Читать книгу In die Transitzone - Elena Messner - Страница 10

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Von oben hatte sie zwar einen besseren Überblick, aber dafür Schwierigkeiten, die vielen Menschen auseinanderzuhalten. War der Charbonnier schon da? Wenn er es sich bloß nicht im letzten Moment noch anders überlegt hatte. Lief alles nach Plan? Die Mädels mit den Blumenkörben schauten nicht zu ihr herüber, es schien gut zu gehen. Bakary stand nah an der Bühne, biss dort unten in eine Feige, die Lippen zum gleichen braunroten, auffordernden Grinsen geformt, das er in ihrer Jugend auch immer schon aufgesetzt hatte, wenn er im Schatten liegend abgewartet hatte, bis eine Stechmücke auf ihrer Haut lag, um kurz bevor die Mücke stach, so fest zuzuschlagen, dass es wehtat. Bloß dass sein Gesicht mittlerweile zu alt für Schelmisches geworden war, er sah furchteinflößend aus, wenn er sie so anschaute.

Als wüsste sie nicht, auch ohne Hinweis seinerseits, dass die Menschen etwas erwarteten, als hätte sie nicht selbst mit den Im-Stich-Lassern dieser Stadt genug zu kämpfen. Schlimmer noch, mit der Angst, einmal selbst die zu sein, die alle im Stich lassen würde, gerade weil sie es irgendwann satt haben könnte, ständig gegen das Desinteresse der Menschen vorzugehen, das besonders groß war, wenn es um die gemeinsame Sache ging. Von Verbesserungen war nämlich keine Rede mehr, nur vom Durchhalten. Man konnte sich jeden Tag fragen: »Was haben wir falsch gemacht?«, auch wenn man überhaupt nichts falsch gemacht hatte, und wenn man sich das nicht selbst fragte, tat es ein anderer.

Sie fände es auch schöner, vor jemandem zu stehen, sich die Bluse aufzuknöpfen, die Hose herunterzuziehen, sich streicheln zu lassen – und nichts weiter. Vielleicht hätte das für ein gutes Leben gereicht, verschwitzte Boxershorts, ihr BH daneben, die Finger im Mund, Lecken und Kratzen auf Hintertreppen. Man hätte sich die Jugend leichter machen sollen, fand sie jetzt. Gleich gar keine allzu großen Hoffnungen hegen, sich stattdessen auf das Genießen und nicht auf das Drumherum konzentrieren. Warum hatte sie überhaupt studiert? Im Rückblick waren das verlorene Jahre, überflüssige Vormittage auf der juristischen Fakultät, Nachmittage, an denen man dafür Parkplätze bewacht und alte Kleider und Schuhe verscherbelt hatte, Blinden oder Kindern Märchen vorgelesen, auf der Straße Sonnenbrillen an Touristen verkauft, im Hochsommer Massagen am Hafen angeboten hatte. Nicht eben angenehm, die schwitzenden Touristenrücken. Wozu? Für die Demütigung nach dem Studium, fast zehn Jahre ohne feste Anstellung, die kurzfristigen Honoraraufträge und schlecht bezahlten Praktika, die Aushilfsstellen?

Lauter überflüssige Gedanken, dachte sie sich, man kann es ja nicht mehr ändern. Sie hatte eben weitergemacht, geplant, hatte betreut und beraten, hatte zu allem »Ja« gesagt, zu Ideen, zu Ansinnen, zu fast jedem Projekt, auch zu jeder angebotenen Freundschaft, niemand, für den sie sich nicht Zeit genommen hatte. Dass sie in dem schlecht subventionierten Sozialzentrum die Anstellung bekommen hatte, wodurch wenigstens zwanzig Stunden Arbeit nunmehr entlohnt wurden, änderte nichts daran, dass das Wort Ehrenamt immer noch weit hinein in den Alltag reichte. All das Hickhack, nur um »unsere gute Malika« zu werden, »Malika-Bitte-Sehr«, »Malika-Danke-Schön«, die im kleinen Büro einer Zwei-Personen-Rechtsberatung hockte, Anlaufstelle für drei Initiativen, vier Vereine und für das Forschungsinstitut, kurzum für alles, was am Sozialzentrum dranhing. Dort lernte man sie kennen, die Menschen, kamen ja so einige vorbei, Nervensägen und Großmäuler, Arme und Idioten; manchmal schliefen sogar welche dort.

Es gab schönere Arbeitsplätze.

Die Eingangstür klemmte, und die Häuserfassade, die Innenwände, auch die Einrichtung waren schäbig, außer die der Gemeinschaftsküche und der Bar, wohin jeder etwas mitgebracht hatte: einen Stuhl, ein altes Sofa, Sträucher in Keramikbehältern oder selbstgemalte Bilder. Hakim, den sie persönlich vor ein paar Jahren hinzugeholt hatte, weil es – seit das Zentrum unter der neuen Leitung, die auch sie angestellt hatte, gewachsen war – mehr und mehr Schlägereien gegeben hatte, stand von da an mit verschränkten Armen und abwesendem Blick vor dem Eingang. Zu Stoßzeiten hatte er mit zwei anderen Aufsicht, und draußen drängte die anwachsende Menschenmenge gegen die Tür, die kaum schloss. Wenn jemand laut wurde, war er da, um traurige oder wütende Menschen fest an sich zu drücken und zu flüstern: »Alles gut?« Manchmal, wenn sie sich nicht mehr konzentrieren konnte wegen des Lärms, hängte sie mit ihm gemeinsam ein großes Transparent über den Eingang: »Politische Gespräche heute verboten«, und Hakim rief jedes Mal, wenn sie damit fertig waren, mit dem gleichen Gesichtsausdruck: »Na also, wir haben die Lösung! Sehr schön.«

Während Malika jetzt in die Menge am Hügel vor sich sah, auf die gedrängten Menschen und wie sie sich verhielten, erinnerte sie sich plötzlich wieder an ihre Zeit im Gefängnis, die Zelle, der Gang, das Schlüsselklirren, normiertes Essen, normiertes Weiß der Wände, normierte Überbelegung, normiert auch die Wechselsprechanlagen, die automatisch schließenden Türen, die Gemeinschaftsduschen ohne Luftabzug; es gab nur Metallbetten und Betontische – keine Weichheit gegen die Täter! –, und selbst die ethnischen Hierarchien wirkten wie vorab festgelegt, die weißen Beamtinnen und Psychologinnen blieben eine sichtbare Minderheit. Man regte sich in Makrique nicht über Haftbedingungen auf, manche in der Stadt lebten schlechter. Warum eigentlich bei den Klagen nichts weitergegangen war? Weder bei der Klage gegen die Stadtverwaltung noch bei jener der Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den Polizeipräfekten, in die sie ebenfalls involviert war. Ein reines Hinhalten. Hatten sie etwas ausgerichtet? Die Ausweitung des Grenzschutzes verhindert – oder die Umwandlung der staatlichen Geheimdienste zu Ausbildungsinstituten, die Verwaltungs- und Kontrollsysteme für Grenzagenturen erarbeiteten, auf die sich wiederum der Staat stützen konnte, wenn er neue Gesetze beschloss? Hatten sie dagegenhalten können, wie sie gehofft hatten? Was hatten sie gegen Gesetzesbrüche und schäbige internationale Abkommen gemacht? Gegen ein Denken, das den Einsatz von Gewalt rechtfertigte, wenn es darum ging, Menschen an der Flucht zu hindern?

Kein Wunder, dass diese Gewalt jetzt überall war, mitten unter ihnen, in der Nachbarwohnung, auf der Straße, am Strand, im Wasser, auf den vorgelagerten Inseln, wohin sie früher mit kleinen Kähnen gefahren waren, um unbeobachtet nackt zu schwimmen.

Sie hatten sie alle auf die Schiffe steigen lassen, die der Lolly-Garche herangeschafft hatte, sie hatten sie fotografiert beim Wegfahren und ihnen gewunken, hatten die neuen Verträge vielleicht nicht gebilligt, sie aber auch nicht ausgehebelt, beschränkt und begrenzt bis zur Unwirksamkeit.

Malika zwang sich, um ihre Wut zu dämmen, stattdessen an den Moment zurückzudenken – ein guter Moment –, als sie aus dem Gefängnis getreten war. Die Leute, die gekommen waren, um sie vor dem Gebäude abzuholen, überall Fotoapparate und Videokameras, die Wagen und ein paar Transparente mit ihrem Namen. Die Videos kannte jeder, sie waren leicht im Netz auffindbar: Malika in Jeans und T-Shirt, neben ihren Schultern die beiden Wärter, deren Münder fest geschlossen blieben, während sie ihrerseits beim Gehen andauernd in die kleine Menge rief, ins Auto zu Hakim stieg – und weg war sie –, direkt zur Kundgebung am Hafen gefahren wurde. Was für ein Anblick war das, als sie nach ihrer Freilassung mitten in die bis dahin größte Demonstration geriet. Die volle Ladung politischer Kraft. Und jetzt? Nur so wenig später? Wo war da die Bewegung? Die Hoffnungen waren wie aufgepeitschtes Wasser, das gegen die Felsen klatscht, hochgeschnellt, hatten sich dabei zuerst in Gischt verwandelt – die spritzte nur so in alle Richtungen –, um sich dann ganz in Luft aufzulösen.

So war das, dachte sie sich.

Die Menschen unten im Gras starrten und tuschelten, redeten durcheinander, überall sah sie nur schwitzende Passivität, aufgedunsene Gesichter alter Männer, ein fast faulig wirkendes Kleinkind. Als wäre die Schwüle eine Krankheit, der die Stadt erlegen war. Sie hatte vorhin unter die Decken im LKW geschaut, und bei einem der oben liegenden Toten hatte das halbe Bein gefehlt. Daher das Bild ihres Vaters, ein kurz vor ihren Augen waberndes Bild seiner Finger, wie er seinen Stumpf mit der Spezialcreme einschmierte, an der Stelle, wo die Haut so abstoßend über den Knochen hing.

Konzentrier dich!

Sie ließ jetzt doch von den Kabeln ab und strich sich über den Hinterkopf, über die kleine kahle Stelle, die klebrig war vom Schweiß. Man reichte ihr ein Megafon, sie hob es an den Mund: »Ihr da!«

Da der Ton viel zu leise gedreht war, wiederholte sie noch einmal lauter: »Hey, ihr!«

Der Mikroständer, ohne Strom nutzlos, aber direkt vor ihr aufgestellt, stand ihr im Weg. Sie redete und redete, ohne genau zu wissen was, bedankte sich bei allen, dass sie gekommen waren, sagte ein paar Worte über das Wieder-einmal-zusammengekommen-Sein, dann etwas über die Menschen, die namenlos bleiben würden, und über den letzten Dienst, den es den Toten zu erweisen galt, die gemeinsame Aufgabe, sie in Würde zu verabschieden, und noch Sonstiges in die Richtung.

Nun begannen die Frauen neben dem LKW endlich, ihre Blumen an die Umstehenden zu verteilen, diese Ansprache war das vereinbarte Zeichen. Die Menschen griffen zu, warfen die Blumen in den Laderaum des Lasters und entfernten sich angemessen betroffenen Blickes wieder. Das führte zu ständiger Unruhe in der Nähe der Bühne.

Malika verzettelte sich, was ihr aber auch egal war, denn sie dachte noch immer über die Beschränktheit ihrer Arbeit, die Oberflächlichkeit ihres Beitrags zu alledem nach. Es war eine Schande, eine große Schande, anders konnte man das nicht nennen, und müsste diese Schande nicht eigentlich an ihnen allen sichtbar sein? Sie verfing sich immer mehr in bloßen Anfängen von Gedanken, »Hätten wir gewusst …«, »Wir haben niemals befürchtet, dass es so schlimm …«, »Und wenn es doch eine Falle …?«

Einige Male kam sie deswegen beim Reden durcheinander, verlor dann endgültig den Faden, weil sie anderes im Kopf hatte, und kündigte, um es sich nicht anmerken zu lassen, abrupt die erste Rednerin an. Sie lobte sie als »Freundin der Wahrheit!«, die in den Ring gestiegen sei mit den »Gierigen und Korrupten!«, und forderte am Ende laut und feierlich: »Begrüßt mit mir Marguerite Tassioni, die letzte Matadorin der Gerechtigkeit!«

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