Читать книгу Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste - Elfriede Jahn - Страница 8

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Ein Tag wie jeder andere

Bis zu dem Tag, mit dem unsere Geschichte beginnt, hatte Mary, unsere Heldin, beinah unberührt von der großen weiten Welt, in einem kleinen Dorf in Cornwall, nennen wir es Lysardh Fount, gelebt. Das Dorf zog im Sommer viele Touristen an und auch Filmteams. Doch das war die Ausnahme. Den Rest des Jahres schien der schnelllebige Zeitgeist Lysardh Fount zu verschonen. Das Dorf lag nahe Land’s End, nicht weit entfernt von Lizard Point, wo das sagenhafte Lyoness untergegangen sein soll. Dessen Kirchenglocken, sagen die Einheimischen, könne man bei rauem Wetter unter Wasser läuten hören.

„Es ist wirklich wahr“, sagte Doff zu Mary, während Larry wie zumeist skeptisch dreinschaute.

Mary lachte. Doff und Larry waren ihre besten Freunde und selten einer Meinung. Sie saßen am Strand von Lysardh Fount, der nur über einen schmalen Pfad durch steil abfallende Klippen erreichbar war. Doff war der Jüngste von ihnen, gerade fünfzehn geworden, ein dicker, rothaariger Junge mit gutmütigen braunen Augen. Seine Familie, die im Norden Cornwalls lebte, war sehr arm. Sein Vater vertrank das Geld, das er als Bauarbeiter verdiente, weshalb seine Mutter, die fünf Kinder durchzubringen hatte, als Bedienung arbeiten musste. Niemals hatte Doff Anerkennung dafür erhalten, dass er für seine kleineren Geschwister die Vaterrolle übernahm. Seine Enttäuschung versuchte er mit Unmengen von Süßigkeiten zu überwinden. Eines Tages hatte er die viele Arbeit und den ständigen Streit der Eltern nicht mehr ertragen können und war von zu Hause ausgerissen. Nachdem er mehrere Tage gen Süden getrampt war, hatte Doff Lysardh Fount erreicht, wo sein Onkel lebte. Halb verhungert war er Larry in die Arme gelaufen, der sich seiner angenommen hatte.

Larry war zwei Jahre älter als Doff. Er wusste nur allzu gut, wie Doff sich fühlte. Einen Vater hatte Larry nie gekannt, und seine Mutter hatte ihn, weil er einen Sprachfehler hatte, im Alter von zwei Jahren in ein Heim für zurückgebliebene Kinder abgeschoben. Obwohl sie ihn, als er zehn war, wieder zu sich geholt hatte, hatte Larry niemals Liebe oder Verständnis erfahren. Stattdessen hatte es Schläge gehagelt. Und als er fünfzehn war, hatte ihn seine Mutter endgültig verlassen, um mit einem Mann, den Larry nicht ausstehen konnte, ein neues Leben zu beginnen. Seither schlug Larry sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Es machte ihm nichts aus, denn inzwischen hatte er die Leidenschaft seines Lebens entdeckt. Wie Doff Süßigkeiten in sich hineinstopfte, so verschlang Larry alles, was ihm wissenswert erschien. In dem kleinen, halb verfallenen Haus seiner Mutter, das Larry geduldig renovierte, stapelten sich überall Bücher: an den Wänden, in selbst gebauten Regalen, auf Tischen, Sesseln und sogar auf dem Boden.

Larrys blaue Augen blitzten unter dem dunklen Haarschopf hervor, als er Doff erklärte: „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich früher Land von der Mount’s Bay nach Süden und Westen um Land’s End bis zu den heutigen Scilly-Inseln ausdehnte.“

Doff protestierte. „Bestimmt haben die Wassergeister das Land überschwemmt.“

Das saß. Mary war ebenfalls belesen. „Wenn ihr’s nicht fühlt, werdet ihr’s nie erfahren“, sagte sie lachend und stand auf. „Kommt, ihr Streithengste! Ich muss nach Hause, Laura wartet mit dem Abendessen. Ihr seid eingeladen.“

Mary war vor Kurzem siebzehn geworden. Sie war zierlich, aber hochgewachsen, hatte lange blonde Haare und graugrüne Augen. Bis vor zwei Jahren hatte sie mit ihren Eltern, die beide Lehrer waren, in einem Vorort der Hauptstadt von Cornwall gelebt. Für die Ausbildung ihrer Tochter hatten Marys Eltern jahrelang jedes Pfund, das sie entbehren konnten, beiseitegelegt. Mary wuchs zu einem hübschen Teenager heran. Sie lernte leicht und machte ihren Eltern, die sie zärtlich liebten, große Freude. Als die Zeit gekommen war, hatten sie Mary schweren Herzens in einem Internat angemeldet, das weit entfernt lag von zu Hause. Dort sollte sie sich auf ihr Abitur vorbereiten. Jeden Samstag hatten sie Mary zu sich nach Hause in ihr kleines Häuschen am Stadtrand geholt und sie am Sonntagnachmittag wieder ins Internat zurückgebracht.

An einem Novembertag, an dem ganz Cornwall unter einer dicken, undurchlässigen Nebeldecke gelegen hatte, war ihr Kleinwagen in einer uneinsehbaren Kurve mit einem zu schnell fahrenden Lastwagen zusammengestoßen. Marys Eltern waren sofort tot gewesen. Und seither lebte Mary im Geburtsort ihrer Mutter – bei Laura, ihrer Großmutter, in einem Cottage am Ende von Lysardh Fount. Dort hatte sie Larry und Doff kennengelernt. Als Mary ihre traurige Geschichte gehört hatte, schloss sie die beiden fest in ihr Herz. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatten Larry und Doff das Gefühl, um ihrer selbst willen gemocht zu werden. Das Schicksal hatte sie in Lysardh Fount zusammengeführt und Mary, Larry und Doff wurden unzertrennliche Freunde.

Wie jeden Nachmittag nach der Schule schlenderten sie gemeinsam durch das Dorf, vorüber am einzigen Gasthaus am Hauptplatz, in dem man Suppen und Eintopf servierte und nur in Ausnahmefällen die berühmte Cornish Pasty. Noch gab es keine Souvenirläden in Lysardh Fount und auch der alte Herrensitz am Hügel war noch nicht zu einem Hotel umgebaut worden.

Doch damit sind wir bereits beinah am Ende dieses Tags angelangt, der für Mary wie jeder andere normale Schultag begonnen hatte. Als sie zu Laura, ihrer Großmutter, gezogen war, hatte sie die höhere Schule aufgeben müssen. Seither fuhr sie an jedem Schultag mit dem Bus in den Nachbarort und zurück. Nur das erste und das letzte Stück des Weges musste sie zu Fuß gehen.

Es war ein Tag, sagen wir, kurz nach Ostern. Überall stand das Weidegras in voller Blüte. Der Himmel war bedeckt, aber hin und wieder brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und erleuchtete die Trockenmauern. Wie blasse Runen zogen sie sich durch das leuchtende Grün der Weiden, auf denen Schafe grasten.

Als hätte jemand einen himmlischen Scheinwerfer eingestellt, präsentierte sich Mary ein aus Zeit und Raum herausgehobenes Bild, das in eine ferne Welt zu gehören schien. Doch dann schoben sich die Wolken wieder zusammen und die Vision erlosch so rasch, wie sie aufgeleuchtet war. Mary hatte ein merkwürdiges Frösteln verspürt, den Verlust von etwas Kostbarem. Oder war es eine Vorahnung gewesen? Dasselbe Gefühl hatte sie gehabt, bevor sie an jenem traurigen Novembertag im Internat in die Direktion gerufen worden war, um dort zu erfahren, dass ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Damals hatte Mary gerade an ihren letzten Besuch bei Laura gedacht.

Mary liebte diese raue Ecke Cornwalls, besonders das Seven-Stones-Riff vor Land’s End, wo sich das sagenhafte Lyoness befunden haben soll. Hier trafen die Wasser dreier Meere aufeinander und erzählten ihr Geschichten aus fernen Tagen. Immer wurde sie von Larry und Doff begleitet, denn seit jenem Novembertag nahm Mary ihre Umwelt nur noch durch einen Schleier wahr. Keine Brille half, die Ärzte standen vor einem Rätsel. Nur Laura wusste, dass sich der Blick desjenigen, für den sich die Welt verschleiert, mit wachsender Klarheit nach innen richtet.

Als Mary die Tür zu dem kleinen, schmucken Cottage öffnete, fiel einer der letzten Sonnenstrahlen des Tages auf ihr Haar und ließ es golden erglänzen.

„Du sieht aus wie deine Mutter“, sagte ihre Großmutter und küsste die Enkelin auf die Stirn.

Mary tanzte ins Zimmer und rief: „Ich hab Larry und Doff mitgebracht!“

Der Tisch im gemütlichen Wohnzimmer war gedeckt. Die Nächte waren kühl und im Kamin prasselte ein Feuer. Mary legte rasch weitere Gedecke auf und Laura brachte einen köstlich duftenden Eintopf aus Fisch, Kartoffeln und Gemüse. Nach dem Abendessen erzählte Laura ihnen auf Doffs Wunsch von den kleinen Feuerteufeln, die in ihrem Kamin wohnten und darin prasselten. Wenn Laura das Feuer achtsam hütete, waren die kleinen Feuerteufel glücklich, drohte das Feuer auszugehen, begannen sie im Haus Unfug zu treiben. Doff setzte sich vor den Kamin und versuchte, die Feuerteufel zu entdecken. Laura lachte schallend, weil ihm bereits ein kleiner Teufel auf der Nase herumtanzte und Doff es nicht bemerkte. Er war vernarrt in Legenden von Rittern, Zwergen und Ungeheuern, doch Larry, der nichts von Steinkreisen, Engeln und Krafttieren wissen wollte, verdrehte die Augen und holte Doff gern wieder auf den Boden der Realität zurück.

Zu Marys Erleichterung enthielt Larry sich heute jedes Kommentars und Doffs runde, braune Augen leuchteten. Dass diese beiden so unterschiedlichen Jungen, der lange, hagere Larry, und der kleine, dicke Doff, ihre Mary aufrichtig liebten, war nicht zu übersehen. Nachdem die beiden Jungen gegangen waren, sagte Laura zu ihrer Enkelin, während sie ihr über das glänzende Haar strich: „Deine Mutter und ich wussten schon am Tag deiner Geburt, dass du etwas ganz Besonderes bist.“

Das gefiel Mary, deren Tagträume um kühne Abenteuer kreisten, die sie eines Tages weit weg von zu Hause als Entwicklungshelferin im Ausland bestehen wollte. Damit ging dieser Tag zu Ende, der bis dahin ein Tag wie jeder andere gewesen war. Als Mary in ihrem Bett lag und sich behaglich in ihre Decke einrollte, ließ sie wie immer die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren – das Alltägliche und das Schöne, die Fantasie, ihre Wünsche und Hoffnungen und den Anfang eines guten Traums, in dem sich das Beste aus der Vergangenheit mit einer verheißungsvollen Zukunft verband. Dann schlief sie ein.

Mary erwachte durch ein Knistern, wobei es außerdem seltsam roch – nicht unangenehm, der Duft erinnerte sie an Weihrauch. Sie öffnete die Augen und starrte verblüfft auf ein Lichtwesen, das sich aus einem blau leuchtenden Nebel herauszulösen schien. Nach und nach nahm es Form an und Mary konnte die Umrisse eines Gesichts erahnen.

„Nein, du träumst nicht, Mary“, sagte das Geistwesen. „Hab keine Angst vor mir, ich bin Ernestino, dein persönlicher Schutzgeist, ein Gesandter aus einer anderen Dimension. Ich bin hier, um dir eine wichtige Botschaft zu überbringen. Deine Welt ist in Gefahr. Du bist auserwählt, um diese Welt und die Menschen vor ihrem Untergang, vor der Zerstörung des Lichts und dem Abgleiten in die Dunkelheit zu bewahren. Mach dich bereit, Mary. Schon in den nächsten Tagen wirst du nach Pakistan aufbrechen, wo dich deine erste Aufgabe erwartet. In einer tiefen Schlucht in den Bergen Pakistans lebt ein mächtiger Adler namens Rebeccus. Ihn musst du als Erstes bezwingen, um an den goldenen Schlüssel zu kommen, der die Tore zum Tempel Niube öffnet. In diesem Tempel befindet sich die Regenbogenschale, in der eine uralte heilige Schrift aufbewahrt wird. Doch das ist erst der Anfang deines großen Abenteuers. Du musst fünf verborgene Lichtstätten mit ihren prächtigen Kristallpalästen auf den fünf Kontinenten finden, ihre Rätsel lösen und sie freisetzen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, weil sich diese Geheimnisse jeweils nur an einem einzigen Tag offenbaren.“

Mary stockte der Atem. Aber sie fürchtete sich nicht. Ihre Mutter sprach wie Laura Kornisch, eine keltische Sprache, und ihr Vater war Waliser gewesen. Sie wusste, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man träumen konnte. Doch sie träumte nicht, sondern war hellwach. Im Traum fühlt man sich allen Herausforderungen gewachsen. Doch sie hatte Zweifel: Wie sollte sie, ein siebzehnjähriges Mädchen, allein auf sich gestellt, eine derartige Aufgabe bewältigen können?

„Du wirst dich nicht allein auf den Weg machen“, versicherte Ernestino ihr, der Marys Gedanken lesen konnte. „Deine beiden Freunde werden dich begleiten. Sie werden dir beistehen und dir helfen, die Aufgaben, die vor dir liegen, zu bewältigen. Außerdem wird schon bald ein weiterer Gefährte zu euch stoßen, der euch ein helfender Wegbegleiter sein wird.“

Mary schwirrte der Kopf, sie saß bewegungslos in ihrem Bett und blickte mit weit aufgerissenen Augen in das grelle Licht, das bereits schwächer wurde. Sie hatte noch so viele Fragen, doch die Nebelwolke, in der Ernestino erschienen war, war schon wieder beinah ganz verschwunden. Noch einmal hörte sie Ernestinos Stimme: „Du wurdest erwählt, Mary, um Großes zu erfahren und zu bewirken. Vor dir liegen mehrere Einweihungen. Nach der letzten wird sich dir das Geheimnis offenbaren.“

Mit diesen Worten lösten sich auch die letzten Nebelschwaden auf und Mary blieb mit Ernestinos Botschaft zurück. Obwohl sie verwirrt war, verspürte sie ein großes Glücksgefühl. „Ja“, flüsterte sie. Sie war bereit für die Aufgabe ihres Lebens. Mary blickte sich nochmals im Raum um. Nur der schwere Duft des Weihrauchs, der noch in der Luft lag, erinnerte sie noch an das, was gerade geschehen war. Mary lag noch lange wach und dachte über diese ungewöhnliche Begegnung nach.

Mary und das Geheimnis der Kristallpaläste

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