Читать книгу In die Transitzone - Elena Messner - Страница 11

ZUSPRUCH

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Von unten hob, von oben zog man die Rednerin, die von dieser Ankündigung überrumpelt war, umständlich auf die Bühne, und Daniel hatte sofort die Fotografien vor Augen, die er am Vorabend gesehen hatte. Mit dem Widerschein der Sonne auf ihrem Gesicht hatte sie fast das Aussehen eines Mädchens, aber der Stiernacken, ihre hängenden Brüste, die spröden Haare passten nicht dazu, und auch nicht das Gesicht, ganz von Falten überzogen. In der Menge streckten viele die Hände in die Luft, man begrüßte sie mit lauten Rufen: »Tassi-ooo-ni, Tassi-ooo-ni!«, »Margue-rite! Mar-gue-rite!«

Das Stromproblem war behoben, das Mikrofon funktionierte jetzt, nun begrüßte auch Marguerite die Leute, indem sie mehrmals »Freunde und Freundinnen!« rief und dann zweimal: »Wie geht’s euch?« Die Lautsprecher übertrugen ihre Stimme, sie war aus mehrere Richtungen zu hören, wodurch die Feier einen offiziellen Anstrich bekam.

Man wollte nicht aufhören zu winken.

Tatsächlich hatte sich die Stimmung mit ihrem Auftritt verändert, bisher war eher eine unbestimmte Anspannung spürbar gewesen, nun lag Stolz in dem ansteigenden Lärm, den der Tonfall von Marguerite noch befeuerte: »Zum wievielten Mal in den letzten Wochen sind wir zusammengekommen, um Abschied von Toten zu nehmen? Ich weiß, ich weiß, ihr fühlt die Traurigkeit um uns, so ist das, aber nicht allein wollen wir sein, und traurig, sondern gemeinsam, und wütend.«

Daniel schaute sich um, Malika, die inzwischen von der Bühne weggetreten war, stand jetzt neben Bakary.

Sonst keine vertrauten Gesichter.

Marguerite setzte noch einmal an, machte mit den Armen beschwichtigende Gesten in Richtung des Publikums, als wolle sie die Aufregung, die sie selbst hervorgerufen hatte, dämpfen: »Wisst ihr noch, wie es angefangen hat? Als sie uns erklärt haben, dass der Industriehafen geschlossen wird. Sie haben uns erzählt …«, endlich wurde es ruhiger, »… wir wären nicht mehr gewesen als eine ineffiziente Transportstation, finanziert auf Kosten der Stadt.«

Das Publikum hörte ihr nicht mehr nur zu, es gehörte ihr. Daniel sah, dass sich mehrere Männer nach vorne zur Bühne drängten, deren Kleidung und Gesichter ihn sofort an die Alten erinnerten, die er in der Früh an der Küstenstraße gesehen hatte. Marguerites Sätze wirkten, wenn auch auf verschrobene Weise, magisch, sie redete über den Arbeitsalltag, Löhne und Arbeitszeiten, und erntete Begeisterung; nur vereinzelt mischten sich in den Beifall freche Zwischenrufe, eine Gruppe skandierte: »Genug! Genug!«, und ein paar andere betätigten die Hupen ihrer Mopeds oder ließen kurz die Motoren aufröhren, um zu stören. Sie wurden sofort beschimpft. Marguerite, ohne sich darum zu kümmern oder es überhaupt zu bemerken, hatte keine Hemmungen, die Schlüsselworte, die ihren Alltag bestimmten, immer wieder in den Mund zu nehmen. Sie sprach von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitslosen, deutete in Richtung des Alten Hafens, wo kleine Lichtflecke glänzten, weil das Wasser und das weiße Plastik der Boote die Sonnenstrahlen zurückwarfen: »Warum wollten sie den Industriehafen schließen? Wegen ein paar Hunderttausend Menschen, die in unserem Land verteilt kaum aufgefallen wären, hätte man nicht ständig mit Geschrei immer wieder auf sie hingewiesen. Warum wollten sie zugleich neue Gesetze für die Hafenverwaltung aufstellen, Schifffahrtsgesetze und Handelsgesetze und Arbeitsgesetze festlegen, die ihr alle kennt, und ihr kennt ebenso die Folgen, die das für die Stadt gehabt hätte? Darauf hat man nicht hingewiesen, und darum wäre es auch fast keinem aufgefallen.«

Sie kletterte, weitaus eleganter, als sie hinaufgestiegen war, von der Bühne herunter in die Menge, nahm das Mikrofon mit und zog mit dem Kabel eine schwarze Spur im Gras hinter sich her. Manchmal musste sie fest am Kabel ziehen oder es über einen Menschen heben, denn überall saßen sie in Gruppen oder hockten, knieten und lagen im Gras.

Nur um den LKW herum war viel Bewegung, die Menschen kamen hin, warfen weiterhin die Blumen in den Laderaum, die ihnen die Frauen in die Hand gaben, und waren dann wieder weg.

Marguerite ging wie eine Priesterin umher, ihr freundliches, faltiges Gesicht schien immer weniger zu dem zu passen, was sie sagte: »Du?«, so trat sie an einen jungen Mann heran. »Was ist mit dir passiert?« Sie riss seinen Arm in die Höhe, drehte die Handinnenfläche zur Gruppe hin: »Wie lange hast du in deine Versicherung eingezahlt?« Sein Flüstern, seine Antwort wiederholte sie: »Monatlich. Hört ihr? Monatlich hat er in die Versicherung eingezahlt. Wer hat ihm den Aufenthalt im Krankenhaus bezahlt, als er von einem Gerüst gefallen ist?« Die Menschen, die um den Angesprochen herum saßen, begannen ihm über den Kopf zu streichen, ihm auf den Rücken zu klopfen, sie betrachteten die hochgehaltene, von Verletzungen überzogene Handinnenfläche.

Marguerite beugte sich über den Jungen, es war so ruhig, dass man ihre Stimme auch ohne Mikrofon gehört hätte: »Und deine innere Stimme? Was sagt sie?« Auf das Murmeln hin, das vom Mann am Boden kam, der schwer atmete, den Blick gesenkt hielt, ließ sie seinen Arm los, ging vor ihm auf die Knie, hob seinen Kopf, sah ihn zärtlich an, beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Nickte er? Sie schnellte wieder in die Höhe: »Ja, das sagt ihm seine innere Stimme: dass es nicht gerecht ist.«

So ging das dahin: »Und du?« Sobald sie das Wort an einen der versammelten Menschen richtete, zitterte dieser, oder er nickte, oder er schaute erwartungsvoll drein, mancher schluchzte sogar auf. »Wo bist du geboren? Hast du dir ausgesucht, gerade dort geboren zu sein? Du da? In einer Lehmhütte? Hast du darum gebettelt, in die ärmste Familie deines Dorfes hineingeboren zu werden? Hast du mit abgestimmt, als entschieden wurde, dass deine Eltern die und die Hautfarbe haben sollten? Dass deine Eltern mit dir auf dem Rücken aufbrechen würden, um ihr Glück zu suchen? Du da! War es gewollt, dass die Mutter von dem dort bei seiner Geburt gestorben ist? Weshalb hört ihr nicht auf eure innere Stimme? Was sagt sie euch?«

Große Sonnenbrillen waren auf sie gerichtet, in manchen der schwarzen Gläser spiegelte sich das Licht, man konnte nicht sehen, wen oder was die Träger musterten, ob sie Marguerite ansahen oder jemand anderen, der es gar nicht merkte.

Es gab ja viel zu schauen: die Leute, ihre Kleidung, die Fäden in den Turbanen, die Flecken auf Baskenmützen und Stoffbändern, die Ränder der Schatten, die ihre Kappen mit den Schutzschirmen auf Nasen und Wangen warfen. Hatten sie absichtlich ihre Gesichter vermummt? Nur wegen der Sonne oder aus anderen Gründen? Kapuzenpullis, Hüte, fettiges Haar, Gel in den Borsten eines Irokesenschnitts, die Muster der Stoffe, und dazwischen Marguerite, die auf und ab ging, sie selbst unverhüllt, ohne das schwarze Tuch, das er von den Fotos kannte.

Die Möwen schrien immer wieder auf, wenn zwischendurch der Applaus anschwoll, beruhigten sich danach wieder, zogen weiterhin stumm ihre Kreise über der Menschenansammlung und dem LKW, aus dem immer mehr Buntes von den braunen Decken her blinkte. Die Blüten und Blätter hatten sich teils ineinander verhakt.

»Wir bleiben dabei!«, rief die Rednerin plötzlich besonders laut, und dann dieser Lautstärke entsprechend heftige Dinge, die begannen mit: »Ihr wisst es doch!«, die weitergingen mit »Die Freiheit des Menschen, sein Leben zu lieben!«, die sich noch steigerten: »Die Freiheit, sein Leben zu retten!«, bis zu einem letzten Ausruf: »Diese Freiheit ist die elementarste und gilt für alle gleichermaßen!«

Daniel bekam gegen seinen Willen eine Gänsehaut, dabei war ihm die Aussage in ihrer Banalität, vor allem aber die Leidenschaft, mit der sie vorgetragen wurde, peinlich. War das nicht bloß die Bestätigung der offiziellen Losung des Landes, die auf Ausweise, auf Briefmarken und Münzen, sogar auf Eintrittskarten öffentlicher Museen gedruckt war?

In die Transitzone

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