Читать книгу In die Weite leben - Elena Schulte - Страница 23

»Wahrheiten« des Lebens: nicht immer leicht zu durchschauen

Оглавление

Oftmals bemerke ich über die ganz konkreten Baustellen meines Lebens hinaus noch zusätzlich allgemeine »Wahrheiten«, die das Leben mich lehrt und die auf alles Einfluss haben. Jedenfalls will das Leben mich diese »Wahrheiten« glauben lassen.

Da wäre zum Beispiel »Man bekommt nix geschenkt« oder »Wer ganz vorne mitspielen möchte, muss da erst mal hinkommen«. Und schwups, beginnt der Motor in mir zu brummen und lässt mich kämpfen und ringen. Ich schaue andere Menschen und ihre Leben an und bemerke im Vergleich: Ich stehe ihnen (zumindest von meiner Warte aus gesehen) in so manchem nach.

»Chancen verstreichen, wenn ich sie nicht ergreife« ist noch so eine Wahrheit. Sicher richtig – aber auch nicht gerade befreiend. Denn es gibt tausend Chancen. Ich muss jeden Tag x-mal wählen und weise Entscheidungen treffen. Alles geht nicht. Aber wie treffe ich die richtige Wahl? Welche Chancen lasse ich getrost verstreichen, welche Chancen ergreife ich? Und wie gehe ich mit den Chancen um, die ich besser ergriffen hätte, die mir aber durch die Lappen gegangen sind? Ergibt sich eine solche Chance vielleicht noch mal – und bin ich gefordert, einen Fehler nicht zu wiederholen?

Bei allem scheint die Zeit gegen mich zu arbeiten. Ich werde nicht jünger. Jugendlichkeit, Kraft, Esprit, Schwung verfallen. Lebensumstände werden eingefahrener. Heute noch einmal für ein Jahr um die Welt zu reisen würde sich als deutlich herausfordernder gestalten, als es nach dem Abi gewesen wäre. Akzeptiere ich Grenzen, die sich durch den Lauf der Dinge in meinem Leben ergeben? Oder kämpfe ich gegen sie, weil es sich lohnt, sich nicht zu früh zu ergeben?

Die Masse der heutigen Möglichkeiten spielt mir dabei nicht gerade in die Karten: Ja, es ist ein Segen, wie viel ich erleben und erreichen kann – aber es ist gleichermaßen auch ein Fluch. Es kommt vor, dass ich mein Leben anschaue (in dem ich nicht wenig erreicht und nicht wenig erlebt habe) und es mich fast fertigmacht, was ich vermutlich nie erleben werde. Da gibt es Leute, die die ganze Welt bereist haben, die Berufe erlernt haben, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie gibt, die völlig abgefahrene Lebenskonzepte gewählt haben, die wahnsinnige Projekte ins Leben gerufen haben, die tolle Ämter innehaben, die große Erfolge erzielt haben, die unglaubliche Erfahrungen gemacht haben, die schier unmögliche Ziele erreicht haben. Unzählige Blogs, Instagram-Accounts und Facebook-Seiten gewähren mir faszinierende und bisweilen sehr einschüchternde Einblicke. Und dann muss ich mir eingestehen, dass ich keine von ihnen bin. Dass das meiste bei mir (zumindest mit meinen Augen betrachtet) maximal oberen Durchschnitt erfüllt. Aber kann ich mich damit zufriedengeben? Glücklich werden? Ist das meine Bestimmung, meine Berufung – und wenn ja: Finde ich ein Ja zu ihr, auch wenn ich mir mein Leben spektakulärer wünsche? »Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie sind«, soll Charles-Louis de Montesquieu gesagt haben.8 Ist mir vom Kopf klar, will mein Herz aber nicht so leicht glauben.

Angestachelt durch diese Gesetzmäßigkeiten meines Lebens entsteht in mir dann eine innere (oder bisweilen auch äußerliche) Unruhe, dass ich etwas verlieren könnte, dass ich zu spät sein könnte, dass ich etwas verpassen könnte, dass ich den Kürzeren ziehen könnte. Natürlich ist mir das mitten im Alltag oft nicht präsent und beschäftigt mich nicht unentwegt. Aber viele dieser Fragen, Kämpfe und ungeklärten Themen schwingen unbewusst mit oder versetzen mich in eine unbestimmte Getriebenheit. Ich verliere noch mehr meine Gelassenheit und das Vertrauen in Gott, dass er mich und meine Bedürfnisse im Blick hat. Manchmal macht sich sogar fast ein bisschen Panik breit. Das Ergebnis: Ich renne und renne und renne weiter und weiter.

Mit anderen Worten: Ich befinde mich mitten im Kampf.

In die Weite leben

Подняться наверх