Читать книгу Seltsame Vorfälle - Elisa Scheer - Страница 9

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Enkofer war wach.

Nicht unbedingt munter und aufgeweckt, aber wach. Er hatte die Augen offen und starrte zumeist an die Decke.

Max hatte sein bravstes Gesicht aufgesetzt und bei der Stationsleitung zehn Minuten herausgeschlagen – „aber regen Sie ihn nicht auf, junger Mann, der Patient braucht noch viel Ruhe!“

Aufregen, pah!

Enkofer zeigte eigentlich keine nennenswerte Reaktion.

„Herr Enkofer? Hören Sie mich?“

Nichts. Naja, ein kurzes Blinzeln.

„Ich nehme an, das Blinzeln bedeutet ja?“

Blinzeln.

„Schön. Herr Enkofer, erinnern Sie sich an den Überfall? Äh – ich bin von der Kripo. Korka mein Name.“ Er hielt Enkofer, der wirklich gar nicht gut aussah, seinen Ausweis vor die Augen.

Blinzeln.

„War es ein Täter?“ Mit Tatperson würde er hier nicht anfangen, das war schließlich ein alter Herr. Herr auf jeden Fall, sogar im Krankenhaushemdchen wirkte er vornehm. Und sicher war er noch nicht allzu aufnahmefähig…

Keine Reaktion.

„Zwei Täter?“

Blinzeln.

„Hat nur einer geschossen?“

Nichts.

„Beide?“

Blinzeln.

„Haben Sie jemanden erkannt?“

Keine Reaktion. Mist.

„Waren die maskiert?“

Blinzeln.

Die Stationsleitung öffnete die Tür und zog eine grimmige Miene. Max fügte sich: „Gute Besserung, Herr Enkofer. Ich komme vielleicht morgen wieder vorbei.“

Blinzeln.

Na, immerhin!

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Im Präsidium freuten sie sich gedämpft über diese Ergebnisse, denn die zwei Kugeln aus unterschiedlichen Waffen, die man mittlerweile aus der Wand gepult und untersucht hatte, hatten ja schon auf zwei Täter hingewiesen. Und dass Räuber, die nicht erkannt werden wollten, sich maskierten, war wohl auch keine großartige Überraschung.

Immerhin hatte er Brezen mitgebracht.

„Es sind noch keine Gemälde von Asmannsperger irgendwo aufgetaucht. Offenbar ist den Räubern aufgegangen, dass sie sich da einen rechten Mist geschnappt haben, denke ich“, verkündete Maggie.

„Und dafür schießen sie und schlagen einen alten Herrn nieder“, murrte Ben. „Wenn die nichts von Kunst verstehen, warum überfallen sie dann nicht eine Tankstelle? Bargeld, Kippen, Bier? Damit kennen sich diese Nasen doch bestimmt viel besser aus!“

„Du solltest Kurse anbieten, Überfälle richtig planen – für Einsteiger oder so.“

Ben feixte. „Du meinst, das könnte eine Marktlücke sein?“

„Sonst gibt es gar nichts?“ Max war hörbar nicht nach Albernheiten zumute.

„Ein Passant hat sich gemeldet“, hatte Maggie noch zu bieten. „Er ist um die Tatzeit herum da vorbeigegangen und hat auf der Höhe der Galerie ein Auto stehen sehen. Dunkelblauer Sprinter in schlechtem Zustand. Rostig.“

„Kennzeichen wäre wohl zu schön?“

„Leider. Ein älterer Mann, hat sich über das runtergewirtschaftete Auto geärgert – die Reifen waren auch abgefahren, aber aufs Kennzeichen hat er nicht geschaut. „Ich wollte den ja nicht anzeigen“, hat er gesagt. Aber er glaubt, es war ein Leisenberger.“

„Toll“, war der matte Kommentar. „Vielleicht wenigstens die Marke?“

„Nö. Das war kein Autofreak, nur ein ordentlicher Bürger. Sprinter, dunkelblau, vermutlich LEI- Irgendwas. Sorry.“

„Und Enkofer kommuniziert durch Blinzeln und weiß eigentlich gar nichts. Ist der eigentlich immer alleine in seiner Galerie?“

„Ja“, wusste Ben, „der Laden läuft wohl nicht so doll. Bei dem Händchen für merkwürdige Künstler vielleicht kein Wunder. Diese sogenannte Assistentin kommt dreimal die Woche von neun bis elf und macht die Abrechnungen.“

Max legte den Kopf schief und die anderen betrachteten ihn gespannt: Brütete er etwas aus? Eine Lösung? Einen Wutanfall?

„War es dann wirklich ein Raubüberfall?“, fragte er schließlich und lächelte erfreut, als er die dummen Gesichter von Maggie und Ben registrierte.

„Du meinst wirklich – nur vorgetäuscht?“, fragte Ben.

„Dann könnte das Motiv im privaten Bereich liegen“, folgerte Maggie. „Seine Familie. Hat er überhaupt eine? Freunde?“

„Feinde? Frühere Geschäftspartner? Hat er mal etwas angestellt und nun will sich jemand rächen?“, versuchte Ben wieder einen Punkt zu machen.

„Genau das alles“, verfügte Max, „werdet ihr jetzt herauszufinden versuchen. An die Arbeit!“

„Und was machst du?“

„Ich schau erst noch mal zur KTU und höre mich dann in den anderen Galerien um, vielleicht ist dieser komische Asmannsperger ja der totale Geheimtipp. Oder irgendein Feind hat ihn dem Enkofer eingeredet…“

„Auch eine schöne Idee“, lobte Maggie frech. Max zwinkerte ihr zu und zog seine Jacke von der Stuhllehne.

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Maggie fand immerhin heraus, dass Enkofer verheiratet – äh, gewesen war. Die Frau, Ulrike Enkofer, geborene Seeberger, hatte sich vor neun Jahren scheiden lassen. Maggie suchte weiter – über die Details der Scheidung fand sie nichts, das hätte sie in puncto Datenschutz auch etwas irritiert. Ulrike Enkofer hatte jedenfalls wieder geheiratet und war jetzt in einem kleinen Ort auf Mallorca gemeldet. Das hörte sich nicht gerade an, als hätte sie Rachegelüste – aber gut, wer konnte das schon wissen…

Hm – Kinder?

Ach ja, Verena Enkofer, geboren 1978, gestorben 2002 unter rätselhaften Umständen: Überdosis – Selbstmord, Mord, Unfall? Ermittlungen eingestellt.

Außerdem Susanne Enkofer, geboren 1980, Schule, Studium (Jura), heute bei der Staatsanwaltschaft tätig. Da konnte sie mal nachfragen, wenn Max einverstanden war! Sie schickte das alles an die Tafel und ordnete es dort richtig stammbaummäßig an, dann suchte sie weiter. Oh, noch ein Versuch, einen Stammhalter zu produzieren? Die frühen Achtziger ließen es an modernem Denken auch noch ganz schön fehlen, frauenfeindliches Pack… und das Ergebnis: Gabriela, geboren 1984. Hihi. Schule, Ausbildung, Heirat 2010, lebte mit Mann (und vermutlich Kinderchen, das stand hier nicht) in Kaiserslautern. Zur Not konnte man sie ja anrufen…

Keine weiteren Kinder – und mit Kunst hatte offenbar keine viel am Hut (gehabt). Da war der Papa sicher enttäuscht! Susanne und Gabriela – Männer, Kinder?

Susanne offenbar nicht, jedenfalls nicht amtlich, Gabriela hatte einen Mohammed Aziz geheiratet. Maggie suchte ihn auch und erfuhr, dass er bei einem Chemieunternehmen in Kaiserslautern als Laborchef arbeitete, verheiratet war (mit besagter Gabriela Enkofer) und zwei Kinder hatte – Leila und Ben. Auch diese Idylle (war es eine, nach etlichen Jahren?) sprach nicht für Mordlust, Rachedurst oder andere Motive.

Höchstens konnte es etwas zu erben geben…

„Ben? Wie schaut´s mit Geld aus?“

„Naja, er hat ein Haus in Leiching, da müsste man mal hinschauen. Sollten wir eh mal, wenn er wieder richtig klar ist, mit einem Team, vielleicht gibt´s da Unterlagen…? Leiching ist teuer und sogar, wenn die Hütte abbruchreif ist – die Grundstücke dort sind auf jeden Fall groß. Tausend Quadratmeter oder so. Das sind schon ein bis zwei Millionen, denke ich. Ansonsten – seine geschäftlichen Einkünfte sind laut Finanzamt nicht mehr so toll, er hat wohl kein rechtes Händchen mehr für Qualität. Er muss seiner Ex nichts mehr zahlen, weil sie ja wieder verheiratet ist – Geldanlagen müssten wir bei der Bank eruieren. Bankverbindung laut Steuererklärungen ist die Stadtsparkasse.“

„Danke. Weißt du, was mir gerade eben eingefallen ist? Den Asmannsperger könnten wir uns auch mal anschauen.“

„Der dieses Geschmier produziert hat? Warum jetzt den?“

„Naja, jetzt ist er sozusagen in aller Munde – wenigstens in der Kunstszene…“ Maggie grinste Ben abwartend an.

„Hui! Dann glauben alle, die Bilder taugen etwas? Kühne Theorie – aber immerhin. Schreib´s an die Tafel. Aber ob wirklich deshalb die Preise steigen? Die Leute müssen das Zeug doch bloß sehen?“

„Komm, wer gibt schon zu, dass ihm ein Bild nichts sagt! Wenn das Zeug so begehrt wirkt, kann man es später ja vielleicht zu einem höheren Preis wieder verkaufen?“

„Mag sein. Ich hab mich mal über ein Bild von Jackson Pollock gewundert – sah aus wie ein altes Laken, das man beim Streichen untergelegt haben könnte. Kostet aber bestimmt Millionen. Deine Theorie beginnt mir zu gefallen…“

„Dann haben wir jetzt (a) Überfall durch Kunstidioten, (b) Intrigen in der Familie und (c) Der Maler will Publicity. Sonst noch was?“

„Das Haus soll generalsaniert werden und die Galerie muss dafür raus?“, schlug Ben vor. Maggie nickte billigend. „Aber dann hat er doch wohl schon mal Post vom Hausbesitzer bekommen? Von wegen Sanierung und Mieterhöhung bzw. Bitte ausziehen, sonst gehen Ihre Bilder kaputt? Da müssten wir den Enkofer mal fragen…“

„Wenn er etwas besser beieinander ist. Was ist denn mit der Frau von der Staatsanwaltschaft? Ich meine – kurzer Dienstweg?“

„Schlagen wir Max nachher vor.“

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Max hatte in der KTU nicht viel Neues erfahren – die Projektile passten immer noch zu keiner polizeibekannten Waffe, Fingerabdrücke gab es zwar, aber sehr vereinzelt, abgesehen von denen, die man wohl Enkofer zuordnen konnte. Außerdem jede Menge Spuren an den Wänden, aber eben nur Spuren von behandschuhten Händen… Das war wahrscheinlich beim Abnehmen der Bilder geschehen.

Neben der Galerie Enkofer war das Fine Arts.

„Asmannsperger?“, wiederholte der etwas schnöselige Inhaber leicht befremdet, „Asmannsperger? Hm. Nie gehört – oder?“

„Das habe ich eigentlich Sie gefragt“, merkte Max betont sanft an.

„Ja, also – nein. Hab ich wirklich noch nie gehört… vielleicht ein neues Talent?“

„Möglich.“ Max hatte einen der Flyer dabei und zeigte ihn dem Galeristen. Der nahm ihn mit spitzen Fingern und warf einen Blick darauf, dann erschauerte er theatralisch: „Allmächtiger! Das hatte der alte Enkofer im Angebot? Hat er schon etwas verkauft?“

Max zuckte die Achseln.

„Ich glaub´s ja nicht. Neues Talent trifft es da nicht unbedingt. Neu mag er ja sein, aber ich erkenne eher eklatante Talentlosigkeit. Enkofer hatte immer ein Händchen für interessanten Nachwuchs – aber in letzter Zeit scheint ihn sein Glück verlassen zu haben. Armer Mann. Naja, er ist auch schon recht alt, nicht wahr? Wie geht´s ihm denn?“

„Den Umständen entsprechend“, wich Max aus. „Haben Sie an diesem Tag etwas Auffälliges bemerkt?“

„Das war… vor drei Tagen?“

Max stimmte zu.

„Ein Montag, nicht wahr? Montag ist Fine Arts geschlossen, tut mir leid. Ich war nicht hier, sondern bei einer jungen Malerin im Alpenvorland, Luise Helferich, in Bad Tölz, sagt Ihnen das etwas?“

„Bad Tölz schon. Von Frau Helferich bräuchte ich bitte die Adresse. Und sie ist talentiert?“

„Aber hallo! Sie hat das Zeug zum Shooting-Star, da können Sie - äh – sicher sein.“ Er schrieb etwas auf einen Zettel.

„Wie sieht es denn mit ihren Nachbarn auf der anderen Seite aus? Die haben doch montags nicht zu, oder?“

„Rathgeber? Doch“, sagte Mr. Fine Arts, “leider schon. Montag lohnt sich einfach nicht besonders, da sind sogar Vernissagen schlecht besucht. Anderswo vielleicht ja nicht, aber in Leisenberg bleiben die Leute montags anscheinend einfach daheim.“

„Ah ja – und dann bräuchte ich bitte noch Ihren Namen?“

„Mairsamer“, gab der Galerist eher ungern zu, „Korbinian Mairsamer.“

„Ein guter bayerischer Name. Hört man gar nicht mehr so oft“, drehte Max das Messer noch ein wenig in der Wunde herum.

Der Galerist murmelte etwas von uncool und Max versuchte nicht zu grinsen und vermied es, mit Tradition zu argumentieren – das hätte nicht zur hier ausgestellten Kunst gepasst.

„Haben Sie sich öfter einmal mit Herrn Enkofer unterhalten?“

„Eher nicht. Er fand meine Ausstellungen schrecklich – und ich seine (in letzter Zeit wenigstens) auch. Also, beste Freunde waren wir jetzt nicht. Wenn Sie sein Privatleben meinen, das weiß ich nur, dass ihm die Frau vor Jahren davongelaufen ist. Vielleicht war er zu griesgrämig?“

„Ach, war er das? Häufig?“

„Na, so mittelhäufig. Nicht selten wenigstens. Grummelig halt. Wie die Leute parken, dass sie nichts von Kunst verstehen, dass das Städtische Museum die falschen Sachen ankauft, Ludwigskron und die Galerie natürlich auch.“

„Das Städtische Museum?“

„Ja, das ist ja gleich ein Stück die Straße rauf. Aber er hat alle Museen wegen ihres Kunstgeschmacks verachtet, da müssen Sie sich wegen des Städtischen Museums nicht zu arg wundern.“

„Nun gut.“ Max verwahrte seine Notizen, von Mairsamer neugierig beäugt. „Taugt das Tablet etwas?“

„Durchaus. Sehr gute Schreibfunktion, in unserem Beruf nicht unwichtig. Vielen Dank für Ihre Aussagen – vielleicht kommen wir nochmal auf Sie zu, wenn wir mehr Erkenntnisse gewonnen haben.“

„Ja, kein Problem.“

Doll war´s nicht, fand Max und überquerte die Straße. Ach ja, das Art Café. Von da müsste man wirklich einen guten Blick auf die Galerie Enkofer haben… Wieso hatte diese Museumsfrau denn nicht rausgeschaut? Was die Leute, die am Fenster saßen, auf ihren Tellern hatten, sah lecker aus und ihm knurrte prompt der Magen. Kurz vor zwölf – und das labbrige Knäcke zum Frühstück war seit Ewigkeiten verdaut… Er stieß die Tür auf und atmete gierig den Duft nach frischem Fisch, frisch gebackenem Brot, leckeren Teighüllen und Salaten ein.

Außerdem konnte er so ja überprüfen, ob man wirklich hier essen und dabei nichts von dem mitbekommen konnte, was draußen vor sich ging – ein Überfall zum Beispiel…

Eine freundliche Bedienung brachte ihm eine typische Karte für solche Cafés – bunt wie eine Eiskarte, mit Bildern jedes einzelnen Angebots. Da musste man gar nicht mehr lesen können, darauf deuten reichte.

Max wollte nicht wie ein Analphabet wirken, also bestellte er in klaren Worten eine Fischtasche, einen Gurken/Olivensalat und eine Coke Zero.

Dann sah er sich um – was taten die anderen Gäste?

Das Pärchen neben der Küchentür hatte nur Augen füreinander und hätte wohl nicht einmal aufgesehen, wäre Lady Gaga in ihrem legendären Fleischkleid hereingetanzt. Ein Mann aß so versunken, den Blick so fest auf den Teller geheftet, als habe er Angst, das Essen werde auf mystische Weise im Teller verschwinden. Nein, der würde auch nichts bemerken…

Ja, und alle anderen starrten auf ihre Handys – Social Media oder Nachrichten? Egal. Außerdem machte er das auch meistens, wenn er nicht gerade versuchte, die Galerie Enkofer zu observieren.

Man konnte sie von hier aus recht gut sehen, vor allem, wenn man richtigherum am Fenster saß und tatsächlich hinausschaute.

Er sah den Galerieeingang auch – es stand kein Wagen davor wie dieser alte Sprinter neulich. Es saß auch niemand im Weg. Wenn natürlich jemand klug parkte, konnte man wohl aus keinem Fenster des Cafés sehen, ob jemand die Galerie betrat… der alte Sprinter konnte bewusst genauso geparkt worden sein. Keine besonders tiefschürfende Idee, leider.

Das Essen kam und die Fischtasche duftete absolut hinreißend. Nachher würde er sich einmal die Fenster der Nachbarhäuser genauer ansehen und alles fotografieren, soweit es noch nicht geschehen war – hatte das überhaupt schon einer gemacht?

Aber jetzt würde er erst einmal essen!

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Mittagspause! Stella hatte sich vorgenommen, nicht essen zu gehen, sondern schnell zum Baumarkt an der Kirchfeldener Landstraße zu fahren und endlich diese Haken für die Handtuchheizung zu besorgen. Da gab’s im Vorraum auch einen Brezenstand, das reichte ja wohl für ein Mittagessen. Und ein nettes Körbchen für ihren Kosmetikkram brauchte sie auch noch…

Sie eilte zum Nebenausgang, der auf den Parkplatz führte und stieg in ihren Wagen, dann blinzelte sie verblüfft: ein Knöllchen? Verdammt, das war hier so etwas wie ein Firmenparkplatz! Und ihre Parkerlaubnis lag auf dem Armaturenbrett! Hier hatten die Bu – äh, die Polizei gar nichts zu suchen!

Also stieg sie seufzend wieder aus – vielleicht war es ja auch bloß wieder ein Pizzaflyer oder so ein doofer „Wir kaufen jedes Auto“- Zettel.

Sie streckte schon die Hand aus, um den Zettel zu zerknüllen und am liebsten einfach wegzuschleudern (nur theoretisch, das war schließlich Umweltverschmutzung!), aber dann entfaltete sie ihn doch und starrte darauf, ohne zunächst zu verstehen, was darauf stand.

Komma iväg till sverige, dum ko

Was sollte das denn bedeuten? Verzieh dich nach Schweden, blöde Kuh…?

Etwas benommen stieg sie mit dem Zettel wieder ein und fuhr vom Parkplatz. Wer schrieb ihr denn so etwas?

Es musste jemand sein, der/die Schwedisch konnte.

Blödsinn, sie hatte auch schon einen frechen Spruch bei Google eingegeben und irgendeine Sprache hinzugefügt, damit Google brav und hoffentlich nicht allzu falsch übersetzte.

Der poplige Satz war korrekt, einigermaßen. Vielleicht würde man es idiomatisch auch anders formulieren können, aber direkt falsch war der Satz eigentlich nicht.

Wer wusste, dass sie Schwedisch sprach, dass ihr Vater Schwede gewesen war? Im Museum ja wohl alle! Ihr Namensschildchen zeigte ihren schwedischen Nachnamen – und als sich einmal eine schwedische Reisegruppe aus unerfindlichen Gründen nach Leisenberg verirrt hatte, hatte sie selbst die Gruppe durch die damals aktuelle Ausstellung geführt.

Aber im Museum hatte doch keiner etwas gegen sie? Sie arbeitete doch mit allen gut zusammen?

Sie achte ja auch penibel darauf, bei gemeinsamen Projekten stets ein wenig mehr als ihren Anteil zu erledigen, damit keiner sagen konnte, sie lasse die anderen für sich schuften. Und sie hatte auch niemandem etwas weggenommen, nur bereitwillig irgendwelche Lästigkeiten übernommen. Wer konnte sich darüber empören?

War es vielleicht niemand aus dem Museum? Von der Straße war dieser Personalparkplatz gut zu sehen, aber für die Schranke brauchte man eine Fernbedienung. Die Schranke war obendrein recht hoch und streifte unten fast den Boden – Hinüberzuklettern wäre einem Sportler vielleicht möglich, unten durchzurobben war unmöglich. Und wozu sich verletzen oder wenigstens sich mit Straßendreck einzusauen? Um jemandem einen albernen Zettel unter den Scheibenwischer zu klemmen? Das war doch wirklich schwachsinnig! Und wer kannte schon diesen Schleichweg hinten durchs Gebüsch?

Privat?

Aber da gab es nur Mama und ihre Freundinnen, Pauline und Sabine, dazu vielleicht noch Nachbarn, aber mit denen stand sie doch auf gutem Fuß?

Niemand war laut oder ließ seinen Müll überall liegen, die Treppe wurde von einem Putzteam sauber gehalten, man grüßte sich höflich und hatte ansonsten wenig Kontakt. Vielleicht gab es ja heimliche Techtelmechtel, vielleicht zwischen der Ehlers aus dem ersten Stock und ihrem Nachbarn, dem Wieberger? Sie selbst bekam so etwas doch sowieso nie mit und egal wäre es ihr obendrein auch. Und wer wusste überhaupt, dass sie hier arbeitete?

Mit Mama verstand sie sich gut – und Mama konnte kaum schwedisch sprechen und war auch nicht der Mensch, der alles bei Google erfragte. Sie hatte ein schwedisch-deutsches Lexikon, aber keine Grammatik dazu, also konnte sie nur durch Zufall die korrekten Formen treffen. Papa hatte ja auch gut deutsch gesprochen! Ach, war das schon lange her, sie konnte sich gar nicht mehr so genau an Papa erinnern.

Pauline und Sabine hatten die Tatsache, dass sie Halbschwedin war und die Sprache beherrschte, fünf Minuten lang als exotisch bestaunt und dann wieder vergessen. Außerdem hatten sie mit ihr ja auch keinen Ärger!

Sie könnte höchstens den netten Polizisten fragen, der ihr mit der Schweineleber geholfen hatte – aber ihn wegen einer solchen Lappalie zu belästigen? Zu albern.

Sie würde den Zettel nachher wegwerf– nein, archivieren, man wusste ja nie!

Genau das tat sie auch, als sie – nach Baumarkt und Nachmittagsdienst – nach Hause kam: Der Zettel kam in eine Klarsichthülle, die mit Datum, Uhrzeit und Fundstelle versehen wurde. So, fertig für die Asservatenkammer!

Sie fand noch eine Pappkiste, in der außer einem veralteten Pizzaflyer und zwei rätselhaften Visitenkarten nichts lag, und erklärte diese zu ihrer privaten Asservatenkammer.

Sie hatte mit niemandem Ärger, verflixt!

So, und jetzt würde sie Feierabend machen und auch etwas essen – die trockene Breze vom Baumarkt hatte ihr System längst vergessen und meldete sich jetzt lautstark, um Nachschub zu verlangen. Knusperknäcke mit etwas Remoulade und einem harten Ei in Scheiben? Und danach einen Apfel?

Der erste Teil funktionierte problemlos, der letzte Apfel aber war leider vorne rot und hinten matschig. Na, auch egal. Aß sie eben den Rest von der Nussschokolade, die war auch süß.

Sie war damit kaum fertig, als ihr Handy brummte. Aha, Mama!

Mama erzählte von einem Besuch im Gartencenter und von dem Bekannten einer Freundin, der doch tatsächlich jemanden kannte, der an dieser merkwürdigen neuen Krankheit litt: „Musst du dir mal vorstellen, der liegt jetzt in München im Schwabinger Krankenhaus, auf der Intensivstation! Kann das denn noch eine Grippe sein?“

„Weiß ich auch nicht – aber vielleicht ist das ja ein Einzelfall?“

„Sternchen, du passt nicht gerade gut auf, was? Es werden jeden Tag mehr Kranke, das ist schon gar nicht mehr nur diese Firma da unten an diesem See…“

„Starnberger See? Ehrlich, sind das schon so viele? Aber doch nur dort?“

„Ich glaube, es gibt auch einen Ausbruch in Österreich, in irgendeinem Skiort – und auf irgendeiner Karnevalssitzung in – in – weiß ich nicht mehr. Halt da, wo sie Karneval feiern, du weißt schon…“

„Nicht genau, aber ich kann´s mir schon vorstellen. Du meinst, das wird eine richtige Epidemie?“

„Ich glaube schon. So was wie eine Supergrippe. Bist du eigentlich gegen Grippe geimpft?“

Stella hatte die Besorgnis herausgehört und versicherte sofort, sie sei selbstverständlich geimpft.

Morgen musste sie schnell einen Termin beim Arzt ausmachen…

Mama erzählte noch einiges aus Henting und Stella gab die passenden Geräusche von sich – dass der Leiß-Pegel so niedrig stand wie seit Jahren nicht mehr, erschien ihr trotz Klimawandel nicht allzu beunruhigend, denn dass die Leiß überhaupt Wasser führte, hatte sie schon in ihren Kinderjahren verblüfft. Armseliges Rinnsal – und dann so viele Auen darum?

Und wer Frau Schwarzbauer war, wusste sie genau genommen auch nicht, also befand sie deren Theorie, dass diese komische neue Krankheit bestimmt in einem russischen Labor entstanden sei, nicht gerade als ernstzunehmen.

Sie schaffte es gerade noch, sich das mit dem Arzttermin zu notieren – aber war es für eine Grippeimpfung nicht eigentlich zu spät? Im Februar?

Dann kam der nächste Anruf – Pauline, die dreihundert Euro vermisste, die sie sich für eine Shoppingtour bereitgelegt hatte. „Die hat sich bestimmt der Benni gekrallt! Der ist doch immer pleite!“

„Aber der ist doch nicht doof! Wenn dein Geld weg ist, können es ja bloß er oder Frauke gewesen sein – und Frauke ist doch so gut organisiert und obendrein gut bei Kasse, oder?“

„Wahrscheinlich hofft er, ich denke, ich hab die Mäuse verlegt. Verlässt sich auf meine Unordnung.“

„Dann räum halt mal gescheit auf! Stell dir vor, du blaffst ihn an und findest dann tatsächlich die Kröten in deinem Verhau wieder, da müsstest du ja praktisch ausziehen!“

„Wieso das denn?“

„Na, wäre dir das nicht viel zu peinlich?“

„Nö. Kann doch jedem mal passieren! Ja, okay, dir natürlich nicht, aber du bist ja auch ein Roboter – in dieser Beziehung natürlich nur!“

„Na, herzlichen Dank. Paulie, die meisten Leute räumen ab und zu mal ihren Schotter auf und stecken ihr Geld in die Geldbörse. Versuch´s mal, das hilft wirklich! Und bevor du dich mit Benni anlegst, für nix und wieder nix?“

„Naja… vielleicht. Ich glaube, ich lege jetzt auf, das war genug Predigt für einen Abend.“

Stella kicherte und wünschte viel Vergnügen beim Aufräumen.

Sie hatte das Telefon kaum beiseitegelegt, als Sabine anrief und fand, Paulie bräuchte wirklich einmal ein Coaching, was das Aufräumen betraf.

Stelle musste lachen. „Hat sie sich bei dir auch wegen der dreihundert Euro beklagt?“

„Na klar. Benni ist ein Dieb und sie braucht dringend neue Jeans, neue T-Shirts und einen lässigen Blazer.“

„Das hat sie doch alles schon! Mehrfach!“

„Ich weiß. Den Jeansblazer zum Beispiel. Ich bin sicher, der würde auch noch passen, aber…“

„Sprich doch weiter!“

„Sprich du weiter! Passen, aber – na?“

„Sie findet ihn gerade nicht“, vollendete Stella, halb heiter, halb resigniert.

„Wir könnten sie mal überfallen und richtig bei ihr aufräumen. Wie so Ordnungs-Coaches“, schlug Sabine vor. „Kennst du Marie Kondo?“

„Wer kennt die nicht! Aber wenn wir bei Paulie Ordnung machen, findet sie doch erst recht nichts mehr. Kennst du das nicht, wenn dir jemand in der Küche hilft und alles falsch einsortiert?“

„Hör bloß auf, der Tommi ist so einer! Wenn ich gemeckert habe, dass er ein alter Faulpelz ist, dann schleimt er sich mit Abtrocknen und Aufräumen ein. Seitdem finde ich das Brotmesser, den Schneebesen und den Apfelteiler nicht mehr. Und noch mehr Zeug, fällt mir bloß nicht mehr ein.“

„Wenn du das andere Zeug nicht mal vermisst, ist es doch egal?“

Sabine brummte zustimmend.

„Jedenfalls müssten wir Paulie eher einen Profi vermitteln, der mit ihr zusammen aufräumt.“

„Für ein WG-Zimmer leicht übertrieben, meinst du nicht?“

„Auch wieder wahr – na, vielleicht versucht sie es ja selbst, ich hab sie jedenfalls ein bisschen rundgemacht. Ob´s natürlich was gebracht hat, weiß ich nicht.“

„Aber besuchen sollten wir sie mal wieder, dann sehen wir, wie arg es ist. Wenigstens abholen und dann zu Fabrizio´s?“

„Au ja, mal wieder eine richtige Pizza! Dieser tiefgefrorene Kram ist einfach nicht das Gleiche…“

Seltsame Vorfälle

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