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Uns fehlt die Gelassenheit

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Und damit sind wir auch schon beim zweiten Problem: Wir behalten keinen kühlen Kopf. Keinen gesunden Abstand. Wir lassen uns hinreißen, vorschnell Dinge zu tun oder nicht zu tun, die wir mit ein bisschen Nachdenken anders viel besser hätten handhaben können.

Manches müsste nämlich durchaus nicht im Chaos oder Krieg enden. Vieles ließe sich entspannter und unkomplizierter lösen. Aber das würde erfordern, dass ich selbst mich entspanne. Die Waffen wieder einpacke. Bis zehn zähle und dabei tief durchatme. Mich und auch den Rest nicht ganz so ernst und vielleicht auch nicht so wichtig nehme. Aber warum will das in der Praxis in vier von fünf Fällen nicht klappen? Was lässt uns so verkrampft sein und nimmt uns die Gelassenheit? So schön ist Kämpfen doch gar nicht, dass ich es wirklich dauernd bräuchte …

Letztendlich ist es das fehlende Wissen um meine wahre Identität, meinen wahren Wert und meine wahre Bestimmung. Würde ich zutiefst davon überzeugt sein, dass ich ein bedingungslos von Gott geliebter Mensch bin, dass ich mir keinen Wert verdienen muss oder kann und dass Gott immer umfassend für mich sorgt, könnte ich im Angesicht meiner Angreifer erst mal gelassen einen Liegestuhl auspacken und eine Runde relaxen. Sogar eine lebensbedrohliche Diagnose oder ein Schicksalsschlag würden an Schrecken verlieren, weil ich trotz allem sicher sein könnte, dass ich geliebt und umsorgt bin und dass Gott nichts zulässt, was er nicht zuvor auf seinen Segenswert für mich geprüft hat. Auch wenn das in manchen Situationen mehr als schwer zu glauben ist!

Doch wenn ich glaube, dass meine Identität und vor allem mein Wert antastbar sind, dass ich mir meine Daseinsberechtigung und meinen Platz im Leben immer wieder erarbeiten und sogar erkämpfen muss, dass ich viel zu viel verpassen könnte und dass ich mir der Güte und Versorgung Gottes niemals umfassend sicher sein kann, treibt mich das ständig an, dann verkrampfe ich und bin das genaue Gegenteil von gelassen. Schnell bekomme ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft, dass meine Ressourcen wie Kraft, Geld oder Möglichkeiten zu begrenzt sind, um mich an meine Ziele zu bringen, und dass meine Konkurrenz viel zu übermächtig ist, als dass ich als etwas Besonderes hervorstechen könnte.

Ich glaube der Lüge, dass ich erst dann endlich zufrieden bin, wenn ich zu den Schönsten, Erfolgreichsten, Beliebtesten zähle. Ich erliege der Versuchung, für meine eigene Sicherheit und mein eigenes Wohl zu sorgen, damit ich mich endlich entspannen kann. Ein zerbrechliches Fundament – wie lange kann ich diesen Status halten, sollte ich ihn überhaupt je erreichen? Ich fange an, alles als Bedrohung wahrzunehmen, und Bedrohungen muss man niederringen. Ich kann auf keinen Fall zulassen, dass ich vielleicht ungerecht behandelt oder übervorteilt werde. Oder dass ein Umstand meine wackelige Sicherheit ins Wanken bringt.

Und auch etwas anderes mag mein Herz kaum glauben oder sich zumindest nicht drauf verlassen: Das, was Gott für mich vorbereitet hat und mir schenken will, ist alles, was ich brauche. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer ganz lieben Herzensfreundin9. Ich klagte ihr mein Leid über mein derzeitiges Leben, dass die Kinder und die Umstände so viel Raum einnehmen und mir so wenig Zeit zur freien Verfügung bleibt, dass ich mit all meinen Aufgaben hinterherhänge, dass ich meine Pläne nicht in die Tat umsetzen konnte und dass ich mich irgendwie dauernd vergessen fühle. Sie brachte mir viel Verständnis entgegen und fragte mich dann aber ganz ehrlich, ob ich auch in solchen Zeiten Psalm 23 Glauben schenken könne: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!« (LUT). Tja. Gute Frage. Kann ich das glauben? Dass mir nichts fehlt, wenn ich annehme, dass Gott mich gut versorgt? Dass er mich an die Wiesen und die Quellen führt, die meinen Hunger und Durst tiefer stillen können als alles, was ich je selbst finden kann? Auch wenn das vielleicht nicht all das umfasst, was ich mir vorgestellt hatte? Wenn am Ende des Tages immer noch offene To-dos und Wünsche auf meiner Liste stehen? Und wenn ich mich vom Leben überrollt fühle? Kann ich dann angesichts der Güte und der Versorgung Gottes trotz aller meiner scheinbaren Mängel und Unzulänglichkeiten ruhig und gelassen werden?

In einem Lobpreislied bekennen wir:

Wenn die Meere toben, Winde wehn, werd ich mit dir übers Wasser gehen.

Du bist König über Wind und Flut.

Mein Herz wird still, denn du bist gut.10

Gott ist gut. Nicht nur, wenn die Sonne scheint und der Kaffee heiß und lecker ist. Auch im Sturm, im Regen und wenn die Wellen und das Chaos über unserem Kopf zusammenschlagen. Ist das ein Lippenbekenntnis oder eine Glaubensüberzeugung? Theoretischer frommer Wunsch oder fester Grund, auf dem ich stehe? Denn wenn mein Kopf, mein Herz und mein Körper das glauben, dann könnte doch alles in mir in dem Wissen um diesen meinen Gott zur Ruhe kommen! Oder bleibe ich getrieben und kämpfe, weil ich letzten Endes lieber selbst bestimmen möchte, was ich haben will, anstatt mir das schenken zu lassen, was ich haben soll …?

Sich im Angesicht eines Kampfes trotz aller widrigen Umstände entspannen zu können – wie schön wäre das. So wünschenswert. So erstrebenswert. Aber doch so unrealistisch. Denn im Kampf gibt es Gewinner und Verlierer – und ich möchte so gerne Gewinner sein. Dieser Wunsch treibt mich und wirkt aller Ruhe und Gelassenheit entgegen. Ich will es richtig machen. Die richtigen Antworten finden und leben. Die richtigen Entscheidungen treffen und umsetzen. Von mir und anderen anerkannt sein. Erfolgreich sein. Zufrieden sein. Glücklich sein. Und vieles mehr.

Nun bleibt die Frage, ob unsere Definition von »gewinnen« sich mit dem deckt, was Gott als wirklich lohnenswerte Ziele in diesem Leben sieht. Dazu werde ich später im zweiten Teil dieses Buches noch einiges schreiben (»Ich brauche eine Strategie. Oder: Lieber lassen und endlich tun!«). Außerdem ist es unumgänglich, danach zu fragen, wie unser ursprüngliches Lebensland eigentlich beschaffen und erdacht war. Hatte Gott all diese Kämpfe und Schlachten für uns vorgesehen? Oder kamen sie erst später hinzu – und wenn ja, warum halten sie bis heute an? Und um dies zu klären, müssen wir uns erneut auf die Reise machen und zeitlich eine ganze Ecke eher beginnen …

In die Weite leben

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