dazu kam der Pfarrer einmal in der Woche und erteilte Religionsunterricht. Vermutlich gab es auch Unterricht in Geographie. Bertold erinnerte sich, dass immer eine Landkarte am Ständer hing.
Über die Lehrer hörte man schon viel, bevor man sie kennen lernte. Einziges Thema war allerdings deren Gewohnheit zu strafen, mitsamt Anleitung, wie man sich davor schützen könnte. Von der Grundschullehrerin hieß es, sie laufe immer mit dem Stöckchen in der Hand durch die Klasse und bestrafe bei Unaufmerksamkeit, Störung oder falschen Antworten durch einen Schlag auf die Innenhand, bei gravierenden Verstößen und penetranter Unwissenheit schlage sie mit ihrem Stöckchen auf die Knochen der Außenhand. Einziges Hilfsmittel sei, mit der Hand nach unten auszuweichen, um die Härte des Schlages zu verringern. Wegziehen der Hand sei dagegen fatal: Für einen Schlag ins Leere gebe es grundsätzlich zwei besonders harte Schläge, die garantiert träfen. Von dem Lehrer der oberen Klassen hieß es, er vertrimme den Jungen, die sich zu diesem Zweck über die erste Bank legen müssten, mit seinem Rohrstock den Hintern. Hier hieß die Empfehlung, immer Zeitungspapier in der Hose zu tragen und trotzdem laut „Aua“ zu rufen, damit der Lehrer nichts merkte. Wahre Heldengeschichten, nur vergleichbar Siegfrieds Kampf mit dem Drachen, wurden über tollkühne Schüler erzählt, die es geschafft hatten, den Stock zu zerbrechen.
Bertold lernte diese schlagfertigen Lehrkräfte nicht mehr selbst im Unterricht kennen, da beide in Pension gingen. Dafür bekam er zunächst zwei aus dem Krieg heimgekehrte Soldaten und dann einen leicht verkrüppelten Mann als Lehrer. Der erste Lehrer war vorher bei der SS gewesen und bestrafte die Schüler kollektiv mit Gewaltmärschen, bei denen der oberste Hemdenknopf immer geöffnet sein musste, oder mit der Anordnung, die Arme minutenlang waagerecht zu halten. Wenn er schlechte Laune hatte, ließ er die Schüler auf dem Schotter des Schulhofs Schubkarre fahren, wobei einer auf den Händen lief, während sein Partner dessen Füße anhob.
Der zweite Lehrer neigte dazu auszurasten. Er schrie dann laut herum und warf schon mal einen Schüler an die Wand. Dabei kam es vor, dass ein Schüler eine Gehirnerschütterung erlitt und von Klassenkameraden nach Hause gebracht werden musste. So bekamen dann auch die Eltern mit, was dieser Lehrer mit den Schülern anstellte, was sie sonst nie erfuhren, da sich jedes Kind hütete, den Eltern mitzuteilen, dass es vom Lehrer bestraft worden war, weil diese Mitteilung die Eltern dazu veranlasst hätte, ihre Kinder noch einmal zu züchtigen. Grundsätzlich waren die Eltern nämlich nicht gegen körperliche Strafen. Wenn aber ein Lehrer ein Kind so verletzte, dass dauernde körperliche Schäden drohten oder das Kind am Nachmittag nicht aufs Feld mitgehen konnte, sahen sie sich genötigt, dem Einhalt zu gebieten. Einige Väter drohten in solchen Fällen dem gewalttätigen Lehrer mit Schlägen, schließlich aber schaffte es die Gemeinde, dass der Lehrer versetzt wurde.
Bertolds dritter Lehrer, ein älterer Mann, war aufgrund seiner körperlichen Gebrechen nicht dazu in der Lage, den Kindern ähnlichen Harm anzutun. Seine Spezialität war es, die Schüler in die Wangen zu kneifen und dann die Hand zu drehen, wobei er vortäuschte, der Schüler hänge immer noch an seiner Hand, wenn er diese in einer fließenden Bewegung von der Schülerwange bis über seinen eigenen Kopf hob und mit der erhobenen Hand durch die Klasse lief.
Das Unterrichtsniveau, so vermutete Berthold, müsse wohl sehr niedrig gewesen sein. Alle Kinder des Dorfes besuchten dieselbe Schule, auch die minderbemittelten und die Idioten, von denen es wegen der verbreiteten Inzucht einige gab. Von den letztgenannten wurde lediglich erwartet, dass sie still waren und nicht störten. Die Minderbemittelten wurden dem öffentlichen Spott preisgegeben, was vom Lehrer nicht nur geduldet wurde, sondern als Druckmittel gewollt war. So hieß ein Schüler für den Rest seines Lebens Sauerkraut, weil er auf die Frage des Lehrers, was in der Wüste wachse, geantwortet hatte, es sei das würzige Kraut, das Witwe Bolte so gerne mochte. Ein Schüler trug den Namen Vollsmastrotzen oder kurz Vollsma, weil er in einem Diktat statt Sommersprossen eben dieses Vollsmastrotzen geschrieben hatte, was der Lehrer laut verkündete. Der Lehrer hatte nämlich die Angewohnheit, die Klassenarbeiten gleich in der Klasse zu korrigieren und zu kommentieren. Bei Rechtschreibfehlern rief er „Fehler“ in die Klasse hinein, während die Schüler laut die Anzahl der Fehler zählten, sodass der Lehrer am Ende der Arbeit gleich die Fehlerzahl hinschreiben konnte. Wurde eine rekordverdächtige Zahl erreicht, herrschte laute Freude.
Da Bertold ein guter Schüler war, durfte er zusammen mit einem anderen Jungen am letzten Schultag vor den Ferien in den ersten beiden Stunden zur Filmbildstelle im Nachbardorf gehen und die vom Lehrer auf einem Zettel notierten 8mm-Filme abholen. Diese wurden dann in der dritten und vierten Stunde abgespielt. Zwei Filme waren fast immer dabei: ein Film über einen Feuerwehreinsatz und ein Film über Schwimmtechniken. Der Lehrer ließ beide Filme zum Gaudi der Schüler vorwärts und rückwärts laufen. Wenn dann die Schwimmer fleißig kraulend rückwärts schwammen und am Ende mit den Füßen voran aus dem Wasser auf den Startblock sprangen, oder die Feuerwehrleute angesichts der schwelenden Hausreste ihre Schläuche einrollten und trotz der auflodernden Flammen im Rückwärtsgang ins Feuerwehrhaus fuhren, dort ihr Auto parkten, die Stange zum ersten Stock hinaufrutschten und sich dann an einen Tisch setzten und Karten spielten, gab es immer großes Gejohle.
Trotz aller Arbeit und trotz der vielen Entbehrungen betrachtete Bertold im Nachhinein seine Kinderjahre als eine glückliche Zeit. Die Welt war überschaubar; es war klar, was richtig und was falsch war, er hatte Freunde und fühlte sich in seiner Familie geborgen.
Was ihm Sorgen machte, waren die Drohungen und Forderungen, die er von der Kanzel zu hören bekam. Die dröhnende Stimme von Pater Dominicus schallte durch die Kirche, drohte mit dem Jüngsten Gericht und den Höllenqualen. Sonst waren da nur die immergleichen sanften Predigten des Pastors von Petershausen zu hören, die wahrscheinlich aus einer Anleitung zum Verfassen von Predigten abgeschrieben waren: „Schon wieder ist ein Jahr in den Schoß der Ewigkeit hinabgesunken, ein Jahr mit seinen Mühen und Leiden, seinen Freuden und Schmerzen. Und jetzt wollen wir uns besinnen, Gott dankbar sein, unsere Sünden bereuen und in Zukunft bessern“. Man kannte seine Predigten schon vom letzten Jahr. Und Angst konnte der einem sowieso nicht machen. Schließlich spielte er regelmäßig Skat mit dem Bürgermeister und dem Weinbauern Gibbert, von dem er auch seinen Wein bezog, offenbar genug, um ihm zu einer roten Nase zu verhelfen.
Pater Dominicus war anders, ebenso wie der andere Prediger, Pater Ignazius aus dem nahen Kloster Tiefenbach. Einmal jährlich kam einer von diesen beiden, um an einem Wochenende den Dorfbauern wie der Satan selbst ins Gemüt zu fahren und die müden Knochen zum Schlottern zu bringen. Der Tag des Auftritts war jedesmal Dorfgespräch für eine Woche. Man bewunderte die Rhetorik dieser Braunkutten; man genoss sie mit Schaudern. Man nahm die Predigten durchaus ernst, ohne dass sich jedoch irgendetwas im Verhalten der Dorfbewohner geändert hätte, weil die Predigten ja eigentlich immer für die anderen waren, die sich das durchaus mal hätten zu Herzen nehmen sollen. Die Kinder durften nicht mit. Die Erziehung der Kinder übernahm man lieber selbst mit handfesten Argumenten. Sie sollten aber nicht zu seelischen Wracks werden. Bei Pater Ignazius war die allgemein akzeptierte Altersgrenze zehn Jahre, bei Pater Dominicus, dem Wüterich, zwölf. Es war wie bei der freiwilligen Filmzensur, die ja auch Kinder vor der Härte des Lebens schützen soll, solange sie noch nicht reif dafür sind.
Das Höllengemälde hinterließ bei dem zwölfjährigen Bertold einen bleibenden Eindruck, besonders in seinen nächtlichen Träumen. Was ihn erstaunte, war der Umstand, dass die Erwachsenen nach der Predigt bald wieder über andere Themen sprachen. Unter den Altersgenossen wurde dagegen die Sache schon einige Tage lang diskutiert, wobei verschiedene Strategien erwogen wurden, wie man das Leben genießen und doch gleichzeitig sicher gehen könnte, dass man nicht in der Hölle landete. Einfach, so war die einhellige Meinung, war das Problem zu lösen, wenn man alt wurde. Da hatte man genügend Zeit, seine Untaten rechtzeitig, spätestens auf dem Sterbebett, zu beichten und aufrichtig zu bereuen. Spätestens ab fünfzig hatte man ja sowieso keine Lust mehr, Verbrechen und Gemeinheiten zu begehen. Da hatte man voraussichtlich noch zwanzig Jahre Zeit, ein guter Mensch zu sein, um nicht nur in den Himmel zu kommen, sondern sich dort auch einen besonders guten Platz zu sichern. Ein Problem bei der Kalkulation war der plötzliche Tod, der einem keine Zeit mehr ließ, seine Sünden zu bereuen. Dass einen der Tod im Schlaf überraschen konnte, war zwar bekannt, wurde aber ausgeklammert, weil es keine Bedeutung für 12jährige Jungen hatte. Dagegen wurden tödliche Unfälle für junge Menschen durchaus ins Kalkül gezogen, weil sie vorkamen. Einige meinten, bevor man sterbe, laufe das Leben immer in einer Art Schnelldurchlauf am inneren Auge vorbei, sodass man noch mindestens einige Sekunden Zeit habe, seine schlimmsten Sünden zu bereuen, andere aber meinten, da man nicht sicher sein könne, ob man wirklich genug Zeit zum Bereuen hätte, sollte man, bevor man sich in eine gefährliche Situation begebe, für den Fall des Falles die Todsünden beichten. Die kleinen Sünden, die lässlichen, wurden in Kauf genommen, weil sie nur ein paar Tage oder Wochen im Fegefeuer zur Folge hätten.
Bertold beteiligte sich durchaus an solchen Diskussionen, fand die Lösungen aber zweifelhaft. Schließlich schwebte auch hoch oben am Altar, noch über der zum Himmel auffahrenden Jungfrau Maria und dem eine Etage darüber schwebenden göttlichen Dreigestirn ein auf einem Dreieck platziertes Auge, von dem es hieß: „Ein Auge ist, was alles sieht, auch was in finstrer Nacht geschieht.“ Vor diesem Auge, so betonte schon der Pfarrer, erst recht der Prediger Dominicus, bliebe nichts verborgen. Wenn es auch wie ein menschliches Auge aussah, hatte es doch magische Fähigkeiten: Es konnte nicht nur in der Nacht, auch der finstersten, alles sehen, es konnte auch durch alle Gegenstände hindurchschauen. Da halfen keine dicken Mauern und keine Bettdecke. Dieses Auge sah auch, was unter der Bettdecke geschah. Und was das Schlimmste war, es sah auch ins Herz. Und da es einem allwissenden und allgerechten Wesen gehörte, wusste es auch, wenn jemand die göttliche Gerechtigkeit austricksen wollte, und schenkte dem Trickser aus Gründen der Gerechtigkeit eben nicht die Chance, im letzten Moment sein sündhaftes Leben zu bereuen und sich dadurch vor der Hölle zu retten.
Denn, Pater Dominicus hatte es drohend beschworen, es gab so etwas wie die Sünde wider den Heilgen Geist. So recht wurde Bertold nicht klar, was damit gemeint war, aber es war so etwas wie der Versuch, Gott hereinzulegen. Und das war die schlimmste aller Sünden, für die auch kein Pastor, noch nicht einmal der Papst, die Absolution erteilen konnte. Und das bedeutete, dass man auf ewig besonders tief in der Hölle, also direkt in der Höllenglut, schmoren musste.
Später verstand er, dass damit die Sünde Adams und Evas gemeint war, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, obwohl es ihnen von Gott verboten worden war. Welche Erkenntnisse dieser Baum vermittelte, sagte der Teufel ganz klar. Sie würden sein wie Gott und selbst bestimmen, was gut und böse sei, und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Wie wichtig Gott dieses Privileg, gut und böse festzulegen, für sich allein nahm, ging aus den Strafen hervor, mit denen er aufgrund des Sündenfalls der Ureltern die ganze Menschheit bestrafte: Mühe und Arbeit, Geburtswehen und Sterblichkeit.
Den Umgang mit der Ewigkeit nahm Bertold nicht so leicht wie andere. Schauer überliefen ihn, sein Magen verkrampfte sich, wenn er daran dachte. Dabei war die Ewigkeit nicht zu vermeiden, egal ob man an Himmel und Hölle glaubte oder nicht. Der Ausweg, die Vorstellung, dass man nach dem Tod ewig nicht mehr da wäre, verbot sich für ihn, weil er die Existenz Gottes leugnete. Der Gedanke hatte auch wenig Tröstliches und hob die Tatsache nicht auf, dass es eine Ewigkeit gab. Sollte die Welt ewig weiter existieren und er sollte nie dabei sein? Aber auch die Vorstellung, ewig im Himmel zu wohnen und dort Halleluja und Hosianna zu singen, wirkte nicht besonders anziehend. Würde das auf die Dauer nicht fürchterlich langweilig werden? Immerhin konnte er hier aus den Worten des Predigers, dass die himmlischen Freuden unsere Vorstellungskraft überträfen, etwas Hoffnung schöpfen. Schlichtweg unerträglich aber war der Gedanke, auf ewig in der Hölle zu schmoren und sich ewig Vorwürfe machen zu müssen, dass man wegen kleiner, kurzzeitiger Freuden die Probezeit auf der Erde nicht genutzt hatte, um sich für den Himmel zu qualifizieren. Bertold war sich bewusst, dass alle Zeiträume, ein Tag, ein Monat oder achtzig Jahre, im Vergleich zur Ewigkeit vernachlässigenswerte Größen waren, ebenso wie alle endlichen Zahlen, verglichen mit unendlich, so viel wie null waren.
Also beschloss Bertold ein guter Mensch zu werden. Dazu gehörte allerdings mehr, als nur nichts Böses zu tun. Man musste, so erfuhr er von dem fürchterlichen Prediger, Christus, der am Kreuz für die Menschen gestorben war, nachfolgen und selbst als Sühne für die sündigen Mitmenschen Leiden auf sich nehmen, um die Gesamtbilanz der Menschheit aufzubessern. Also verzichtete er schon mal auf den Pudding nach dem Sonntagessen, wofür er sich allerdings vor seinen Eltern mit der Ausrede, er sei völlig satt, sein Bauch tue ihm schon weh, rechtfertigen musste. Das war natürlich eine Lüge, die er auch noch mehrfach vorbringen musste, weil sein Vater meinte, Pudding passe immer noch in die Lücken, die das feste Essen im Magen hinterlassen hätte. Zwar war lügen eine Sünde, aber wegen des höheren Ziels ausnahmsweise in Kauf zu nehmen. Das hatten ja auch Heilige getan, wenn sie behaupteten, sie spürten bei der Folterung keine Schmerzen. Leichter ging es mit der Schokolade, die es höchst selten gab. Man konnte sie irgendwo verstecken und sich jeden Tag überwinden, sie nicht zu essen. Wenn man sich dann eine Woche lang gequält hatte und die Schokolade schon weiß anlief, durfte sie dann endlich gegessen werden, weil es ja auch verboten war, Nahrungsmittel verderben zu lassen. Schließlich würden sich ja auch die armen Negerlein in Afrika freuen, wenn sie einmal so etwas, und sei es auch nur Spinat mit ausgelassenem Speck, zu essen bekämen, wobei allerdings immer unklar blieb, wie die armen Negerlein an den ungeliebten Spinat, der auf seinem Teller lag, kommen sollten, wenn er ihn nicht aufaß. Gelegentlich legte er sich auch in Nachfolge von Jesu Kreuzweg einen Kieselstein in einen Schuh, lief damit herum und biss sich auf die Zähne. Wenn dann abends ein wenig Blut an einem Strumpf zu sehen war, konnte er sich zugute halten, dass er einem armen Sünderlein den Aufenthalt im Fegefeuer vielleicht um einen Tag oder sogar eine Woche verkürzt hatte. Im Stillen hoffte er, dass das auch von dem Allwissenden registriert würde.
Zum Sündigen hatte er als 12jähriger wenig Gelegenheit. Lügen, außer der Lüge zur Rechtfertigung eines Opfers, mochte er nicht. Außerdem war ihm der Gedanke unerträglich, bei einer Lüge erwischt zu werden und als Lügner dazustehen. Überhaupt wurde in seiner Familie nicht gelogen. Das galt für seine Eltern wie auch für seine Schwestern. Bertold konnte sich nicht erinnern, jemals ein Familienmitglied beim Lügen erwischt zu haben. Wenn es stimmen sollte, wie man las, dass jeder Mensch täglich etwa zweihundertmal lügt, dann war diese Statistik ohne seine Familie gemacht worden. In seiner Familie wurde nicht einmal übertrieben. Wenn Onkel Herbert als Gast beim Kaffeetrinken fünf Stück Kuchen gefuttert hatte, hieß es: „Onkel Herbert war so ausgehungert, dass er fünf Stück Kuchen in sich hineingestopft hat. Und hätte ihn seine Frau nicht daran gehindert, hätte er vielleicht noch fünf weitere genommen.“ Diese Angelegenheit wurde aber nicht als Anlass genommen, über Onkel Herberts Verfressenheit und die Bevormundung durch seine Frau zu lästern, sondern sogar ins Positive gewendet mit der Erklärung, der Kuchen sei offenbar sehr schmackhaft gewesen. Und es blieb bei fünf Stück, es wurden keine sechs oder sieben daraus, wie es in anderen Familien üblich war, wo man sogar aus den fünf Kuchenstücken gleich ein Dutzend gemacht hätte.
Ein Bedürfnis, andere zu verletzen, hatte Bertold nie. Das galt auch für Tiere. Schon bei dem grausamen Spielchen, das manche seiner Freunde liebten, einen Frosch mit einem Strohhalm aufzublasen und zum Platzen zu bringen, machte er nie mit. Er stahl auch keine Vogeleier aus den Nestern. Er hatte immer Mitleid mit gequälten Tieren. Raufereien konnte er allerdings nicht aus dem Weg gehen. Er fing zwar niemals eine Rauferei an, aber wenn er angegriffen wurde, musste er sich auch verteidigen. Unten zu liegen und einfach besiegt zu sein, konnte er nicht auf sich nehmen. Es ging ihm da wie Setembrini aus dem „Zauberberg“, der es als Humanist ablehnte, sich zu duellieren, sich als italienischer Patriot aber einem Duell stellen musste, wenn er dazu herausgefordert wurde, und der sich deshalb beim Duell als Humanist im Profil hinstellen wollte, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, als italienischer Patriot dem Gegner aber mit breiter Brust entgegen treten musste, und sich in diesem Dilemma dann für die Diagonale entschied.
So raufte sich denn auch Bertold nur zur Abwehr des Gegners, brachte ihm aber keine Niederlage und kein blaues Auge bei.
In dem katholischen Dunstkreis, in dem er aufwuchs, tauchten gelegentlich Missionare auf, die von ihrer Tätigkeit in fremden Ländern berichteten und von dem Glück der armen Heidenkinder erzählten, die nun für den Himmel gerettet waren. In seiner Familie wurde von diesen Missionaren mit höchster Achtung gesprochen, weil sie bereit waren, ungeheure Gefahren und Entbehrungen auf sich zu nehmen, der brennenden Sonne in südlichen Ländern zu trotzen, wilden Löwen ins Auge zu schauen und mit Schwarzen, Gelben und Roten in deren jeweiligem Kauderwelsch zu reden. Und wenn in der Kirche eine Kollekte für eine Missionsstation in Afrika veranstaltet wurde, spendete seine Mutter trotz der eigenen Armut einen Papierschein, einen Zehner oder gar einen Zwanziger statt des üblichen Beitrags von einer Mark. Für Bertold, der noch nie weiter in der Welt herumgekommen war als bis zur sieben Kilometer entfernten Kreisstadt, war die Vorstellung, in ein Land zu kommen, das er nur vom Atlas her kannte, und sich dort den wildesten Gefahren auszusetzen, schwindelerregend reizvoll. Selbst die Gefahr, von den dort in den Wäldern lebenden Menschenfressern mit Pfeilen getötet und verspeist zu werden, konnte ihn nicht erschrecken; denn dann war ihm das ewige Himmelreich sicher wie allen Märtyrern, deren Geschichte er seiner Oma vorlas. Würde er aber nicht bei der Bekehrung der Heiden getötet werden, war das Missionieren doch ein ziemlich sicherer, wenn auch weniger glorreicher Weg zum Himmel. Zudem versprach diese Tätigkeit die Bewunderung und Anerkennung durch seine Familie und das ganze Dorf, vermutlich sogar die der ganzen Christenheit.
So vertraute er denn seiner Oma nach der Lektüre der Heiligenlegende an, er wolle Missionar werden. Seine Oma lobte ihn dafür und ließ gleich seine Mutter kommen, der sie diesen erfreulichen Entschluss mitteilte. Seine lebenskluge Mutter aber zeigte sich skeptisch. Sie fragte ihn, ob er sich das gut überlegt habe. Sie wolle nicht zum Gespött des Dorfes werden, wenn er sich das nach ein paar Wochen oder Jahren anders überlege. Dann aber leitete sie alle erforderlichen Maßnahmen ein. Sie schrieb einen Verwandten an, der Mitglied in einem Missionsorden war und in einem Kloster lebte. Dieser schickte bald den Prospekt einer Klosterschule, die Jugendliche nach der Volksschulzeit aufnahm. Zwar hatte Bertold die Volksschule noch nicht beendet, das fehlende halbe Jahr war aber kein Hindernis. Mit Freude sah Bertold in dem Prospekt der Klosterschule, dass die Jungen dort auch Fußball spielten. Ihm gefiel auch, wie sie über ihren Büchern saßen. Der Verwandte aus dem Missionsorden organisierte die Anmeldung, die Mutter nähte auf alle Kleidungsstücke und Utensilien die von der Schule zugesandten Nummern und Bertold lernte auf Anweisung seiner Mutter das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser auf Latein auswendig. Beides war für ihn kein Problem, da er es oft genug in der Kirche gehört hatte. Auch blieb ihm trotz fehlender Lateinkenntnisse die Bedeutung nicht verborgen, da er die deutsche Übersetzung des Credos und des Paternosters selbst unendlich oft gebetet hatte.
Ich habe in meiner Darstellung von Bertolds Leben mit seiner Kindheit begonnen und werde auch weiter sein Leben in chronologischer Reihenfolge erzählen. Bertolds Darstellung war völlig anders. Er extemporierte sehr gern und überließ es mir, die Dinge in eine zeitliche Ordnung zu bringen. Schließlich würde ich dafür gut bezahlt. Ich war aber weit entfernt davon, ihm den freien Lauf seiner Gedanken zu verbieten. Für mich wurden dadurch die Schwerpunkte deutlich, die sein Denken bestimmten. Ich fragte aber öfter nach: Wieviel Geschwister er gehabt habe, wie das Verhältnis zu seinen Eltern gewesen sei, welche Freunde und Freundinnen er gehabt habe und so weiter. Nur dadurch konnte ich mir ein Bild von seinem Werdegang machen, um letztendlich zu verstehen, warum er sich an Monas Tod schuldig fühlte. Denn davon ging er in seinen Erzählungen immer wieder aus und verlor sich dann in den verschiedensten Phasen seines Lebens.