Читать книгу Verwandte und andere Nervensägen - Elisa Scheer - Страница 5

Montag, 20.11.2006 18:00

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Was da für Geschichten über sie kolportiert wurden, typisch Frank. Der hatte wahrscheinlich erzählt, sie sei mit achtzehn abgehauen (natürlich unter Mitnahme des Familiensilbers), um in Berlin auf den Strich zu gehen. Oder so ähnlich. Und alle hatten es geglaubt. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen – als sie rausgeflogen war, hatte sie fast neunzig Kilo gewogen! Sicher, auf 1.78 ganz gut verteilt, aber für den Strich doch vielleicht nicht ganz das Richtige. Und dieses Spurlosverschwundensein… die nächsten eineinhalb Jahre wäre sie zumindest über die Schule noch erreichbar gewesen, bis zum Abitur.

Außerdem hatte sie Leisenberg während des Studiums nicht verlassen und war immer korrekt im Telefonbuch gestanden, schließlich war es in den früheren Neunzigern noch nicht so üblich gewesen, nur ein Handy zu besitzen. Und so viele Leute, die L. Wintrich heißen, gab es in Leisenberg schließlich auch nicht. Genau genommen war sie die einzige. Sowohl dieser Anwalt als auch Frank und Konsorten hätten, wenn sie gewollt hätten, sie locker finden können. Bloß gut, dass sie nicht gewollt hatten – mit diesen grässlichen Gestalten seine Freizeit verbringen? Noch mal Glück gehabt!

Jetzt war es gerade mal Viertel nach sechs, herrlich! Sie zog sich aus, hängte das Kostüm sorgfältig auf einen Bügel, schlüpfte in ihren herrlich kuscheligen Morgenmantel und drehte im Bad das Wasser auf. Heute mal… genau, Grapefruit. Das machte munter und sie konnte noch die ganze dritte Aufgabe schaffen. Danach vielleicht noch einen Teil des zweiten Durchgangs, bei dem sie überall noch ein, zwei Punkte mehr zu vergeben pflegte, nach dem Motto Stimmt ja eigentlich auch und außerdem will ich keinen Schnitt unter viernull. Obwohl, wenn der Kurs sehr schwach war, hatte sie mit einem solchen Schnitt auch kein Problem.

Sie begann gleich mit der dritten Aufgabe und legte sich nach fünf Klausuren mit einem glücklichen Seufzer in das heiße, duftende Wasser. In einem solchen Bad konnte man wirklich den Alltag vergessen! Morgen würde sie joggen gehen und übermorgen ins Fitness. Wenn das nicht genügte, um sich so richtig wohl zu fühlen, dann wusste sie es auch nicht.

Sie drückte selbstvergessen den teuren Naturschwamm über sich aus und genoss es, wie das duftende weiche Wasser (Meersalz!) über ihre Haut floss. Herrlich.

Und nachher würde sie noch ordentlich was wegkorrigieren und dann ganz gemütlich ein bisschen ihre Depots kontrollieren, vielleicht ein auch etwas zocken, wenn möglich. Einige Pharmawerte hatten momentan eine ganz gute Prognose…

Die Kröten der Wintrichs hatte sie weiß Gott nicht nötig, die Wohnung hier war bis auf den letzten Pfennig bezahlt, und ihre Depots waren so gut bestückt, dass sie von den Erträgen hätte leben können. Ja, gut – bescheiden leben, aber immerhin. Da sie aber von den Erträgen nichts verbrauchte, sondern alles thesaurierte und außerdem noch jeden Monat rund fünfhundert Euro ins Depot schob – und sich jedes Jahr ein nettes Sümmchen (auch netto!) erspekulierte, wurde sie von Minute zu Minute reicher. Während sie hier lag, verdiente sie im Schnitt bestimmt schon wieder – hm… sie rechnete träge vor sich hin, rutschte noch etwas tiefer in das duftende Wasser und kam schließlich auf ein Ergebnis von etwa drei Euro pro Stunde. Einfach so, ohne Arbeit. Nicht übel. Wer brauchte da milde Gaben von der buckligen Verwandtschaft?

Das Telefon läutete im Arbeitszimmer. Egal. Sie konnte ja nachher das Band abhören und ganz vielleicht auch zurückrufen. Vielleicht war es Valli, der wieder mal ihre Familie über den Kopf wuchs. Oder Irene wurde tatsächlich Uroma. Oder Lisa, die unbedingt weggehen wollte, um den Mann ihres Lebens zu finden. Warum musste immer sie da mitgehen, sie wollte doch gar keinen Kerl!

Sie aalte sich noch ein wenig und wusch sich träge, aber langsam wurde das Wasser doch etwas kühl, und mit flüchtigem Bedauern – nichts Gutes dauert ewig – stand sie auf und hüllte sich ins Badetuch. Noch schön eincremen…

Neunzig Kilo – das waren noch Zeiten gewesen, aber das Herumrödeln, Schule, Nachhilfestunden, Nebenjobs, Trading, nicht zu vergessen die winzigen Beträge, die sich selbst zum Leben zugestanden hatte, all das hatte rasch an ihr gezehrt, und heute wog sie vierundfünfzig Kilo. Eindeutig zu wenig, aber sie achtete strikt darauf, dass es nicht noch weniger wurde, um keinesfalls in die Nähe einer Anorexie zu geraten. Und so dürr gefiel sie sich. Zierliche Taille, schmale Hüften, praktisch kein Busen, lange dünne Beine (aber mit Waden!), das sah so herrlich unweiblich aus. Weiblichkeit – das stand für Hilflosigkeit, für Männeranlocken (und ausgebeutet werden), für Ich nehme meinen Job nicht ernst, das ist bloß bis ich heirate, für Ich möchte so gerne ein Kind. Alles ganz schrecklich!

Nein, sie wollte keine Kinder. Konnte sie auch gar nicht, sie hatte ja keine Ahnung, was für schreckliche Gene sie möglicherweise vererbte! Außerdem hatte sie keine Lust, immerzu zu Hause herumzusitzen und alles aus Mutterliebe zu opfern, was ihr wichtig war. Das erwartete doch jedermann von einer Mutter – Selbstaufopferung, da man das vom Papi ja nicht erwarten konnte. Warum ließ man Frauen überhaupt lesen und schreiben lernen, wenn sie dann doch bloß zu Hause rumlungern sollten? Krippenplätze gab es in Leisenberg vielleicht für fünfzig Kinder, da musste man das Kind mindestens zwei Jahre vor der Empfängnis anmelden und außerdem ein Sozialfall sein. Nicht einmal Kindergartenplätze gab es hinreichend. Und mit Papi – dann müsste sie neben der ganzen Arbeit im Haushalt noch einen durchfüttern, und nach ein paar Jahren fand der eine Bessere respektive Jüngere und zog mit der Hälfte ihrer Ersparnisse davon. Nein, danke.

Valli war ja nach eigenem Bekunden glücklich verheiratet, überlegte Luise beim Eincremen der Waden, aber sogar sie hatte sich dauernd zu beklagen. Johannes war geistesabwesend, Johannes hatte seit Tagen nicht mehr mit den Kindern gesprochen, Alex war am Durchfallen, obwohl das Schuljahr noch ganz frisch war, Vicky pubertierte heftigst und lief herum wie eine minderjährige Stricherin, Maggie hatte außer Pferden nichts im Kopf und nervte in jeder wachen Minute, warum sie kein Pony haben konnte. Sie selbst musste sich um alle Familiensachen alleine kümmern und außerdem versuchen, den Haushalt von ihrem spärlichen Einkommen als Illustratorin zu finanzieren. Johannes zahlte dafür das Haus ab. Mehr war nach seinem Bekunden nicht da. Übrigens typisch, fand Luise – auf ihr Geld hatten beide Zugriff, auf seins nur er.

Ein solches Leben wollte sie nicht. Und was Familie für Vorzüge haben sollte, verstand sie sowieso nicht. Liebe? Keine Ahnung, wie das war, wenn man jemanden liebte – woher auch?

War man dann nervös, wenn der andere da war – oder eher wenn er nicht da war? Machte man sich Sorgen? Um den anderen? Um sich selbst, ob man klug, schön, jung genug war? War man plötzlich willig, sich aufzuopfern? Stellte man Forderungen? War man stolz auf den anderen oder würde man ihn am liebsten verstecken, damit ihn keiner klaute? War man eifersüchtig?

So ganz grundsätzlich konnte sie das niemanden fragen. Lisa, Irene, Valli, alle würden sie rundäugig anstarren: Ja, du musst doch schon mal verliebt gewesen sein!

War sie aber nicht, sorry.

Ein, zwei One-night-stands, um Bescheid zu wissen (und genau genommen war Sex eigentlich ziemlich albern) – und ein rasch gescheiterter Versuch, eine Beziehung zu führen, damals, mit vierundzwanzig, als sie dachte, sie müsste es doch auch mal probieren. Der arme Nils, er hatte sich solche Mühe gegeben, aber egal, was er machte, sie wurde bockig, fühlte sich bevormundet, nicht ernst genommen und überhaupt eingeengt. Sie hatte zunehmend Hobbys entwickelt, die man nur alleine betreiben konnte, lesen, Filme gucken, fotografieren – und Nils war ihr lästig gewesen. Als sie ihn schließlich seiner verständnisvollen Kommilitonin Susanna in die Arme getrieben hatte, war sie regelrecht erleichtert gewesen. Heute kam sie mit den beiden und ihren vielen, vielen Kindern ganz gut zurecht. Vielleicht genau deshalb, weil es nur noch eine lockere Bekanntschaft war. Zu mehr war sie eben offensichtlich nicht in der Lage, und am besten fand sie sich damit ab.

Abfinden war ein bisschen pathetisch, sie hatte mit der Tatsache ja gar keine Probleme. Der Job lief prima, die Finanzen waren in Ordnung, sie war gesund und sah ganz akzeptabel aus, groß, schlank, gepflegt, geschmackvoll gekleidet. Was wollte sie eigentlich mehr? Nette Freundinnen hatte sie auch.

Und allen dreien ging es wirklich schlechter als ihr, deshalb musste sie sich ein bisschen um sie kümmern. Am ärmsten dran war ihrer Ansicht wirklich Valli, an der alle zehrten und die auch niemanden hängen ließ. Pflichtbewusstsein konnte einen bis zur Selbstaufgabe treiben!

Irene hatte sich ihr komisches Leben selbst ausgesucht, und irgendwie war das jetzt wohl schon Tradition, dass die Töchter sehr früh wieder eine Tochter kriegten und die Großmutter die Aufzucht übernahm. Joy allerdings war voll im Beruf engagiert, und sollte Elisa wirklich ein Kind kriegen, würde eben Irene auf Teilzeit gehen (das kam ihr sicher sowieso entgegen), damit Elisa ein glänzendes Abitur hinlegen und dann studieren konnte. Und in siebzehn, achtzehn Jahren würde Irene mit noch nicht mal siebzig Ururoma werden… Männer waren in dieser Familie nur Randerscheinungen, und das war vielleicht gar nicht so übel. Irene hatte immer einen Freund, Joy meistens auch und Elisa hatte ja jetzt diesen zehn Jahre älteren Herrn, der Irene so verstörte…

Und Lisa? Die würde selber sicher sagen, dass sie die Allerärmste war – aber Luise fand, ihr ging es jetzt wenigstens eigentlich gut. Früher – ja, früher hatte sie ein furchtbares Leben, weil praktisch unmittelbar nach ihrem Abitur erst ihre Mutter und kurz danach auch ihr Vater schwer krank geworden waren. Lisa hatte über zehn Jahre damit verbracht, die beiden zu pflegen, die immerzu wimmerten Steck uns nicht ins Pflegeheim, tu uns das nicht an. Alle anderen hatten natürlich gesagt Mensch, nimm dir doch wenigstens eine Pflegerin dazu, ihr habt das Geld doch. Prompt das Gewimmer Lass nicht zu, dass uns fremde Personen betreuen, das ist so seelenlos. Die Freundinnen: Besorg dir doch wenigstens jemanden für den Haushalt, du reibst dich doch total auf. Die kranken Eltern dagegen Lass keine fremden Leute ins Haus, wir wollen nicht, dass uns andere so sehen.

Das einzige, was blieb, war, dass Valli und Luise ab und zu vorbeischauten und Lisa halfen, das große Haus sauber zu halten. Aber sie durften nicht bei der Wäsche helfen, sie durften nichts an der Einrichtung verändern, damit die Arbeit leichter wurde (unsere schöne Küche, die wir uns damals jung verheiratet vom Munde abgespart haben – und du willst sie zerstören, nur weil du nicht abspülen magst? Ach Kind, welche Enttäuschung…!), und sie durften sich vor den Kranken nicht sehen lassen: Wir wollen nicht, dass die beiden sehen, wie sehr wir uns verändert haben. Lisas Mutter laborierte mit ihrem Krebs rund zehn Jahre dahin, und kurz nach ihrem Tod starb auch der Vater an seinem dritten Schlaganfall. Eine Erlösung, fanden die Freundinnen, aber es dauerte fast ein halbes Jahr, bis Lisa wenigstens die Krankenhausbetten und das übrige Equipment aus dem Haus geschafft hatte. Und dann hätte sie eigentlich ihr Leben genießen können, die Eltern hatten ihr das Haus und ein hübsches Vermögen hinterlassen, und mit dreißig hätte sie durchaus noch einen interessanten Beruf lernen können – aber nein, Lisa wollte heiraten. Möglichst sofort. Und möglichst sofort einen Haufen Kinder haben. Dabei hatte man gar nicht das Gefühl, dass sie mit Kindern so besonders gut konnte, mit Vallis Kindern jedenfalls nicht.

Wenn man sie fragte, warum sie unbedingt heiraten und brüten wollte, brach sie zu Anfang einfach in Tränen aus – und wer hätte da schon weiter bohren wollen? Und später hieß es Das versteht ihr nicht und noch später Ich brauche jemanden, für den ich sorgen kann. Das war ja nachzuvollziehen, aber musste es denn so dringend sein? So verbissen? Konnte sie ihren Helferdrang nicht erst einmal im Tierheim abreagieren und dann in Ruhe gucken, ob sie einen geeigneten Mann finden konnte? Und konnte sie allmählich nicht etwas weniger auf dieses Thema fixiert sein? Sie hatte außer der Frage, wo es Männer gab, wie man Männer kennen lernen konnte, worauf bei Männern zu achten war, keinerlei Gesprächsstoff mehr. Und wenn sich dann mal einer für sie interessierte – hübsch war sie schließlich – dann kniff sie. Hinterher hieß es immer Ach… der war nichts.

Warum nicht, war dann wieder nicht rauszukriegen. Sehr seltsam – und allmählich fühlte sich Luise davon auch ein bisschen angeödet, denn Lisa wollte offenbar gar keine Hilfe, nur immerzu verständnisvolle Zuhörer. Ratschläge nahm sie übel auf.

Frisch eingecremt, schlüpfte sie in einen Pyjama – heute ging sie bestimmt nicht mehr aus. Und in Schlafanzug und Morgenmantel zu Hause herumzupusseln, hatte es etwas ungemein Gemütliches, vor allem, wenn draußen so perfekt trübes Novemberwetter herrschte.

Sie setzte sich an ihre Klausur und schaffte in einer Stunde tatsächlich die ganze dritte (und letzte!) Frage. Durchschnitt nach dem ersten Durchgang… dreineunundachtzig. Nein, so schlecht waren die Leutchen eigentlich nicht. Vielleicht war sie bei den ersten beiden Aufgaben doch zu geizig mit den Punkten gewesen?

Aber zuvor sollte sie mal schnell das Band abhören.

Sie haben vier neue Nachrichten. Ächz.

Nummer eins: Ob sie schon von der Klassenlotterie gehört habe? Und von diesen phantastischen Gewinnchancen? Sie löschte den Anruf. Bis zu drei Gewinnen garantiert – das benutzte sie immer als Beispiel in Stochastik, um zu demonstrieren, dass das eben gar nichts garantierte. Höchstens, dass man garantiert nicht viermal gewinnen konnte.

Nummer zwei: Irene – ob sie morgen mal mit dem Chef sprechen konnte, immer mehr Kollegen machten sich in ihrem Psychologiesprechzimmer breit und wollten auch nicht rausgehen, wenn Irene eine Besprechung hatte? Luise notierte sich, dass man das Schloss austauschen musste.

Nummer drei: Philipp Hölzl – ob sie morgen mit ihm essen gehen wollte? Das konnte man ignorieren.

Nummer vier: Sebastian Brandstetter – ob sie noch einmal über den Pflichtteil nachgedacht hatte? Nicht nötig, sie wusste, was sie wollte.

Sie löschte das ganze Band und schaltete den AB wieder ein.

Dann lieber die ersten paar Klausuren im zweiten Durchgang!

Immer, wenn sie die Lust verlieren wollte, dachte sie an die fürchterlichen Gestalten heute Nachmittag beim Notar – nur nicht so werden! So etwas hatte sie nicht nötig, sie war nämlich gut in ihrem Beruf.

So schaffte sie bis zehn immerhin den ganzen zweiten Durchgang und kam auf einen Durchschnitt von dreivierunddreißig. Das war akzeptabel. Sie musste nur noch die Bleistiftnotizen wegradieren und die Punktezahlen an den Rand schreiben, dann konnte sie das Machwerk herausgeben. Sehr passend, morgen hatte sie den Kurs in der zweiten Stunde. Das Radieren würde sie morgen früh noch machen, für heute reichte es wirklich.

Sie hatte etwa zwei Stunden geschlafen, als das Telefon wieder läutete. Entnervt blinzelte sie auf ihren Radiowecker. Viertel vor eins? Unverschämtheit! Das war bestimmt nur wieder ein Besoffener, der ihre Nummer mit der irgendeiner Kneipe verwechselte. Oder mit der seiner Freundin – Schatzi, sei nicht sauer, ich bin gar nicht so blau wie es klingt… Einfach läuten lassen.

Sie vergrub den Kopf wieder zwischen den Kissen und versuchte, den schönen Traum wieder zu finden, konnte aber nicht umhin, das Läuten mitzuzählen. Dreißig Mal!

Endlich Ruhe… nein, es läutete schon wieder. Wutentbrannt sprang sie aus dem Bett und lief ins Arbeitszimmer. „Himmel noch mal, was soll denn das um diese Zeit?“, plärrte sie in den Hörer.

Heftiges Schluchzen antwortete ihr. Sie lauschte konsterniert. „Wer ist denn da? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich die Polizei rufen? Hallo?“

Weiteres Schluchzen. Luise verlor die Geduld: „Also, wer immer Sie sind, so kann ich auch nichts für Sie tun. Was ist denn nun los?“

Ein gurgelnder Schluchzer, dann: „Hier ist Valli…“

„Valli? Was ist denn los? Ist was passiert?“

„Johannes…“

„Ist ihm was passiert? Valli, sag schon!“ Wieder nur Schluchzen und unverständliche Worte. Luise verdrehte die Augen. Das war doch wieder typisch! Hoffentlich war Johannes nichts Ernsthaftes passiert!

„Valli, spuck´s aus, was ist mit Johannes?“

„Ich weiß es doch nicht!“, heulte Valli auf. „Er ist immer noch nicht da!“

„Ist das alles?“, fragte Luise ungläubig. „Johannes ist noch nicht zu Hause und du machst einen solchen Aufstand?“

„Aber wenn ihm was passiert ist?“

„Hast du das Krankenhaus angerufen?“

„Nein, ich weiß doch gar nicht, ob er da ist!“

„Deshalb sollst du ja auch da anrufen, damit die nachgucken! Was sagt die Polizei?“

„Die Polizei?? Ich kann doch nicht die Polizei rufen!“

Luise seufzte. „Valerie, bitte! Was befürchtest du eigentlich? Dass ihm was passiert ist oder dass er sich bloß rumtreibt?“

„Er treibt sich nicht rum! Nicht mein Johannes! Da muss was passiert sein!“

„Dann kannst du doch auch die Polizei rufen“, schlug Luise vor.

„Nein. Das bringt ja sowieso nichts.“

„Wieso nicht? Wenn er einen Unfall oder so was hatte, wissen die das doch als erstes.“

„Ich will nicht die Polizei rufen“, jaulte Valerie.

„Was willst du denn dann? Bessere Vorschläge habe ich leider auch nicht.“

„Ich will ihn suchen gehen. Komm mit, alleine traue ich mich nicht.“

„Ach, du weißt, wo er ist? Das ist natürlich was anderes. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wo müsste er denn sein?“

„Das weiß ich doch nicht!“ Der Stimme nach stand sie kurz vor einem hysterischen Anfall.

„Ja, wo willst du ihn denn dann suchen? Soo klein ist Leisenberg auch wieder nicht.“

„Ich weiß nicht. Was meinst du, wo könnte er sein?“

„Noch in der Arbeit? Wenn die was Dringendes fertig zu stellen haben? Irgendeinen Quartalsbericht?“

„Ende November?“ Soo hysterisch war Valli also auch wieder nicht.

„Okay. Aber könnte er noch im Bauamt sein?“

„Glaub ich nicht.“

„Hast du da mal angerufen? Haben die nicht wenigstens so was wie einen Nachtpförtner?“

„Keine Ahnung. Meinst du, ich soll das mal probieren?“

„Aber unbedingt! Moment, wo könnte er noch sein – bei einem Kollegen?“

„Glaub ich nicht. Und da kann ich jetzt auch wirklich nicht mehr anrufen. Weißt du nicht, wie spät es ist?“

Langsam kam die Situation Luise etwas surreal vor.

„Hat er irgendwelche Lieblingskneipen? Wo er nach der Arbeit vielleicht mal ein Bierchen zwitschern geht? Vielleicht ist er bloß versackt, Geburtstagsfete eines Kollegen oder so?“

„Keine Ahnung. Und Johannes geht nach der Arbeit nichts trinken. Du weißt doch, wie wenig Geld wir haben!“

Der vorwurfsvolle Ton ärgerte Luise. Konnte sie etwas dafür, dass sich die beiden ein so großes Haus hingestellt hatten? Auch mit drei Kindern hätten sie locker in ein gebrauchtes Reihenhaus gepasst. Aber nein, Johannes musste seinen Traum vom Bauen verwirklichen, und jetzt hatten sie die Schulden am Bein und lebten praktisch nur von Vallis kläglichem Einkommen.

„Also pass auf, ruf mal im Bauamt an und im Städtischen Krankenhaus. Und dann ruf mich wieder an, dann überlegen wir weiter.“

„Du willst mir also nicht helfen, ihn zu suchen? Schöne Freundin!“

„Valli, eine muss doch wenigstens einen klaren Kopf bewahren. Was hat denn eine Suche für einen Sinn, wenn du keinen Schimmer hast, wo er sein könnte? Wir stolpern durch die Nacht, und wenn Johannes zu Hause anruft, bist du nicht da, die Kinder wachen auf und regen sich bloß auf.“

„Stimmt“, antwortete Valli enttäuscht. „Aber ich will doch was tun!“

„Dann ruf da an“, wiederholte Luise ungeduldig. „ich lege jetzt auf, du rufst da an, Bauamt und Krankenhaus, nicht vergessen. Und dann rufst du mich wieder an.“

„Hältst du mich für blöd?“

Darauf gab Luise lieber keine Antwort. Sie legte auf und holte sich ihren Morgenmantel, Schreibzeug und den Stadtplan. Während sie auf Vallis Rückruf wartete, studierte sie gähnend den Stadtplan, um die beste Route zwischen Bauamt und dem Traumhaus in Zolling herauszufinden. Tiepolostraße, Bahnhofsstraße, Stadtring, Zollinger Hauptstraße, Mannhardtweg…

Konnte Johannes auf dieser Strecke irgendwo verschwunden sein? Aber wie? Das war alles so belebt, da konnte man doch niemanden aus dem Auto zerren… aber intelligenter entführen vielleicht doch…

Was machte sie hier eigentlich? Johannes war bestimmt nur versumpft. Irgendwer hatte ihn auf ein paar Gläschen eingeladen, und wenn Valli öfter so weinerlich drauf war, hatte er sich die Gläschen auch redlich verdient. Außerdem war er bestimmt frustriert, schließlich hatte er früher mal große Pläne gehabt. Früher, als sie alle noch das Leo unsicher gemacht hatten, wollte er Jura studieren und der Leisenberger Staranwalt werden – und dann? Noch vor dem Ende des Zivildienstes sagt ihm Valli, dass sie schwanger ist. Also sichere gehobene Beamtenlaufbahn, weil man da gleich was verdient und Frau und Kind (Kinder, sie waren ja wie die Orgelpfeifen gekommen) ernähren kann. Und weil man als Beamter für die Kinder auch noch Zuschläge bekam…

Und jetzt ging das ganze Geld für diese blöde Hütte drauf, die Kinder pubertierten oder nervten anderweitig – da konnte man doch mal den Wunsch haben, auszubüxen? Sie hatte Johannes nicht immer besonders gemocht, aber da konnte sie ihn durchaus verstehen.

Der Stadtplan brachte wenig; sie legte ihn beiseite und griff zu Radiergummi und Rotstift. Bis Valli wieder anrief, konnte sie ja wenigstens die Klausur weiter bearbeiten. Morgen – nein, heute früh würde sie schließlich todmüde sein. Sie radierte, notierte die Punkte, unterschrieb und setzte die Note auf die Vorderseite des Bogens. Der Stapel der fertigen Arbeiten wuchs, und schließlich war sie durch. Wieso rief Valli denn nicht zurück?

Sie wählte ihre Nummer. Es dauerte ziemlich lange, bis Valli abhob. „Wolltest du nicht zurückrufen? Wenn nicht, gehe ich jetzt nämlich wieder ins Bett, ich muss früh aufstehen“, raunzte sie sie sofort an.

„Was? Ach so, ja. Alles okay.“

„Was heißt das? Ist er aufgetaucht?“

„Nein, das nicht. Aber der Pförtner im Bauamt hat gesagt, Johannes ist ganz aufgeregt weg und hat gesagt, er hat noch einen Termin.“

„Und wann war das?“

„Na, so um halb sieben. Er geht immer um diese Zeit, weil wir um Viertel nach sieben essen.“

„Er hätte dich dann aber ruhig anrufen können, damit du nicht mit dem Essen warten musst“, fand Luise.

„Naja, wenn er so aufgeregt war… ich wüsste ja gerne, was da los ist, er war die ganzen letzten Tage schon so komisch. Sag mal, war ich vorhin sehr albern?“

Das entwaffnete Luise wieder völlig. „Naja… ein bisschen. Hysterisch eben.“

„Sorry, ich hab mich da total reingesteigert. Weißt du, sonst ist er immer total pünktlich oder ruft an, und wenn er dann stundenlang nicht heimkommt – aber jetzt bin ich wieder beruhigt. Und du geh bloß wieder ins Bett, sonst schläfst du morgen am Pult ein.“

Wie sich die Leute das Lehrerdasein so vorstellten – sie saß doch nicht am Pult! Luise grinste und verzog sich wieder ins Bett.

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