Читать книгу In die Transitzone - Elena Messner - Страница 9
ABMACHUNG
Оглавление»Was willst du?« Hinter ihr standen mehrere Frauen, sie alle hatten ihr Haar streng zurückgebunden und tauschten mit den Besuchern Wangenküsse aus, ohne dabei zu lächeln, kaum dass sie überhaupt eine Miene verzogen. Mit einigen Männern, die verspätet hereinkamen, stießen sie zum Gruß nur die Fäuste kurz aneinander. Es stank nach Schweiß und Zigaretten. Bakary hob die Arme, abwehrend, fast entschuldigend: »Etwas mit dir besprechen, Malika.«
Er sah sich um, einige der Frauen folgten seinem Blick: »Ist Hakim hier?«
Eine Zeit lang blieb es still. Eine der Frauen, die weit auseinanderliegende Augen hatte, trat zur Seite, als Malika einen Schritt zurück machte, ihre Arme ausbreitete und in mehrere Richtungen deutete: »Siehst du ihn irgendwo?«
Sie schaukelte ihren dünnen, leicht gekrümmten Oberkörper dazu, unruhig. Als sie ihnen kurz den Rücken zukehrte, war an ihrem Hinterkopf das zu vielen Zöpfen geflochtene Haar zu sehen und eine kleine kahle Fläche dazwischen, wo die braune Haut hervorblitzte, die sich dann in ihrem Nacken und auf den Schultern fortsetzte, nur abschnittsweise von einem T-Shirt verdeckt. Irgendetwas störte Daniel an ihr, vielleicht bewegte sie sich auch nur zu viel.
»Siehst du nicht, dass wir Besuch haben?«, Bakary deutete auf ihn. »Der da ist neu in der Stadt.« Ihr Nicken war schamlos gleichgültig, statt ihn zu begrüßen, sagte sie nur gelangweilt zu Bakary: »Hab ich nicht gesehen«, dann ungeduldig: »Lass mich raten? Es ist wieder wegen einer Verabschiedung?«
Es folgten Berichte, Einwände und Bitten, ein paar Fragen: Wie viele Tote? Hinweise auf deren Herkunft? Darauf, woher das Boot kam. Wie es zum Schiffbruch gekommen war. Während sie die Details ausmachten, brachte man ihr einen Kaffee, und gerade als Bakary ein Problem mit dem Transport ansprach, fragte sie, wo der Zucker sei, dabei sah sie an ihm und auch an Daniel vorbei, der sich auf einen Barhocker gesetzt hatte und über der Theke lehnte. Fast direkt vor seiner Nase stand ein Basilikumstrauch in einer bunten Keramikschale, einzelne Blätter waren verwelkt, gräulich und trocken, andere immer noch hellgrün. Er beobachtete von seinem Platz aus alles reglos. Auch Bakary sah jetzt verärgert über Malika hinweg auf etwas an der Decke, als wüsste er, dass es während der Unterbrechung keinen Sinn habe, weiter nachzufragen. Und so schwiegen alle. Nachdem man ihr ein einzelnes Stück Zucker gebracht hatte, rührte sie langsam im Kaffee, danach erst reagierte sie auf die ihr gestellte Frage, abweisend und knapp: Den Transportweg werde sie freihalten. Sie diktierte einer der Frauen den Text für eine kurze Presseaussendung, dann ging es hin und her: Das Material vom letzten Mal?, sei noch im Keller, Musik oder nicht bei der Verabschiedung?, wie viele Reden?, das sei zu viel, das werde kaum möglich sein, sie könne für nichts garantieren.
Die Frauen hinter ihr schauten abweisend drein. Die mit den auseinanderstehenden schwarzen Augen trat immer wieder einen Schritt näher an Daniel heran, verschränkte die Arme, trat wieder zurück. Selbst im dunklen Licht des Lokals zog sie alle Blicke auf sich. Im Hintergrund hingen die Bilder zerstörter Städte, daneben einige an den Rändern klebrig wirkende, abblätternde Plakate, eines davon halb auseinandergerissen, das andere teilweise übermalt; eine Afrika-Karte mit eingezeichneten Routen, darauf das Logo einer Organisation, dem jemand zwei rot ausgemalte Teufelshörner aufgesetzt hatte. Aus den Lautsprechern hinter der Theke war eine Arabisch sprechende Radiostimme zu hören, ein Ventilator drehte sich neben schmutzigen Gläsern auf der Theke im Kreis.
Bakary sagte jetzt etwas an dem Ort unpassend Zärtliches zu Malika, sie rührte sich nicht, wirkte zerstreut, unkonzentriert, es war eine Spannung zwischen den beiden, fast als sähe man ein Flimmern. Zum Glück kicherte niemand, auch wenn einige der Frauen es sich kaum verkneifen konnten. Erst einige Augenblicke später, als hätte sie sich tatsächlich in Gedanken an diese Zärtlichkeit verloren, meinte Malika, das klinge zwar nett, bringe ihr aber nichts, dazu streckte sie ihre Hand aus und machte eine auffordernde Geste, gleich mehrmals hintereinander.
Man holte Flaschen, Gemüse- und Obstkörbe, einige Schachteln Aspirin, weitere Plastiksäcke und einen Karton mit mehreren Stangen Zigaretten aus den vor dem Lokal geparkten Autos und übergab alles den Frauen. Die schienen zufrieden, es gab nichts zu kommentieren. Als das Telefon auf der Theke klingelte, reichte man Malika den Hörer, sie sagte: »Ja?« Ein Augenblick kurzer Stille trat ein, bis sie fragte: »Was?« Dann schwieg sie erneut, antwortete nur: »In Ordnung« und legte auf.
Alle redeten jetzt durcheinander, bis Bakary unterbrach: »Das ist wirklich nicht wichtig, wir müssen los!«, und Malika zum Abschied betont beiläufig auf beide Wangen küsste. Beim Hinausgehen drehte er sich aber noch mal zu ihr um und sagte: »Du weißt doch: Die Leute erwarten etwas.« Als rumorte doch die Angst in ihm, nachlegen zu müssen, wandte er sich kurz vor der Tür an Daniel, der mit ihm hinausgehen wollte: »Du bleibst hier und hilfst ihnen.«
Danach ging er weg.
Daniel ließ sich befehlen, ohne viel zu fragen und ohne viel gefragt zu werden. Mikrofonständer, Verstärker und mehrere Kabelrollen trug er aus dem Keller des Lokals hoch und stellte sie im Raum ab. Er stieg sicher mindestens dreimal die Holztreppe hinab und wieder hinauf, setzte sich dann auf die Couch im hinteren Teil des Barbereichs, um durchzuschnaufen. Das gesamte Lokal war schon vollgestellt mit Geräten, er und ein paar Frauen warteten eine Zeit lang, bis ein paar der Schlepper zurückkamen, um die Boxen und Ständer wegzubringen. Man befahl, diktierte, rief sich zu, redete durcheinander, mehrere Telefone läuteten gleichzeitig: »Den Gerichtsmediziner informieren und einen Polizeifotografen vorbeischicken!« – »Wir sollten herausfinden, wer sie waren.« – »Das Boot ist in Sirte gestartet, so viel wissen wir bislang.« – »Die Behörden in Libyen haben wir in der Datenbank. Und dreizehn Organisationen kooperieren dort mit uns. An Amnesty auch? Das Flüchtlingswerk? Wer ist dort aktiv?« – »Vielleicht waren sie davor woanders.« – »Haben wir Kontakt zu einem Antirassismusbüro oder einem betreuten Lager?« – »Die Fotos sollten trotzdem hingemailt werden.« – »Da musst du telefonieren.« – »Ans Innenministerium schreibst du persönlich?« – »Heute nachmittag.« – »Fotografiert werden sie noch, bevor sie hingebracht werden.« – »Man hat keine Pässe und Ausweise gefunden.«
Die Stimmen um ihn herum wurden langsam zu einem unverständlichen Murmeln, das er nur noch an der ihm fremd gewordenen Oberfläche seines Bewusstseins wahrnahm, es vergingen Stunden oder Minuten.
Diese Müdigkeit, dazu die Schwüle, er musste wohl eingeschlafen sein.
Man zog ihn von der Couch hoch. Was sollte dieses Drängeln, er stand ja schon, er ging ja schon, er konnte das schon selbst, »Verstehst du uns?«, der Geschmack in seinem Mund war unangenehm, und er spürte seine Arme nicht, sie waren taub geworden, als sein Kopf darauf lag. »Der versteht uns nicht.«
Nach einem Türknallen auf einmal die große Helligkeit. Er stand wieder auf der Straße, die Sonne brannte, der LKW und die Autos waren fort, man klopfte ihm auf den Rücken, und aus den grellen Bildern vor seinem Auge entstand die heiße Stadt, durch die ihn eine Gruppe von Menschen mitzog. Jemand reichte ihm Wasser, er trank im Gehen.
Einmal gut essen und dann ausschlafen wäre fein gewesen.
Sie gingen an einstöckigen Häusern und kleinen Stadtvillen vorbei, eine Steintreppe hoch, bis sich der Blick auf einen Hügel und eine Kathedrale öffnete. Kinder kletterten auf den Stufen herum und wurden von Frauen in schwarzen Kopftüchern angetrieben: »Lasst den Blödsinn!«
Der Hügel war mit Hunderten Menschen gefüllt, Motorroller und Fahrräder standen dazwischen oder waren ins Gras gelegt worden, da war auch der Laster mit den Toten, er hätte ihn fast nicht wiedererkannt, so übertrieben bunt geschmückt mit Tüchern, Blumenimitaten aus Plastik und kleinen Palmenzweigen. Die Reifen rollten über Straßenunebenheiten, dann über Gras, das zu dieser Jahreszeit einen Gelbstich hatte; die Erde auf dem Hügel war trocken. Im LKW sah er Bakary sitzen, der jetzt eine große Sonnenbrille trug und ein paar Worte in seine Richtung schrie.
Daneben gingen mehrere Frauen in langen weiten Gewändern, auch sie bunt geschmückt, mit Blumen und Zweigen im Haar, sie trugen große Körbe mit noch mehr Blumen und Tücher um den Hals. Bei dieser Hitze? Der Schweiß tropfte ihnen von Wangen und Kinn. Unter ihnen entdeckte er auch Malika, sie lief umher und gab Anweisungen. Dem improvisierten Leichenwagen hinterher ging eine weitere kleine Gruppe mit Blasinstrumenten, und hinter ihren Füßen rollten Kiesel den Weg hinab, sie wurden schneller und schneller, das erweckte den Eindruck, als löste sich die steinerne, heiße Oberfläche von der Erde ab.
Der Laster stoppte neben einer kleinen Bühne, und die Frauen machten sich daran, die Tür zum Laderaum zu öffnen. Wie erwartet lagen darin die Toten unter den braunen Decken, noch genauso aufgestapelt, wie er es an der Küstenstraße zuletzt gesehen hatte. Die Menge wuchs weiter an, Daniel wurde weggedrängt, mehrere Frauen positionierten sich neben den offenen Ladetüren, blieben fast bewegungslos stehen, sie sahen mit ihren Blumenkörben wie bewaffnete Wächterinnen aus.
Säuglinge, die über ihre Mütter und Väter krabbelten, oder kleine Kinder, die übereinanderkugelten, übermütig, niemand hinderte sie daran. Ein Mann fächelte sich mit seinem Hemd Luft zu, eine Frau verteilte Werbezettel für dieselben Buchtitel, die schon am Vorabend in der Bar beworben worden waren, »Erschlagt die Armen!«, »Die bleichen Füchse« und noch einige mehr. Mehrere Uniformierte spazierten zwischen den Menschen umher, nickten allen zu, jetzt erkannte er den kahlköpfigen Schwarzen, ein Gewehr hing ihm über der Schulter. Der hatte gestern in der Bar aber viel finsterer ausgesehen. Er schwitzte stark, schaute ernst drein, begrüßte nur ab und an einige Bekannte, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, nickte, stellte ein paar Fragen oder wurde etwas gefragt. Er war groß in der Menge.
Der Lärm stieg rasch an, die Hitze auch, alles schien zu glühen, die Menschen, die Gegenstände, der felsige Grund. Daniel arbeitete sich wieder näher zur Bühne und zum LKW vor, doch die Menge hielt ihn weiterhin von den Ladetüren fern. Ein älterer Mann drückte ihm mehrere Anstecker in die Hand, dazu eine Schildkappe mit Aufdruck. Strengte ihn das alles nur so sehr an, weil er nicht ausgeschlafen war? Dieser Säugling auf dem Rücken seines Vaters, wie nervtötend er unweit von ihm loswimmerte, auf der Holzbühne trampelten Frauen und Männer hin und her, zerrten an Kabeln, riefen durcheinander, drehten an Knöpfen. Die Welt dröhnte grässlich, bis jemand ein Kabel umsteckte.
Ein Mann rief Malika eine Bitte zu, sie rief von der Bühne herab zurück: »Darum kann ich mich jetzt wirklich nicht auch noch kümmern«, und bekam als Antwort ein wütendes: »Knastschwester«, dann unterdrückte Flüche und böses Kichern, woraufhin sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste und in seine Richtung rief: »Verschwinde!«
Ihr Körper bog sich vor und zurück. Sie schien sich zu ärgern, oder war es etwas anderes?, jedenfalls blickte sie immer wieder unruhig in die Menge und vor allem zum LKW, schaute sich dann erneut um, als warte sie auf etwas oder könne sich nicht entscheiden, anzufangen.