Читать книгу Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/Spanisch) - Elena Schäfer - Страница 15
3.2 Wahrnehmung als komplexer Prozess: Selektionsmechanismen und Aufmerksamkeitslenkung
ОглавлениеIn Ergänzung zu den Überlegungen des vorangehenden Kapitels geht die kognitive Theorie des multimedialen Lernens nach Mayer (2001, 43) davon aus, dass die Rezeption und Verknüpfung audiovisueller Inhalte dreierlei Maximen unterliegen. Diese umfassen die Prinzipien der dualen Kodierung, die eines begrenzten Arbeitsspeichers und die der aktiven Informationsverarbeitung.
Mayers Theorie basiert auf der Annahme, dass sprachliche und bildliche Informationen gemäß ihrer Sinnesmodalität automatisch getrennt voneinander aufgenommen werden, wobei Wörter im Gegensatz zu Bildern sowohl über die Augen als auch über die Ohren wahrgenommen werden können. Folglich können die Sinneskanäle durchaus interagieren. Dies ist etwa der Fall bei in Bildern oder Filmen auftauchenden Schriftzügen, deren Repräsentation zunächst anhand des visuellen und schließlich anhand des auditiven Kanals erfolgt. Gleiches gilt für erfahrene Lerner bei der mentalen akustischen Artikulation visueller Reize und vice versa.
In diesem Zusammenhang spielt die begrenzte Kapazität des menschlichen Arbeitsspeichers eine wichtige Rolle. Mit Verweis auf die cognitive load theory schreiben Wissenschaftler wie Baddeley, Chandler und Sweller unserem Gehirn ein limitiertes Maximum an Informationsverarbeitung pro Sinneskanal zu. Infolgedessen werden die eingegangenen Informationen einer Selektion unterzogen. Bei der Selektion handelt es sich um einen aktiven Prozess, bei dem relevante Informationen herausgefiltert werden. Der Abgleich und die Organisation bereits vorhandener bzw. gespeicherter Informationen mit neuen Reizen mündet in der Integration bildlicher und sprachlicher Konzepte. Ziel ist die mentale Repräsentation und Konstruktion kohärenter Sinneinheiten unter Rückgriff auf Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Sie gelten als Voraussetzung für erfolgreiches Lernen (cf. Mayer 2001, 46sqq.).
Die beschriebenen Vorgänge können dem von Mayer (2001, 44) entwickelten Modell zur kognitiven Theorie multimedialen Lernens, ebenfalls bekannt als S-O-I Modell (Selection – Organization – Integration), nachempfunden werden (cf. Abb. 7). Sie wiederholen sich viele Male während der Rezeption audiovisueller Medien.
Abb. 7: Theorie multimedialen Lernens nach Mayer (2001, 44)
Dass es sich bei der Wahrnehmung um einen komplexen und produktiven Prozess handelt, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass höhere Verarbeitungsprozesse in Form von Korrekturmechanismen vermutlich versuchen, Merkmale und Eigenschaften, die bei der visuellen Informationsübertragung verloren gingen oder verändert wurden, nachträglich wiederherzustellen. Dies hängt zum einem mit der eigenen physischen Raumposition und Schwerkraftwirkung zusammen, zum anderen mit der Informationsübertragung auf das Netzhautbild (cf. Kebeck 1994, 164).
Fest steht, dass gerade bei der Wahrnehmung uneindeutiger Reizvorlagen (wie etwa einer unleserlichen Handschrift) der unmittelbar gegebene Kontext eine entscheidende Rolle für die Interpretation spielt. Aber auch sonst haben unser Vorwissen bzw. unsere gewohnte Kontexterwartung und -erfahrung einen erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung. Hintergrund ist der, dass wahrgenommene Bildinformationen Hypothesen stimulieren, die mit unseren bisherigen Erfahrungen abgeglichen werden, sodass aus den visuellen Reizen schließlich plausible Schlüsse gezogen werden können.
Dies führt sogar so weit, dass fehlende oder fehlerhafte Elemente des Bildinhalts vom Gedächtnis durch Kontextwissen ergänzt, vernachlässigt oder übergangen werden. Die visuelle Datenverarbeitung unterliegt demzufolge neben der Korrektur auch der Selektion und kognitiven Prozessen der Interpretation (cf. ibid. 196sqq.). Besonders deutlich werden die genannten Korrekturmechanismen bei optischen Täuschungen. Betrachtet man die folgende Abbildung, ist unklar, wie viele Beine der dargestellte Elefant hat, obwohl der Rückgriff auf unser Weltwissen eine klare Anzahl an Beinen vorsieht (cf. Abb. 8).
Abb. 8: Optische Täuschung: Wie viele Beine hat der Elefant? (Mißfeldt 2012, http://www.sehtestbilder.de/optische-taeuschungen-illusionen/, 20.3.2013)
Ein erfolgreiches Dekodieren und Interpretieren visueller Reize setzt gleichermaßen voraus, dass bei informationsreduzierten Bildern ausreichend charakteristische Merkmale erkennbar sind, anhand derer auf das Ganze geschlossen werden kann. Im Gegensatz dazu werden bei visueller Reizüberflutung in der Regel nur die Elemente gespeichert, die dem Betrachter interessant und neuartig erscheinen. Aufmerksamkeitserregend sind daher vor allem ungewöhnliche Montagen aus Bildern und/oder Texten, die ihrem herkömmlichen Kontext entrissen wurden, aber dennoch einen Bezug zur eigenen Lebenswelt aufweisen (cf. Sass 2007, 6).
Das Erstellen ungewöhnlicher und irrealer Bildkompositionen ist insbesondere durch Computerprogramme möglich. Oftmals wirkt das Endprodukt so authentisch, dass unklar ist, ob wir unseren Augen trauen können oder ob ihnen ein Streich gespielt wird. Dies gilt für Standbilder, aber auch für animierte Videoproduktionen (cf. Abb. 9).
Abb. 9: Wolkenreiter (N.N.)
Etwaige Techniken der Bildverarbeitung und -manipulation werden insbesondere in der Werbung angewandt, um die Blicke der Zuschauer zu gewinnen. Dabei handelt es sich um ständig wechselnde Reize, wie etwa häufige Schnitte, spezielle Kameratechniken und dynamische Darstellungen seitens der Akteure, die unseren Orientierungsreflex maßgeblich steuern. Im Vergleich zu Texten und Bildern „zeichnet sich […] nur das Filmverstehen durch ein Maximum an Verstehensökonomie und gleichzeitiger Reizabwechslung aus“ (Weidenmann 1988, 94). Die Verarbeitung gemäß dem Prinzip des geringsten Aufwandes ergibt sich aus dem hohen Grad an Stimulation, dem unsere Wahrnehmung ausgesetzt ist.
Für unser Gehirn stellen die genannten Korrektur- und Selektionsmechanismen kaum eine Herausforderung dar, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: „das [konzeptgesteuerte] Zusammenspiel von Bildfragmentierung und Bildergänzung gehört für uns zur Routine visueller Alltagskommunikationen“ (Schrader 1998, 32).
Ähnliches gilt für den bei Film und Video parallel zum Sehverstehen stattfindenden Hörprozess. So erfolgt die Bedeutungskonstruktion des Gehörten ebenso durch datengesteuerte top-down und konzeptgesteuerte bottom-up Prozesse. Ihr Zusammenspiel charakterisiert sich zum einen durch den Rückgriff auf Vorwissen und den situativ gegebenen Kontext, zum anderen durch die Analyse und Semantisierung linear abfolgender sprachlicher Signale (cf. Grünewald/Küster 2009, 170).
Hinsichtlich der Aufmerksamkeit des Betrachters wird im Wesentlichen zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit unterschieden. Willkürliche Aufmerksamkeit meint das interessengesteuerte intentionale Hinwenden zu Sachverhalten, Themen und Gestaltung, die die Neugierde des Einzelnen wecken. Stoßen wir dagegen auf unerwartete Reize unserer Umwelt, deren Gestaltung durch grelle Farben oder ungewöhnliche Elemente unsere Beachtung findet, ohne dass der Inhalt von persönlichem Belang ist, spricht man von unwillkürlicher Aufmerksamkeit (cf. Sass 2007, 6).
Natürlich kann nicht alles, was wir wahrnehmen, auch aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. Dementsprechend unterscheidet man in der Fremdsprachendidaktik zwischen dem von außen auf uns einwirkenden Input und dem, was davon verstanden wurde – dem Intake. Bezogen auf das Medium Film umfasst der Begriff des Inputs alle fremdsprachlichen Artikulationen und Beiträge – ungeachtet dessen, ob sie vom Lernenden verstanden wurden oder nicht. Die Bezeichnung Intake beschränkt sich dagegen auf diejenigen Elemente, die vom Rezipienten verstanden wurden und seinen sprachlichen Lernprozess beeinflussen. Bedingt durch die Tatsache, dass selbst kurze Videosequenzen über einen hohen Grad an verbalem sowie nonverbalem Input verfügen, fördert das Zusammenspiel von Bild und Sprache den Übergang vom Input zum tatsächlichen Intake (cf. University of Texas at Austin 2010).