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„Ich bin Nihilist“, waren die ersten Worte Bertolds nach der Begrüßung. Er sage dies, begründete er, um mich zu warnen. Falls ich also Angst um meinen Seelenfrieden hätte, könne ich auch die Therapie verweigern. Ich sagte ihm, Nihilisten seien mir immer noch lieber als Mörder, und auch die säßen mir gelegentlich gegenüber. Nein, Mörder sei er nicht, beruhigte mich Bertold, jedenfalls nicht im juristischen Sinne. Er könne wortwörtlich sogar keiner Fliege was zuleide tun und öffne das Fenster, wenn eine vergeblich versuche durch die Scheibe ins Freie zu kommen. Um so weniger könne er einen Menschen leiden sehen, und wenn er Tierfilme anschaue, was er gerne tue, schalte er schnell um, wenn ein Raubtier sich über seine Beute hermache. Er sei also ausgesprochen sentimental, was wahrscheinlich ein kümmerliches Relikt seiner religiösen Erziehung sei.

Das aber bedeute nicht, dass er nicht doch alles für sinnlos halte. Immer wenn er höre, dass irgendetwas von ewigem Wert sei, sträubten sich ihm die Haare, egal ob es um Goethes Faust oder Mozarts Kleine Nachtmusik gehe, oder, was noch lächerlicher sei, um einen Geschwindigkeitsweltrekord, der doch einige Zeit später sowieso übertroffen werde, oder gar um ein Fußballtor, das manche Reporter sich nicht scheuten als ein Tor für die Ewigkeit zu bezeichnen, an das sich aber drei Monate später kaum noch jemand erinnern könne, und das alles, wo doch Astronomen inzwischen recht genau vorhersagen könnten, wann die Erde von der Sonne verschluckt und alles Leben vernichtet werde, sogar das der Insekten, woraufhin dann definitiv sich niemand mehr an ein schönes Tor und noch nicht einmal an Goethe und Mozart erinnern werde. Aber wahrscheinlich müsse man gar nicht so lange warten, bis die Sonne alles in heißer Glut verschlungen habe. Wahrscheinlicher sei, dass irgendein riesiger Meteorit, von dessen Existenz wir noch gar nichts wüssten, weil er Lichtjahre entfernt sei, sich mit an Lichtgeschwindigkeit grenzender Eile der Erde nähere und sie zertrümmere, oder dass ein Vulkanausbruch wie in der Vergangenheit die Erde in schwarze Wolken hülle, unter der alles Leben zugrunde gehe, mal abgesehen davon, dass die Menschen vielleicht vorher schon selbst die Erde unbewohnbar gemacht hätten. Es sei eben alles vergänglich und nichts ewig außer den Gesetzen der Mathematik, von denen aber niemand leben könne. Und selbst, wenn man den Blick nicht so weit schweifen lasse und nur ein paar Jahrzehnte ins Auge fasse, sei die Vergeblichkeit allen Bemühens unübersehbar. Da rackere sich einer sein Leben lang ab oder zeige Mut, Tapferkeit und Nächstenliebe; der Tod aber überantworte ihn trotzdem dem Vergessen. Da kümmerten sich Eltern liebevoll um ihre Kinder, die wenige Jahre später nur auf das Erbe schielten und sich gegenseitig mit Prozessen überzögen, und kaum habe eine schöne Frau die Blüte ihrer Jahre erreicht, zeigten sich schon die ersten Falten und wenige Jahre später schleppe sie sich als krumme Alte durch die Straßen, wenn sie sich nicht schon vorher umbringe.

Vielleicht hatte Berthold gedacht, ich würde mich auf eine Diskussion über seine nihilistische Weltanschauung einlassen und den Versuch machen, ihm das Leben als sinnvoll darzustellen. Es hätte ihm sicher Spaß gemacht, mir zu beweisen, dass ich mit diesem Versuch bei ihm scheitern würde. Mich interessierte an seiner Tirade aber nur, warum er das Bedürfnis hatte, sie mir sozusagen ins Gesicht zu klatschen. Welchen Schmerz und welches Schuldgefühl übererdeckte er mit seiner langen Rede? Ich nutzte sein momentanes Schweigen, ihn zu fragen, wer sich denn umgebracht habe. Bertold schaute mich einen Moment verblüfft an und erzählte dann von seiner Freundin Mona, deren Selbstmord ihn geschockt habe, und von seinen Schuldgefühlen. Warum hatte er nicht die Zeichen der Verzweiflung in ihrem Verhalten erkannt? Natürlich hatte er gewusst, dass sie litt, obwohl sie es zu verstecken versuchte. Sie litt darunter, dass er nur verliebt war in sie, sie aber ihrer Meinung nach nicht liebte. Liebe bedeute abhängig werden, und er sei nicht abhängig gewesen, jedenfalls nicht, solange sie gelebt habe. Jetzt, wo sie nicht mehr lebte, wo sie sich sogar seinetwegen umgebracht habe, war er maßlos traurig. Er trauerte mehr, als sie sich hätte vorstellen können. Er fühlte sich allein gelassen. Schließlich war sie seine beste und einzige Freundin gewesen, eine kluge, stolze und schöne Frau, die ihn liebte, wie er war. Er war gerne mit ihr zusammen gewesen, seit sie vor fünf Jahren zu Hause ausgezogen war und sich eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel genommen hatte. Sie waren regelmäßig zusammen essen gegangen, hatten nächtelang diskutiert, sie waren zusammen ins Kino, in die Oper, ins Theater gegangen, sie hatten zusammen Freunde besucht, sie waren auch meist zusammen in Urlaub gefahren.

Treu war er nicht gewesen. Das war auch nicht vereinbart. Sie ließen einander jede Freiheit. Er hatte seine Affären: Schauspielerinnen, Studentinnen, Verkäuferinnen und so weiter. Sie hatte ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht. Beklagt hatte sie sich lediglich darüber, dass er mit ihr nicht die „Schweinereien“ - sie nannte es tatsächlich so - machte, die sie ihm bei anderen Frauen unterstellte. Zwar war es für ihn immer von besonderem Reiz gewesen, eine Frau zum Objekt seiner sexuellen Lust zu machen, bei ihr aber tat er es nicht. Er versuchte immer so etwas wie Förmlichkeit in ihrer Beziehung zu wahren, nicht zuletzt aus Selbstschutz. Er war immer in Gefahr, sich an diese Frau zu verlieren.

Dass seine Affären meist deutlich jünger waren als sie, nahm sie als natürlichen Vorzug der Jugend hin. Ihm vorzuhalten, dass er sich an jüngeren Frauen vergreife, weil er sich an erfahrenere Frauen nicht herantraue, kam ihr nicht in den Sinn. Sie war zu klug, um an diesen albernen Vorhalt älterer Frauen zu glauben. Sie wusste, dass ältere Frauen ihm nachliefen und dass er um die jüngeren Frauen, die sich ihrer Attraktivität bewusst waren, eher kämpfen musste, je mehr er in die Jahre kam.

Von ihrem Selbstmord war er überrascht. Selbstmord war eigentlich zu pathetisch für sie, die alles Pathetische hasste. In den Worten ihres Abschiedsbriefes erkannte er aber eine gestische Angewohnheit, die sie in der letzten Zeit gekennzeichnet hatte: ein plötzliches Emporreißen des Kopfes, wenn sie nach und nach in sich zusammengesunken war oder leicht gebeugt daherkam. Dann leuchtete er wieder auf, der Stolz in ihrer Haltung und ihrem Blick. Nach außen hin hatte sie bis zuletzt funktioniert. Ihre schulischen Verpflichtungen als Oberstudienrätin für Deutsch und Kunst hatte sie mit Leichtigkeit erledigt. Offenbar war sie sehr beliebt gewesen. Seit Jahren war sie Vertrauenslehrerin an ihrer Schule. In den Abibüchern, die doch manchmal von Gehässigkeiten strotzten, wurde ihr immer ein liebevolles und anerkennendes Abschiedslied gesungen.

Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Es war auf einer Vernissage in Ottensen. Die Galeristin hatte ihn eingeladen. Die Ausstellung war nicht weit von seinem Haus entfernt, so ging er hin. Der Künstler, der da präsentiert wurde, beantwortete Fragen, die ihm gestellt oder auch nicht gestellt wurden. Er litt unter verbaler Diarrhö; so sahen auch seine großformatigen Bilder aus: Als hätte er sein Mittagessen hingekotzt oder auf andere Art ausgeschieden. Anorganisches und Organisches durcheinander gerührt unter dem Obertitel „The day after“. Sollte es wirklich so aussehen an diesem Tag, war es besser, ihn nicht zu erleben. Schockierend oder gar aufrüttelnd fand Bertold die Bilder aber nicht, nur hässlich und unappetitlich. Wahrscheinlich fehlte dem Künstler die Fähigkeit, den „Day before“ zu malen. Trotzdem tat Bertold so, als wolle er die Botschaft der Bilder verstehen, näherte sich ihnen auf Riechweite und ging dann zurück, um vielleicht doch etwas zu erkennen. Es war nichts zu erkennen außer Kotze.

Da stieß er sie an, als er einen zu schnellen Rückwärtsschritt machte. Er entschuldigte sich. Es war aber nichts passiert. Sie hielt das Sektglas noch in der Hand, ihr himmelblaues Kleid hatte offenbar nichts abbekommen und es gab keine Pfütze auf dem Boden.

„Haben Sie die Botschaft verstanden? Sie geben sich ja sichtbar Mühe,“ fragte sie.

„Vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin etwas begriffsstutzig.“

„Was ich Ihnen sagen könnte, würde Sie nur enttäuschen.“

„Und das wäre.“

„The day after.“

„Es sieht nicht schön aus.“

„Darauf soll es ja nicht ankommen.“

„Bevor wir uns weiter in die Geheimnisse der modernen Kunst vertiefen – darf ich mich vorstellen?“

„Nicht nötig, Sie sind mir bekannt. Ich habe Sie in Ihrer Rolle als Präsident in „Kabale und Liebe“ gesehen. Ich bin Mona Mehrkens. Aber wollen Sie nicht auch ein Glas Sekt trinken? Sie haben es sich doch nach Ihren intensiven Studien verdient.“

Er nahm sich ein Glas vom Tisch. Sie folgte ihm. Man prostete sich zu und nahm auf einem der Sofas Platz.

„Was führt Sie hierher?“

„Ich bin mit der Galeristin befreundet. Und Sie?“, fragte sie.

„Ich bin eingeladen.“

„Sie werden sicher des Öfteren eingeladen.“

„Nun ja.“

„Gehen Sie immer hin, wenn Sie eingeladen werden?“

„Unser Gespräch entwickelt sich zu einem Verhör.“

„Das war meine Absicht, als ich mich hinter sie gestellt habe, um von Ihnen angerempelt zu werden.“

Die Frechheit imponierte ihm.

„Und was machen Sie, wenn Sie mal nicht im Weg stehen?“

„Jetzt soll also das Verhör in die entgegengesetzte Richtung laufen? Ich unterrichte an einem Gymnasium Deutsch und Kunst.“

„Dann sind Sie also vom Fach und können mir sicher etwas über diese Kunstwerke hier sagen.“

„Ich finde sie ekelhaft und in der Aussage so plump und banal, dass es schon peinlich ist.“

„Wenn Sie das als Fachfrau sagen, dann freue ich mich über mein eigenes Urteil. Wussten Sie, was Sie hier erwartet?“

„Nein, dann wäre ich nicht gekommen, und das wäre natürlich schade.“

„Wieso?“

„Sie sind ganz schön eitel. Was soll ich wohl darauf sagen?“

„Dasselbe wie ich. Man geht hin auf gut Glück, vielleicht gibt es ja was Interessantes zu sehen und vielleicht lernt man auch einen interessanten Menschen kennen.“

„Darum gehen Sie also auf Vernissagen?“

„Natürlich auch wegen des Sekts und der Appetithäppchen. Und man lernt dabei immer wieder schöne und kluge Frauen kennen.“

„Danke für das Kompliment. Ist Kommissar Brandsen Ihr alter Ego?“

„Sie kennen meine Krimis?“

„Einige. Ihre Rolle als Präsident hätte mich nicht dazu verleitet, mich Ihnen in den Weg zu stellen.

Der Schriftsteller interessiert mich mehr. Also, ist Brandsen Ihr alter Ego?“

Susi, die Galeristin, kam hinzu, machte einige freundliche und anzügliche Bemerkungen, wobei sie nicht vergaß zu erwähnen, dass Mona glücklich verheiratet und Bertold ein notorischer Verführer sei, fragte nach, was sie von den ausgestellten Kunstwerken hielten, woraufhin ihr bestätigt wurde, dass sie bemerkenswert seien, und beendete das traute Zwiegespräch, weil sie die beiden unbedingt einigen weiteren Personen vorstellen musste.

Aber man traf sich wieder. „Ich würde gerne mal in Ruhe mit Ihnen einen Kaffee trinken, sagte sie im Vorbeigehen.“ Drei Tage später rief er sie an.

Jetzt war sie tot. Warum konnte er sich nicht verlieben, richtig verlieben? Den Boden unter den Füßen verlieren? Haus und Hof und alles andere, was er hatte und nicht hatte, dieser Frau zu Füßen werfen? Als die Schuldgefühle und die Trauer ihm den Magen zuschnürten, hatte er sich im Telefonbuch eine Psychotherapeutin gesucht, mich. Er wollte einfach nur erzählen. Befreiung von den Schuldgefühlen erhoffte er sich angeblich nicht.

Der Nihilist

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