Читать книгу Verwandte und andere Nervensägen - Elisa Scheer - Страница 7

Dienstag, 21.11.2006 15:00

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Allmählich reichte es ihr auch, dachte Luise, als sie sich streckte. Einem Referendar klar zu machen, warum seine Art, den Kongruenzbeweis einzuführen, umständlich und nicht altersgerecht war, kostete wirklich Zeit. Und den Vorschlag, die Aufgaben vorher zu Hause durchzurechnen, um nicht selbst unter verstohlenem Gekicher der Siebtklässler an der Tafel zu scheitern, war auch nicht wirklich auf Gegenliebe gestoßen.

„Machen Sie das etwa so?“, hatte er arrogant gefragt.

„Nein“, hatte Luise gesagt, „ich verrechne mich nämlich nicht. Außerdem hab ich logischerweise mehr Routine als Sie. Stellen Sie sich vor, Dr. Eisler hätte Ihre Vorstellung heute gesehen, was glauben Sie, wie sich das auf die Beurteilung auswirkt?“

Der Referendar hatte die Achseln gezuckt. „Na und? Mathematiker werden händeringend gesucht, egal wie der Durchschnitt aussieht.“

„Solange er wenigstens viernull ist, mag das stimmen“, hatte Luise scharf geantwortet, und er hatte blöde gelacht. „Na, durchfallen werde ich schon nicht!“

„Warum wollen Sie eigentlich Lehrer werden?“, hatte Luise daraufhin gefragt. „Aus Liebe zum Fach oder zu den Schülern ja wohl nicht, was?“

Er hatte frech gegrinst. „Aber aus Liebe zur Freizeit!“

Da fiel einem wirklich nichts mehr ein – man konnte nur hoffen, dass die Lehrprobe wirklich eine Fünf war, dann hatte er nämlich ein ernsthaftes Problem.

Das Mariengymnasium hatte jede Menge netter, engagierter und kompetenter Lehrer im Kollegium, aber heute hatte sie nur die Idioten getroffen. Und diese unsägliche Lichwitz hatte schon wieder ihre Bestellliste für die selbst eingemachten Marmeladen und Oliven ans Schwarze Brett gehängt, wo der Krempel nichts zu suchen hatte – nachher dachte noch irgendein Frischling, man müsse den Mist kaufen!

Luise nahm die Liste ab und pinnte sie ans Personalratsbrett. Sollten die sich die Lichwitz doch mal zur Brust nehmen!

Und sie würde jetzt nach Hause fahren, außer ihr war ohnehin niemand mehr da. Naja, nebenan im Direktorat schon noch, aber die wurden dafür auch deutlich besser bezahlt. Und sie würde sich ein nettes Ex für die siebte Klasse ausdenken und dann gemütlich ein bisschen zu Hause herumpusseln. Ja, und Valli anrufen, ob Johannes jetzt wieder aufgetaucht war und was er zu erzählen hatte!

Auf dem Weg nach draußen warf sie einen Blick auf den Vertretungsplan – oops, fehlten da morgen viele! Vier waren auf Fortbildung, zwei mit Kursen auf Exkursion, drei im Mutterschutz und sieben krank. Bei insgesamt rund achtzig Kollegen machte das summa summarum exakt zwanzig Prozent. Dann hatte sie selbst doch bestimmt… genau, morgen in der fünften die 8 b in Vertretung. Garantiert hatten die morgen nichts dabei, weil sie das angeblich nicht gesehen hatten, und schlugen dann vor, Hausaufgaben machen zu dürfen. Ja, nix! Sie würde ein gepflegtes Übungsblatt mitbringen. Im Geiste machte sie sich eine Notiz.

Krank – was die Leute bloß immer hatten? Sie selbst hatte noch nie einen Tag wegen Krankheit gefehlt, sie wusste gar nicht, was man da machen musste – zum Arzt gehen und sich krank schreiben lassen? Auch, wenn man bloß Kopfweh hatte? Wie sollte der Arzt rauskriegen, ob das überhaupt stimmte?

Gut, dass man morgens um halb sechs keine rechte Lust hatte, das kannte sie auch, aber dann ging man die Tagespflichten durch – in der einen Klasse letzte Stunde vor der Schulaufgabe, für die andere schon ein Ex gebastelt, zwei Schulaufgaben herausgabefähig, eine fertig zum Ablegen, mit Sowieso was zu besprechen, mehrere Anrufe, die von der Schule aus zu tätigen waren – wenn man zu Hause blieb, blieb so viel liegen, also ging krankfeiern gar nicht. Es passte eben nie!

Bei anderen offenbar schon. Oder die waren richtig krank, so mies beisammen, dass sie sich solche Fragen schon gar nicht mehr stellten.

Wahrscheinlich hatte sie selbst einfach nur Glück, dass ihr eben nie etwas fehlte. Auch wenn sie ihre Gene nicht kannte, schienen sie gut zu sein. Eigentlich merkwürdig: Mama war doch, so weit sie zurückdenken konnte, immer nur mit ihrer Gesundheit beschäftigt gewesen – also offenbar krank, wenn Luise auch nicht genau wusste, was ihr gefehlt hatte. Wahrscheinlich irgendein Krebs. Aber sie war mit vierunddreißig gestorben – war das für Krebs nicht fast ein bisschen jung? Und ihr Vater – tja. Der, den sie dafür gehalten hatte, war pumperlgesund, wenn auch stets schlecht gelaunt und besonders zu ihr unfreundlich. Kein Wunder, wenn sie ein Kuckucksei war! Und der, der´s wohl wirklich war, war ihr völlig unbekannt. Vielleicht keine guten Gene, sondern ein gesundes Leben?

Aber so toll lebte sie nun auch wieder nicht. Gut, etwas Joggen, etwas Fitness, nicht viel zu essen, keinen Alkohol, kein Nikotin, kein Sex, keinen emotionalen Stress. Wahrscheinlich war´s das – kein Stress, keine Krankheiten.

Dazu würde passen, dass Valli mindestens einmal pro Saison eine ordentliche Grippe hatte und Luise sich noch nie angesteckt hatte.

Irene fehlte selten, aber bestimmt zwei, drei Tage pro Schuljahr – und Lisa? Schwer zu sagen. Außerdem hatte sie für eine Theorie ohnehin zu wenige Daten. Sie sah auf die Uhr – jetzt hatte sie hier gut zehn Minuten herumsinniert! – und durchquerte die mit schmutzigem Marmor ausgelegte Halle. In den Ecken lagen Schokoriegelverpackungen und zerknüllte Papierservietten, die der Pausenaufräumdienst wohl übersehen hatte. Wer hatte denn diese Woche – na klar, 10 d. Die hatten mal wieder sehr flüchtig gearbeitet! Morgen mahnende Worte sprechen.

Draußen pfiff ein schneidend kalter Wind. Luise stellte den Kragen ihres Mantels hoch und hastete um die Ecke zum Parkplatz. Besser gesagt – sie wäre gehastet, wenn sich ihr nicht jemand in den Weg gestellt hätte.

„Luise?“

Gereizt blieb sie stehen. „Ja? Max, was willst du denn hier? Hast du Kinder hier an der Schule?“

„Ich warte auf dich. Seit zwei Stunden übrigens.“

„Dein Problem, wie kommst du darauf, dass ich schon um halb zwei fertig bin?“

„Endet der Unterricht nicht mehr um eins?“

„Hängt von der Jahrgangsstufe ab. Der Kollegstufenplan zum Beispiel sieht am Tag dreizehn Stunden vor, das geht dann bis halb sieben. Ist aber am Ende meistens bloß Sport, weil die Halle sonst überlastet ist. Müssen wir das hier besprechen? Hier zieht´s ganz schön.“

„Aber nein. Gehen wir was trinken?“

„Ich dachte eigentlich bloß, gehen wir um die Ecke auf den Parkplatz, da ist es windgeschützter und ich kann das schwere Scheusal ins Auto packen.“ Sie zog los, ohne sich umzusehen, ob er ihr folgte.

Er folgte ihr. „Unterrichtest du Sport?“

„Sehe ich so aus? Sportlehrer tragen Trainingsanzüge, haben weniger Gepäck und kommen wirklich erst um halb sieben aus der Halle. Ich unterrichte Mathematik und Wirtschaft/Recht. Hast du zwei Stunden gewartet, um mich das zu fragen?“

„Warum bist du so pampig?“

„Bin ich das? Entschuldige. ich habe nur kein großes Interesse daran, Leute aus meiner Kindheit wieder zu treffen. Das gestern hat mir wirklich gereicht.“

„Das habe ich sowieso nicht verstanden – warum herrscht da so eine gereizte Stimmung?“

„Vielleicht, weil uns dieser dämliche Notar zwangsweise zusammen gesperrt hat. Ohne mich hätten sich gestern alle über ihr Erbe gefreut, und ich war da doch wirklich völlig überflüssig.“

„Wieso? Du bist doch immerhin Franks Schwester, oder?“

„Das weiß ich nicht. Wenn du gestern aufgepasst hättest“, sie ließ den Kofferraumdeckel aufschwingen und hievte die Tasche hinein, „wüsstest du, dass Frank mich, als ich rausgeworfen wurde, als Bastard bezeichnet hat. Bin ich aber ein Bastard, bin ich offenbar nicht seine Schwester. Was mich der Pflicht enthebt, so zu tun, als könnte ich ihn ausstehen. Eigentlich ziemlich praktisch, finde ich.“ Sie knallte den Kofferraumdeckel zu.

„Ganz schön bitter.“

„Finde ich nicht. Nur realistisch. Ich hab die alle seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen und keinen von ihnen vermisst. Okay, die beiden Damen kannte ich noch gar nicht, aber diese Angela kommt mir nicht so vor, als wollte sie meine beste Freundin sein, und deine Frau hat sich doch offenbar genauso fehl am Platze gefühlt wie ich.“

„Mich auch nicht?“

„Was – dich auch nicht?“

„Hast du mich auch nicht vermisst?“

„Warum hätte ich sollen?“ Sie sah ihn rundäugig an. „Ich hab dich doch sowieso kaum gekannt, und du mich wohl eher gar nicht. Wäre es nicht überhaupt einfacher, du würdest dich bei Frank erkundigen, was damals passiert ist? Wenn überhaupt, warst du doch mit ihm befreundet.“

„Hab ich schon, aber das kam mir alles sehr merkwürdig vor.“

„Ach ja? Lass mich raten. Hat er behauptet, ich sei vor fünfzehn Jahren davongelaufen, hätte beiden Eltern das Herz gebrochen und sei jetzt zurückgekommen, um ihm das Erbe zu stehlen?“

„Nein. Außerdem ist deine Mutter seit dreiundzwanzig Jahren tot, wie sollst du ihr also das Herz gebrochen haben?“

„Das war bestimmt auch meine Schuld. Verflixt, können wir nicht einen Schlussstrich ziehen? Ich will keinen Kontakt mit Leuten von damals, ich hab jetzt ein ganz anderes Leben. Erben will ich gar nichts. Also, leb wohl, dir und deiner Frau viel Glück im weiteren Leben.“

Sie streckte die Hand aus, aber er ergriff sie nicht.

„Was ist jetzt? Ich möchte nach Hause“, sagte sie ungeduldig.

„Gibst du mir die Schuld an dem, was passiert ist?“

Sie sah ihn ehrlich erstaunt an. „Dir? Die Schuld? Welche Schuld denn?“

„Ich hätte mich kümmern müssen“, murmelte er und sah sie voller Mitleid an. Das machte sie übergangslos wütend.

„Bild dir nichts ein, ja? Wieso hättest du dich um mich kümmern müssen? Ich bin sehr gut alleine zurechtgekommen, und jetzt lebe ich genauso, wie ich es immer wollte. Diese alberne Tour von wegen großer weißer Ritter kannst du dir wirklich sparen. So, und jetzt fahr heim und kümmere dich um deine eigenen Probleme. Ich hab keine, und wenn ich welche hätte, würden sie dich nichts angehen.“ Damit ließ sie ihn stehen, stieg ins Auto und rauschte davon.

So ein Idiot, wütete sie noch an der nächsten roten Ampel. Was bildete der sich eigentlich ein? Kümmern? Wieso denn? Was ging es ihn an, wenn sie zu Hause rausflog? Zu Hause – phh! Ein Zuhause war das sowieso nie gewesen. Nur eine Art liebloser Wohngemeinschaft. Ihr Nichtvater hatte sie immer mürrisch behandelt, obwohl sie den Haushalt tadellos geführt hatte, Frank hatte sich heraushängen lassen, dass er der Sohn war, der Dreck machen durfte, und sie bloß die Tochter, die ihn wegzuputzen hatte, und für sie selbst hatte sich sowieso niemand interessiert, also hatte sie auch nichts erzählt. Wozu auch?

Der Rausschmiss damals war zwar doch etwas überraschend gekommen, aber nach dem ersten Schock hatte sie sich eigentlich ganz gut zurechtgefunden. Schnell hatte sie reichlich Nachhilfeschüler gehabt (Mathematik und Chemie waren schließlich immer gefragt), und als sie erst einmal herausgefunden hatte, wie man Geld richtig anlegte, und einige Zeit später, wie man vorsichtig spekulierte, war sie alle Sorgen los gewesen.

Eigentlich war dieser Rauswurf ein Gottesgeschenk gewesen, zog sie Bilanz, als sie in die Tizianstraße einbog. Sie konnte jetzt alles selbst, spekulieren, Steuererklärungen machen, eine Wohnung renovieren, kochen und backen, Knöpfe annähen, mit einem Rechner umgehen, Autofahren, ein Auto zur Not auch reparieren (obwohl ihr da die Werkstatt lieber war, man musste ja schließlich auch an den Wiederverkaufswert denken), Präsentationen erstellen, ein Video schneiden, ein Projekt planen… Nachhilfe, Studium, die ulkigsten Jobs, alles hatte sein Gutes gehabt.

Nur die Kerle waren überflüssig gewesen, aber das waren sie ja immer. Obwohl, der arme Nils – der tat ihr immer noch Leid, zu dem war sie wirklich gemein gewesen, wenn auch nicht mit Absicht.

Aber was bildete sich dieser Max eigentlich ein? Sie hatte ihn damals aus der Ferne angeschmachtet, ja, aber das konnte er schließlich nicht wissen. Und dass ein ziemlich flotter Zweiundzwanzigjähriger sich unsterblich in eine übergewichtige und komplexbehaftete Siebzehnjährige verguckte, die meistens so mürrisch war wie ihre ganze unmögliche Familie, war ja wohl auch eher unwahrscheinlich. Selbst wenn – das war fünfzehn Jahre her und er sollte sich lieber mal um seine Frau kümmern!

Er und die Schuld haben – wieso das denn? Hatte er ihren Nichtvater auf die Idee gebracht, einen Vaterschaftstest zu machen? Und selbst wenn, ihr Nichtvater hatte doch das Recht gehabt, für Klarheit zu sorgen. Und bestimmt hatte er nicht die Pflicht gehabt, ein Kuckucksei länger als unbedingt nötig durchzufüttern. Mit achtzehn war sie schon sehr nett alleine zurechtgekommen.

Eigentlich wollte sie nur eins, stellte sie fest, als sie die Treppen hinaufeilte, nämlich dass alle diese Gestalten wieder dahin verschwanden, woher sie gekommen waren. Sie wollte verdammt noch mal ihren Alltag zurück – ohne Gestalten, die sich auf dem Schulparkplatz herumdrückten und alberne Fragen stellten.

Der Anrufbeantworter blinkte, das war das erste, was sie sah, als sie ihre Tasche abstellte. Nein, das würde sie jetzt nicht beachten. Sie packte in aller Ruhe die Tasche aus, schaltete ihren Rechner ein, hängte den Mantel auf und sortierte dann ihre Unterlagen. Also, ein Übungsblatt für die achte Klasse. Das dauerte nicht allzu lange, und danach fiel ihr siedendheiß ein, dass die Anrufe auf dem Band vielleicht von Valli stammten. Und wenn Johannes doch etwas passiert war?

Sie trat an den Anrufbeantworter und hörte die Nachrichten ab. Tatsächlich, sieben Stück, und jede zweite war von Valli. Dazwischen Max mit der Bitte um Rückruf, Brandstetter mit der dringenden Bitte um Rückruf und ihre Bank, ob sie schon einmal über Zertifikate nachgedacht habe? Hatte sie - und die Idee verworfen. Sie seufzte leise und rief Valli an, die zwar nicht verweint klang, aber nervös.

„Endlich! Wo warst du denn so lange?“

„In der Schule. Besprechungen und so weiter. Ist Johannes wieder aufgetaucht?“

„Nein, das ist es ja! Sie haben doch glatt hier angerufen, ob er krank ist, weil er nicht in der Arbeit erschienen ist.“

„Also, jetzt solltest du aber doch die Polizei informieren“, riet Luise, die sich allmählich wirklich Sorgen zu machen begann.

„Polizei? Meinst du wirklich?“

„Ja, Valli, meine ich. Schau, wenn ihm was passiert ist, finden die ihn doch viel schneller und man kann ihm helfen, was immer auch los ist. Und wenn ihm nichts passiert ist, schadet es ihm doch auch nichts, wenn er merkt, dass du dir Sorgen machst, oder?“

„Stimmt“, seufzte Valli. „Okay, dann rufe ich da mal an.“

„Kann man das telefonisch machen?“, wunderte sich Luise. „Ich kenn das ja auch bloß aus dem Fernsehen, und da muss man persönlich hingehen. Aber egal, ruf erstmal da an, die sagen dir dann schon, was du machen musst.“

„Eben. Das mach ich jetzt wirklich, weil ich mir mittlerweile ganz schöne Sorgen mache. So was hat er noch nie gemacht!“

Valli legte auf und Luise blieb still sitzen und überlegte, wie sie sich an ihrer Stelle wohl fühlen würde. Der Mann verschwunden. Der geliebte Mann. Wirklich? Die beiden waren seit vierzehn Jahren verheiratet und hatten drei Kinder und ein unbezahltes Haus. Hatte die Liebe die beiden zusammen gehalten oder das Wissen, dass bei einer Scheidung alles draufgehen würde? Zweckgemeinschaft oder Leidenschaft? Wie lange hielt sich Leidenschaft?

Was, wenn Johannes wirklich etwas zugestoßen war? Würde Valli zusammenbrechen oder des einigermaßen mit Fassung tragen? Und wenn sie zusammenbräche – aus Gram oder aus Hilflosigkeit? Aber hilflos war sie sonst ja auch nicht – nur heute Nacht, da hatte sie sich wirklich kindisch benommen.

Blödsinn, das alles: Johannes war einfach versackt! Nach vierzehn Jahren Bravheit stand ihm das ja wohl mal zu.

Luise wandte sich der Aufgabe zu, ein Extemporale für die siebte Klasse zu entwerfen, die Punkte zu verteilen und alles säuberlich abzutippen – in zwei Gruppen natürlich: Die spickten wie die Raben, allerdings ohne viel Geschick. Ob wohl wieder jemand aus Gruppe B die Rechnungen von A aufs Blatt schreiben und es nicht mal merken würde?

Schließlich war auch das erledigt, die Angabe steckte in einer Klarsichthülle und die in der richtigen Mappe, alles wurde wieder in der Tasche verstaut und Luise konnte sich – schon mit leise knurrendem Magen – ihren Terminplaner vornehmen.

Gar nicht so arg – vier Stunden plus eine Vertretung, dann konnte sie das Ex gleich morgen korrigieren. Offen war nur noch die WR-Klausur, die sie heute erst zurückgegeben hatte (lange Gesichter – wie üblich bei den falschen Leuten). Ausnahmsweise keine Besprechungen, keine Unterrichtsbesuche, keine Fortbildungen – nur eine lumpige Pausenaufsicht.

Sie war so richtig schön auf dem Laufenden – dann konnte sie sich ja jetzt eigentlich eins dieser fettfreien Süppchen kochen und sich einen Film reinziehen? Nein, zuerst ein bisschen laufen. Eine halbe Stunde wenigstens, ein paar Mal rund um den Waldburgplatz, das reichte.

Sie schlüpfte in Trainingsanzug und Laufschuhe, steckte ihren Schlüssel und etwas Geld ein und trabte gemächlich los. Ab und zu kam ihr jemand entgegen, den sie vom Laufen kannte, dann nickte sie gemessen und trabte weiter. Schön… die kalte, feuchte Luft wirkte nach dem Schulstaub richtig erfrischend, der Spätnachmittagsnebel, der zwischen den großen alten Bäumen aufstieg, verlieh dem Platz ein gespenstisches Aussehen, und das blaue Licht, das schwächlich durch den Nebel blinzelte, erinnerte sie daran, dass dort hinten der Drogeriemarkt war, bei dem es immer die wunderbarsten Schaumbäder gab. Ein, zwei Fläschchen konnte sie sich gönnen, wenn die halbe Stunde vorbei war.

Dass Johannes ausgerechnet jetzt seine Freiheit ausleben wollte? Was hieß denn ausgerechnet jetzt, tadelte Luise sofort ihren Denkfehler, für ihn und Valli war gestern ein Tag wie jeder andere gewesen. Nur sie selbst war ganz von der Rolle, weil die Lemuren aus der Vergangenheit ein kurzes Gastspiel gegeben hatten.

Es war doch ein kurzes Gastspiel? Eine einzige Vorstellung hoffentlich nur? Wenn Max es sich zur Gewohnheit machte, dauernd vor der Schule herumzulungern, würde es lästig werden. Und die ständigen Anrufe von Brandstetter auch. Den würde sie nachher zurückrufen und ihm ein für alle Mal klar machen, dass es ihr blendend ging und er sich diesen Pflichtteil sonst wohin stecken konnte.

Bloß gut, dass nicht auch noch Frank und Philipp zum Hörer gegriffen hatten, die waren die allerunsympathischsten von der ganzen blöden Bande.

Nein, die würden heilfroh sein, dass das ganze Kapital in der Firma blieb und niemand etwas abgeben musste, die würden sich hüten, ihr den Pflichtteil aufzudrängen. Und diese Angela machte einen recht geldgeilen Eindruck, fand Luise, als sie zum fünften Mal am Denkmal von Sigismund von Waldburg vorbeitrabte. Schluss mit diesen Gedanken, die Erholung war nur perfekt, wenn man an etwas Schönes oder an gar nichts dachte.

Am besten an gar nichts, etwas Schönes fiel ihr nämlich nicht ein – außer ihrem perfekt abgehakten Zeitplanbuch.

Also versuchte sie auf den letzten beiden Runden an nichts zu denken und joggte dann eher gemächlich in Richtung Drogeriemarkt, wo sie längere Zeit vor dem Regal mit den Schaumbädern verweilte. Blutorange und Rose/Yasmin – perfekt. Zu Hause angekommen, streifte sie den Jogginganzug, das schweißfeuchte T-Shirt und die ebenfalls feuchte Unterwäsche ab, duschte flüchtig und schlüpfte in uralte, aber ganz weiche Jeans und ein ebenso abgetragenes Sweatshirt. Sie kam sich vor wie in der Weichspülerwerbung, es fehlte bloß noch der Holzsteg mit Blick über den abendlichen See.

Zufrieden ging sie in die Küche. Nein, kein fettfreies Süppchen, die waren ja möglicherweise gesund, aber unglaublich langweilig. Sie hatte heute eine Menge geschafft, war brav gejoggt und hatte außer ihrem Pausenbrot (gut, Vollkornbrot mit fettfreiem Schinken, weniger fettfreiem Käse, Salat und Tomaten, ein richtiger Sattmacher) noch gar nichts gegessen. Jetzt gab es etwas Richtiges! Naja, richtig – mit dem Selbermachen hatte sie es nicht wirklich, also gab es tiefgefrorene Gemüsepfanne mit ein paar Nudeln.

Und danach… Golden Eye? Stolz und Vorurteil? Casablanca? Alles viel zu anstrengend. Sie trug den Teller ins Wohnzimmer, stellte ihn auf den Tisch und legte die erste Staffel Kommissar Rex ein. Das kannte sie, das war harmlos und dauerte nicht lange. Sicher, man könnte auch etwas Wertvolles lesen, überlegte sie, als sie mit der linken Hand den Film startete und mit der Rechten ein paar Nudeln und Bohnen aufgabelte, aber dazu hatte sie heute wirklich keine Lust.

Sie aß und guckte und fand diese hirnlose Beschäftigung herrlich entspannend – bis das Telefon läutete.

Sie nahm ab. „Valli?“

„Was – äh, nein. Hier ist Brandstetter. Frau Wintrich?“

„Ja“, gab Luise ungern zu. „Herr Brandstetter, mein Essen wird kalt. Wenn ich nicht gedacht hätte, es sei etwas Wichtiges, wäre ich gar nicht drangegangen. Zum allerletzten Mal, ich will keinen Pflichtteil und ich wünsche keinen Kontakt mit den übrigen Herrschaften Wintrich. Ist das jetzt klar?“

„Sie sollten das nicht überstürzen, Frau Wintrich!“

„Müssen wir das jetzt klären? Ich hab keine Lust, mein Essen nachher wegzuwerfen und hungrig ins Bett zu gehen.“

„Ja, aber gerade dann sollten Sie doch eine so beträchtliche Summe nicht einfach -“

„Hören Sie eigentlich schlecht? Ich möchte jetzt essen und nicht über Geld reden!“

Sie knallte den Hörer auf die Gabel und kehrte zu ihren lauwarmen Nudeln mit Gemüse zurück. Beim nächsten Läuten blieb sie einfach sitzen, sie konnte Valli ja nachher zurückrufen. Zwanzigmal, der Typ war regelrecht unverschämt!

Als sie aufgegessen hatte, trug sie ihren Teller in die Küche und spülte ihn sorgfältig ab, dann schaltete sie im Wohnzimmer den DVD-Player aus, weil sie ohnehin schon den Löwenanteil der Folge verpasst hatte, und rief bei Valli an.

„Und? Hast du vorhin bei mir angerufen?“

„Nein, das war ich nicht. Die bei der Polizei haben die Vermisstenmeldung aufgenommen, aber sie haben ziemlich dämlich gegrinst, das hat man sogar durchs Telefon gemerkt. Kleines Frauchen beklagt sich, dass ihr der Ernährer durchgebrannt ist. Als ich gesagt habe, dass er auch nicht in der Arbeit war – unentschuldigt! – waren sie schon etwas aufmerksamer. Aber ich soll Geduld haben, haben sie gemeint. Geduld!“

„Die suchen doch jetzt nach ihm“, versuchte Luise sie zu beruhigen, „aber so schnell geht das alles nicht. Zumindest kriegen sie schneller raus als du, ob er in irgendeinem Krankenhaus liegt oder so.“

Valli seufzte. „Ja, mag sein. Was kann da bloß los sein? So was hat er wirklich noch nie gemacht. Gut, in letzter Zeit war er ziemlich komisch, aber so was?“

„Inwiefern komisch?“, fragte Luise. Vielleicht kam man so der Lösung ja näher!

„Ach, so zurückgezogen. Und dann hat er sich das Haus angeschaut und geseufzt. Und wenn ich gefragt habe, was los ist, ob wir ein Geldproblem haben, hat er nur gemeint, ich soll mich nicht aufregen, er kriegt das schon geregelt. Und seit Freitag war er dann ziemlich aufgekratzt.“

„Habt ihr denn Geldprobleme? Das Haus ist ja schon ziemlich riesig, nicht?“

„Wem sagst du das – was glaubst du denn, wer es putzen darf? Er wollte sein Traumhaus, wenn er schon nicht seinen Traumjob hat.“ Sie seufzte. „Manchmal denke ich, wir hätten damals nicht sofort heiraten sollen. Und vielleicht nicht sofort gleich drei Kinder kriegen sollen. Er war eindeutig zu jung.“

„Na, du schon auch! Ich hoffe, deine Kinder sind nicht in Hörweite?“

„Keine Sorge, Alex ist auf so einem Kommunikationstrainingskurs von der Schule, Vicky bei einer Freundin und Maggie im Reitclub, wie immer. Wenn sie schon kein Pony hat, will sie doch wenigstens anderer Leute Ponys die Hufe auskratzen. Dabei sollte sie dringend mal was für die Schule tun! Ich sag dir, dieses G 8!“

„Mir musst du nichts erzählen, ich bin auch davon betroffen. Wo hapert es denn bei ihr?“

„Zweite Fremdsprache. Sie hat jetzt schon einen Fünfer in Spanisch, dabei dachten wir schon, das ist leichter als Französisch. Und in Englisch eine vier minus. Haut einen nicht um, was? Mit der Sprachenfolge kann sie auch nicht auf die Realschule, sagt sie.“

„Quatsch, klar kann sie, sie will bloß deine Drohungen aushebeln. Erste Fremdsprache Englisch reicht doch; ich würde sie, wenn überhaupt, eh nicht auf einen sprachlichen Zweig schicken, wenn sie sich da so anstellt. Wie ist sie in Naturwissenschaften?“

„Sie hat ja bis jetzt bloß Mathe und dieses Natur und Technik, und da scheint es zu gehen.“

„Also technischer Zweig. Sag ihr, auf dem Gymnasium sein zu wollen, reicht nicht aus, wollen kann man viel. Entweder packt sie´s oder sie geht. Da muss man hart sein. Zwei solide Vierer oder es rappelt in der Kiste! Ich hab eine Siebte, und nach ein paar Generalanschissen sind die ganz eifrig geworden. Außerdem kann sie nach dem Realschulabschluss wieder zurück aufs Gymnasium. Wie schaut´s bei Vicky und Alex aus?“

„Da geht´s. Vicky ist ganz ehrgeizig, auch wenn hier der permanente Zickenalarm herrscht, und Alex hat Schiss, dass er ins G 8 zurückfällt, wenn er den Kopf nicht über Wasser halten kann. Also tut er so viel wie nötig. Aber wo zum Teufel steckt der Vater dazu? Geldsorgen hin oder her, er kann sich doch nicht einfach verkrümeln!“

„Meinst du, er wollte mal kurz ausbrechen? Er kann sich´s ja leisten, den Job hat er ziemlich sicher, nachdem er jetzt ewig lange so brav war. Wenn das so ist, kommt er doch bestimmt bald zurück, oder?“

„Ich weiß nicht, was soll ihn denn zurückziehen? Mit den Kindern hat er nicht so viel am Hut, er findet, die stellen zu viele Ansprüche. Na, und so toll ist es in letzter Zeit zwischen uns auch nicht mehr gelaufen. Aber eine andere – das glaube ich eigentlich nicht…“ Sie schniefte.

„Glaubst du nicht, dieser mysteriöse Termin war vielleicht bloß so was? Aber wenn er da so aufgeregt war, dann kann er die doch noch kaum kennen, oder? Wenn da wirklich eine andere Frau ist, heißt das.“

„Stimmt wohl“, antwortete Valli müde. „So lange dürfte diese Begeisterung nicht anhalten. Na, meinetwegen. Wenn die Polizei ihn allerdings nur aus einem fremden Bett holt, wird er mir das nie verzeihen. Aber das ist es bestimmt nicht.“

„Warten wir´s ab“, schlug Luise vor. „Mehr kannst du doch sowieso nicht machen.“

„Bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Na gut, ich ruf dich an, wenn ich was Neues höre.“

Als Valli aufgelegt hatte, saß Luise wieder da und starrte vor sich hin. Merkwürdig, monatelang passierte gar nichts, und jetzt verschwand Johannes und sie hatte diese grässliche Mischpoke am Bein.

Vielleicht hatte der lästige Brandstetter aber kapiert, dass sie kein Interesse an einer Erbschaft hatte, dann musste sie bloß noch Max als den letzten Geist aus der Vergangenheit bannen und alles war wieder wie immer. Wenn Johannes wieder auftauchte, hieß das natürlich.

Der Abend war noch jung – sollte sie sich den Film noch einmal in Ruhe anschauen? Wenigstens einen Teil? Zu mehr reichte ihre Konzentration wahrscheinlich ohnehin nicht. Sie überlegte noch, als das Telefon schon wieder klingelte. So gefragt war sie sonst nicht einmal in einem Monat!

Müde nahm sie ab und nuschelte ihren Namen hinein.

„Wie kommst du dazu, diesen Namen zu benutzen, der steht dir doch gar nicht zu!“, zeterte eine hasserfüllte Frauenstimme.

„Häh – wer ist denn da?“

„Das weißt du ganz genau, du habgierige Person!“

„Passen Sie auf, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber wenn Sie hier Telefonterror versuchen, zeige ich Sie an. Und jetzt verpissen Sie sich aus der Leitung, Sie blöde Kuh!“

„Was fällt dir ein, wie redest du denn mit mir, du – du -?“

„Wie ich mit allen rede, die mich am Telefon grundlos beschimpfen – ach nein! Angela? Und schwer betrunken, wie ich vermute?“

„Unverschämtheit!“

„Wenn schon.“ Luise wurde ärgerlich. „Pass mal auf, Süße, welchen Namen ich führe, geht dich einen Scheiß an, euer dämliches Geld könnt ihr euch in den Arsch schieben, und ansonsten schlage ich vor, wir belassen es bei der bisherigen Funkstille. Ich finde euch zum Kotzen, ihr findet mich zum Kotzen, also müssen wir ja nicht so etwas Ekelhaftes wie Familienleben vortäuschen, oder?“

„Unglaublich!“

„Wieso, das wolltest du doch hören? Ich will euer Scheißgeld nicht, und alles andere kann dir doch egal sein. Würdest du das den übrigen Pappschädeln auch ausrichten, damit mich nicht alle der Reihe nach am Telefon nerven?“

„Wen meinst du?“

„Diesen Max, diesen dämlichen Notar, diesen Philipp und wahrscheinlich auch deinen Frank.“

„Philipp hat bei dir angerufen??“

„Noch nicht. Kommt aber bestimmt noch. Wahrscheinlich, um mir vorzurechnen, dass der Pflichtteil diese eure Firma in den Ruin treibt. Die Firma gibt´s doch noch, oder?“

Die Frage stellte sie nur, um totales Desinteresse zu markieren, sie kannte die Antwort schließlich schon. „Selbstverständlich! Von so etwas kannst du ja nur träumen, du sitzt doch höchstens im Billigmarkt an der Kasse!“

„Wie du meinst“, entgegnete Luise. Zu Studienbeginn hatte sie tatsächlich mal ein paar Wochen kassiert.

„Aber bei uns kriegst du nichts, nicht mal als Putze.“

„Danke, kein Interesse. Also, halte mir diesen Philipp und deinen Süßen vom Hals, ja? Und jetzt auf Nimmerwiederhören!“ Sie legte unsanft auf.

Blöde Ziege! Was bildete sich diese Angela eigentlich ein? So etwas Unverschämtes, da fielen einem ja gar keine Beschimpfungen mehr ein, die grob genug waren. Und was sollte dieser Anruf eigentlich? Wenn sie jetzt aus purem Trotz den Pflichtteil einklagte, würde es Angela recht geschehen. Eigentlich wollte ich das Geld ja gar nicht, Herr Richter, aber als meine Schwägerin mich am Telefon angepöbelt hat, konnte ich nicht mehr anders… Und dann würde Frank seine dämliche Alte windelweich prügeln!

Jetzt dachte sie schon wie so eine Gestörte aus einer Nachmittagstalkshow – die Wintrichs waren zwar ein gefühlloser Haufen (sie selbst eingeschlossen), aber Prügel hatte es eigentlich nie gegeben.

Diese Angela musste sich wirklich für die Gräfin von Rotz halten, die versuchte, die Verwandtschaft aus der Gosse von ihrem Schloss zu verjagen – na, da hätte Luise ihr ja mal zeigen sollen, was wirkliche Gossensprache war! Eine Sprache die Luise durchaus geläufig war, die sie aber unprovoziert nicht verwendete. Nachher machten die Schüler das nach und sagten Aber die Frau Wintrich redet doch auch so! Und dann würde Dr. Eisler sich doch sehr über sie wundern. Beim nächsten Mal aber würde sie sich wohl nicht mehr zurückhalten können.

Hatte Frank ihr vorgeweint, dass der Laden ohne das Geld nicht zu halten war? Möglich wäre es ja, rund eine Million Euro Pflichtteil könnte eine Firma ganz schön schädigen – aber sie wollte das Geld doch gar nicht! Wenn sie alles zusammenrechnete, auch die abbezahlte Wohnung, hatte sie – naja, nicht wirklich eine Million, aber doch einen ganz hübschen Batzen. Zusammen mit der unkündbaren Beamtenposition war das weiß Gott ausreichend – sie gab ihr Gehalt doch ohnehin nicht aus, sondern schob das meiste ins Depot.

Wozu also noch mehr? Sollte sie sich ein größeres Auto kaufen, zentnerweise Klamotten, Schmuck, jede DVD-Neuerscheinung, Bücher, die sie nur ein einziges Mal las? Sie kam so sehr gut zurecht, und auf eine mit zusammengerafftem Schotter voll gestopfte Wohnung legte sie schon gar keinen Wert.

Sie könnte das Geld spenden – aber so etwas machte sie doch ohnehin schon. Sie könnte Arbeitsplätze schaffen – aber davon verstand sie rein gar nichts.

Und das schöne Gefühl, von den blöden Wintrichs nicht einen Cent angenommen zu haben, würde sie sich auch nicht abkaufen lassen, egal, was der arme Brandstetter sagte. Der meinte es ja bestimmt gut, aber sein blödes Gelaber, während ihr Essen kalt wurde, hatte sie wirklich auf die Palme gebracht.

Für den Film brachte sie jetzt auch keine Konzentration mehr auf, lieber dachte sie sich ein nettes kleines Unterrichtsprojekt aus. Genau, über Primzahlen, für die fünfte. Einen richtigen kleinen Lernzirkel, gleich mit Primfaktorzerlegung und kgV und ggT! Sie bastelte eine gute Stunde stillvergnügt vor sich hin, druckte sogar schon die ersten Tafeln aus und laminierte sie (das Laminiergerät aus dem Billigmarkt war mindestens so gut wie das Ding in der Schule, wo man die Taschen für teures Geld einzeln bei der Sekretärin kaufen musste) und breitete sie dann tief befriedigt auf ihrem Schreibtisch aus. Schön… das würde den Zwerglein Spaß machen! Und lernen würden sie dabei auch etwas, und zwar reichlich.

Jetzt brauchte sie nur noch die Arbeitsaufträge und die restlichen Tafeln.

Das Telefon klingelte wieder.

Verdammt noch mal!

Lautlos Verwünschungen murmelnd griff Luise nach dem Hörer und sah zugleich auf die Uhr. Halb neun, da konnte man eigentlich noch nicht schimpfen. Leider.

Vielleicht war ja Valli wieder dran. Lieber Himmel, hoffentlich war Johannes nichts zugestoßen!

Sie nahm ab und hörte eine unbekannte Männerstimme. „Ist dort Luise Wintrich?“ Sie bejahrte das etwas unwirsch.

„Hier ist Philipp Hölzl. Du erinnerst dich an mich?“

„Ich bin nicht bescheuert. Wir haben uns gestern beim Notar gesehen. Was gibt´s denn?“

Leises Lachen am anderen Ende. „Warum so kratzbürstig? Ich dachte nur, wir könnten uns ein bisschen besser kennen lernen…“

„Wozu?“, fragte Luise misstrauisch.

„Wie – wozu? Gehören wir nicht irgendwo zur gleichen Familie? Alleine schon wegen HSW?“

„HSW geht mich nichts an. Und ich möchte jetzt nicht plötzlich eine Familie haben. Ich hatte fünfzehn Jahre lang keine und das war das reinste Paradies.“

Leicht übertrieben, aber das musste dieser Schmalzbubi ja nicht wissen.

„Deshalb könnten wir doch mal etwas trinken gehen?“

Luise verdrehte die Augen. „Was versprichst du dir davon? Ich bin gar nicht an näheren Kontakten interessiert.“

„Trotzdem…“

„Und wenn du mir ausreden willst, den Pflichtteil zu beanspruchen, kannst du dir die Spucke sparen, ich will die Kröten sowieso nicht. Hat sich die Sache damit erledigt?“

„Aber nein“, kam die die geschmeidige Antwort, „es geht mir doch nicht ums Geld!“ Ach nee…!

„Wie wäre es denn jetzt gleich? Jetzt ist es kurz vor neun, die ideale Zeit, um noch auf einen Sprung auszugehen. Vielleicht in der Bar des Russischen Hofs?“

„Ich finde es ja ein bisschen spät, aber wenn´s sein muss. Auf ein einziges Glas, verstanden? Und dann ist bitte endlich Ruhe im Karton.“

„Du bist wirklich eine ungewöhnliche Frau. Aber, na gut. In einer Viertelstunde?“

Luise stimmte seufzend zu und sah dann betrübt an sich herab. Schon wieder umziehen – nicht dass sie es Philipp nicht gegönnt hätte, sich ordentlich für sie zu genieren, aber in Uraltjeans kam man im Russischen Hof zwar auf sein Zimmer, aber keinesfalls ins Restaurant oder in die Bar.

Sie zog einen dunkelgrauen Hosenanzug an, bürstete sich die halblangen schwarzen Locken streng zurück und fasste sie im Nacken mit einer Spange zusammen, parfümierte sich so maskulin wie möglich, warf Geld, Handy und Schlüssel in die flache schwarze Ledertasche und trottete missgelaunt zum Auto. So was Überflüssiges!

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